Foto: Rainer Lather

Rainer Lather hatte mich gebeten zu seiner Ausstellung "Konterfei" in der Galerie in den Gerichten eine Einführung zu machen.

Und da ich die Arbeiten von ihm und ihn selbst sehr schätze bin, hab ich das gerne gemacht.

Unten findet sich nun das Manuskript dazu und auch ein paar Zeichnungen, die ich dazu gemacht habe. Die Zeichnungen habe ich Rainer zur Eröffnung geschenkt.

www.rainer-lather.de

galerie-im-vgh.de

Die Öff­nungszeiten der Ausstellung sind von Montag bis Donnerstag in der Zeit von 9.00 Uhr bis 15.00 Uhr und Freitag von 9.00 Uhr bis 13.00 Uhr.

Rainer Lather malt, seit er 16 Jahre alt ist. Das sind 44 Jahre. In diesen gut vier Jahrzehnten hat er nicht nur ein umfangreiches malerisches Œuvre geschaffen, sondern viele seiner Gedanken auch in einem Buch dargelegt. Als ich zur Vorbereitung für diese kleine Einführung dieses Buch in die Hand genommen habe, war ich für einen Moment - wie man so schön sagt - wie vom Donner geschlagen! Plötzlich stand eine Frage vor mir: Wie soll ich zu all dem, zu den Gedanken und hauptsächlich natürlich zu den Bildern etwas Angemessenes sagen? Das geht gar nicht!

Das meine ich durchaus im Ernst: Es geht eigentlich nicht.

Dabei klingt es, wenn man Texte über Kunst liest (oder hört) oft so, als sei es problemlos möglich. In der Regel enthalten solche Texte an irgendeiner Stelle folgende Formel: "x beschäftigt sich mit y". Die beiden folgenden Beispiele hat mir Google nach ein zwei Klicks geliefert und sie scheinen mir einigermaßen typisch zu sein. Jeder von Ihnen kennt so etwas: "Der Künstler beschäftigt sich in seinem interdisziplinären Arbeiten mit dem Interpretationsspielraum von Bildern ..." "Die Künstlerin beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie lassen sich kulturhistorisch gewachsene Sehgewohnheiten hinterfragen..."

Ich fühle mich bei solchen Formulierungen oft wie in einen wissenschaftlichen, vielleicht soziologischen Forschungszusammenhang versetzt. Diese Formulierungen drücken in meinen Augen vor allem eines aus: eine große Distanz. Der Künstler oder die Künstlerin haben ihr Thema, welches sie nach allen Regeln der Kunst bearbeiten, um es am Ende ihrem Publikum zu präsentieren, welche die Fragestellung letztlich mit derselben Distanz begutachten oder soll man sagen "rezipieren" kann.


Was uns berührt

Mit dieser Formel gerät nach meinem Verständnis etwas Wichtiges aus dem Blick. Es gibt nämlich Fragen, gleichsam am Grunde unserer Existenz, die wir nicht dauerhaft auf Abstand halten können. Solche Fragen klopfen auch nicht vorsichtig an die Tür und warten darauf, dass jemand aufmacht, wenn es gerade passt. Sondern sie kommen wie Diebe in der Nacht, wie es in einer bekannten Bibelstelle heißt. Plötzlich stehen sie da und fordern uns heraus.

Man könnte vielleicht, etwas weniger dramatisch sagen, sie berühren uns.

Nicht anders geht es Rainer Lather mit dem, was ihn zum Arbeiten treibt: Es steht plötzlich vor ihm und fordert ihn heraus. Man möchte fast sagen, nicht er hat das Thema, sondern das Thema hat ihn. Er sagt: "Die Freiheit, die ich dann noch habe, ist, diese Aufgabe anzunehmen oder eben abzulehnen. Das Ablehnen wäre für mich allerdings das Gleiche, wie die Ablehnung eines Glücks, einer glücklichen Fügung…"

Aber worum geht es da? Was sind das für Aufgaben und Angebote, die man kaum ablehnen kann? Auch das kann ich natürlich nicht in irgend einer Form abschließend sagen. Ich möchte jedoch zwei Aspekte herausgreifen, die offenbar von großer Bedeutung für die Kunst Rainers ist.

Ich möchte über zwei Themen etwas sagen: über Kopf und Hand. Genauer: über das Gesicht und das Handwerk.


Rainer Lather, „Shane“; Öl auf Leinwand; 160cm x 120cm; 2018
Versuch zu Rainer Lather (Zeichnung: Jörn Budesheim)
Versuch zu Rainer Lather (Zeichnung: Jörn Budesheim)
Versuch zu Rainer Lather (Zeichnung: Jörn Budesheim)

Was ist ein Gesicht?

Eine Kreuzworträtsel-Frage: „Vorderer Teil des Kopfes“ mit sieben Buchstaben. Die Antwort: Gesicht. Jedoch wird meine einfache These sein: Das Gesicht ist NICHT der vordere Teil des Kopfes.

Man hört dem Wort Gesicht noch an, dass es seinen sprachlichen Ursprung im "Sehen" hat (Ge-Sicht). Die heutige Bedeutung entwickelte sich aus „Anblick, Antlitz“. Dabei ist das Gesicht, sowohl das, was einen anblicken kann, als auch das, was man selbst anblickt. Das Gesicht existiert also im Raum der Blicke. Dazu gehört jedoch eine grundlegende Asymmetrie: Das eigene Gesicht kennen wir wesentlich von Innen, aus der Innenperspektive. Das Gesicht des Gegenübers aus der Außenperspektive. (Innen und außen sind nur Hilfsbegriffe, sie sind natürlich viel zu grob, aber ich hab keine besseren.)

Gesichter sind daher in gewisser Hinsicht stets etwas Unvollständiges. Denn Gesichter sind wesentliches etwas Perspektivisches. Sie wären "vollständig", könnte man die beiden Perspektiven (also von innen und von außen) "verschmelzen". Aber weder geht das, noch wären unsere Gesichter dann noch das, was sie sind. Weil das perspektivische, unvollständige sie ja ausmacht.



Der Ort der Gefühle

Gesichter sind natürlich auch der Ort der Gefühle. Nirgends zeigen sich unsere Gefühle stärker als in unseren Gesichtern. Aber auch Gefühle sind nicht einfach irgendwo innen.

Manche Untersuchungen deuten sogar darauf hin, dass Gefühle wesentlich von der Möglichkeit abhängen, sich im Gesicht "ausdrücken" zu können. Wer die Gefühle nicht im eigenen Gesicht dem anderen zeigen kann. Und wer umgekehrt die Gefühle des anderen an dessen Gesicht nicht erleben kann, der kommt womöglich gar nicht erst in den Raum der Gefühle hinein. Dass wir Emotionen haben und zeigen können, hängt also auch (aber natürlich nicht nur) damit zusammen, dass wir die Gesichter der anderen "lesen" können. Diese Überlegung zeigt auch, warum die Begriffe "Innen- und Außenperspektive" so problematisch sind.



Rainer Lather, „Ausweitung”; Öl auf Furnierplatte; 200cm x 160cm: 2017

Jedes Gesicht erzählt eine Geschichte

Jedes Gesicht, das Rainer Lather hier in der Ausstellung zeigt, erzählt eine Geschichte. Jedes dieser Gesichter zeigt, dass diese Person ein eigenes Leben führt. Aber "Person sein", "Gefühle haben", "nachdenklich sein" und anderes mehr - das sind jedoch keine "Dinge". Sie sind nicht wie Steine, die man problemlos in Augenschein nehmen kann. Das alles zeigt sich zwar im Gesicht, aber es ist nicht einfach die Optik des Gesichts. Der Philosoph Emmanuel Levinas spricht daher nicht vom Gesicht, sondern vom Antlitz:

"Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn, ein Kinn sehen und sie beschreiben können, dann wenden Sie sich dem Anderen wie einem Objekt zu. Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen. Die Beziehung zum Antlitz kann gewiss durch die Wahrnehmung beherrscht werden, aber das, was das Spezifische des Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt."

Das Gesicht ist also auch für Levinas nicht einfach der vordere Teil des Kopfes. Zum Gesicht kommt man nur, wenn man in eine Beziehung zu seinem Gegenüber tritt.

In einem berühmten Zitat bringt Levinas das alles auf den Punkt: "Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten gehalten zu werden."


Begegnung

Der Begriff Begegnung ist an dieser Stelle wichtig! Viele der Figuren, die Rainer Lather malt, blicken uns nicht an. Ich hatte auch selten das Gefühl, dass eine von ihnen das Wort an mich richtet. Nichtsdestotrotz hatte ich immer das Gefühl, dass es hier um ganze und wirkliche Begegnungen geht. Der Dialog, die Spiegelung, der Rhythmus des Zeigens und Verbergens ist in irgendeiner Form "ganzheitlich" und ist nicht an den Kontakt mit den Augen (oder Worten) gebunden.

Eine der Stärken der Porträts von Rainer Lather liegt meines Erachtens darin: Die Porträts zeigen uns immer eine ganz bestimmte Person. Sie zeigen die Geschichte, die dieses bestimmte Gesicht sowohl zeigt, als auch verbirgt. Sie machen damit diese eine Person präsent. Und indem die Bilder sich dieser ganz besonderen Person in einem ganz besonderen Moment ihres Lebens zuwenden, machen sie sichtbar, was es überhaupt heißt, eine Person zu sein.

Ich finde, dass Rainer Lather es schafft, all das auf die Leinwand zu bringen. Ich kann ihnen aber jetzt leider nicht die Rezeptur dafür angeben, wie das möglich ist. Und ich vermute auch, dass Rainer nicht irgendwo eine Kladde hat, wo er notiert, wie es geht.

Damit bin ich bei meinem zweiten Stichwort angelangt.



Rainer Lather, „Reset I ; Öl auf Furnierplatte; 160cm x 200cm / 160cm x 160cm; 2011

Was ist Handwerk?

So wie das Gesicht nicht einfach der vordere Teil des Kopfes ist, ist natürlich auch das Bild nicht einfach der vordere Teil der Leinwand. Das Bild ist ein Bild erst in der Begegnung mit dem Betrachter. Könnte man den Blick, der uns das Antlitz offenbart den ethischen Blick nennen, so kann man den Blick, der uns das Bild öffnet, den ästhetischen Blick nennen. Bei beiden geht es (auch) darum, das andere, vielleicht sogar das Fremde, als es selbst gelten zu lassen!

Aber den Bildern, bevor man sie in den Blick nehmen kann, muss noch eine "Kleinigkeit" vorhergehen. Rainer Lather muss sie schließlich erst mal malen. :-)

Und so wie Gesichter die Geschichte ihres Lebens sowohl zeigen, als auch verbergen, so zeigen und verbergen die Bilder Rainer Lathers den Prozess ihres Werdens - ihre gemalt-Werdens. Und ich vermute, das ist einer der Gründe, warum sie den Themen, die den Künstler so berühren, auch gerecht werden.

Um das zu erreichen, muss Rainer Lather sich auf das, was er tut, auch verstehen. Er muss sein Handwerk können. Wenn der Philosoph Richard Sennett von Handwerk oder handwerklichem Können spricht, so meint er das Bestreben, eine Tätigkeit um ihrer selbst willen gutzumachen. Das scheint mir auch das Ethos Rainer Lathers zu sein.

Damit bin ich im Grunde fast am Ende.


"Was aber die Schönheit sei, dass weiß ich nicht."

Ich möchte mit etwas schließen, was mir selbst besonders am Herzen liegt: die Schönheit! Schönheit ist natürlich nicht einfach das Hübsche oder das Gefällige. Das wäre weit gefehlt.

"Was aber die Schönheit sei, dass weiß ich nicht." soll Dürer gesagt haben. Das geht mir im Grunde nicht anders. Doch der Philosoph Martin Seel hat eine Definition gewagt, die mir gefällt. Er bestimmt Schönheit in nur zwei Worten als "erscheinendes Gelingen". Hier haben wir also mit dem Gelingen im Begriff der Schönheit eine Klammer zum Handwerk!

Nach meinem Gefühl ist die Klammer für alles, worum es hier geht, unsere Fähigkeit, etwas um seiner selbst willen wertzuschätzen. Beim Blick in das Antlitz erkennen wir an, dass der andere ein Wert in sich selbst ist. Der Künstler ist in seinem Handwerk bestrebt, sein Werk um seiner selbst willen gutzumachen. Und in der ästhetischen Betrachtung der Kunst begegnen wir Dingen im Erscheinen um dieses Erscheinens Willen.


Kunst-Hebammen

Es braucht also immer auch einen Betrachter, der sich auf die Sache wirklich einlässt. Das nenne ich: Hinsehen statt absehen. Um im Sehen wirklich zum Hinsehen zu kommen, muss man sich das Vertraute fremd machen. Das heißt es, die Augen zu öffnen. Das Betrachten der Kunst ist seinerseits eine Kunst. Wer sich auf diese Kunst versteht, ist eine Kunst-Hebamme. Sie bringt etwas zur Welt. Sie bringt das, was schon da ist, zum Vorscheinen, um seiner selbst willen.


Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!


Foto: Rainer Lather