• 2018| Vortragsreihe “Die Dimension des Ästhetischen II” (25. April - 17. Oktober)

  • Vortragende: Dr. Mathias Behrens, Michael Evers, Jörn Budesheim, Dagmar Dotting, Dr. Albert Vinzens, Andrea Nehring

"Geist weht..."

In dieser Reihe Die Dimension des Ästhetischen II steht die ästhetische Welterfahrung im Zentrum. Anschließend an Wassily Kandinskys berühmter Schrift Das Geistige in der Kunst soll aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht werden, welche Bedeutungen heute mit der Idee des Geistigen verbunden werden können.

Ein Kunstwerk hat schon immer Anteil am Geist, da es dem Bewusstsein entspringt – doch das Bewusstsein des Menschen ist ein großes Rätsel. „Ästhetik“ kommt von dem griechischen Wort „aisthesis“ und bedeutet: sinnliche Wahrnehmung. Unser Zugang zur Kunst ist zum Teil sinnlich, zum Teil gedanklich. In der Erfahrung des Ästhetischen liegt die Spannung zwischen Gefühl und Theorie.

Geist ist mehr als Rationalität und künstliche Intelligenz und weist auch auf die menschlichen Vermögen der Kreativität und der Intuition. Die Weltanschauungen stagnieren nicht, und so ist diese Reihe der Versuch, den Begriff des Geistigen in der Kunst neu zu sehen und mit einem zeitgemäßen Inhalt zu füllen.



Denken als Sinn (nach Markus Gabriel)

In diesem kurzen Vortrag versuche ich die Idee Markus Gabriels, dass Denken ein Sinn ist zu skizzieren.

Unsere Sinne sind uns das nächste - könnte man meinen. Doch bei der Frage, wie viele Sinne wir haben, scheiden sich bereits die Geister: Manche Physiker zählen nur bis 3: chemische, mechanische und Licht-Reize. Aristoteles zählt bis 5: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Manche Neurowissenschaftler zählen bis 6: Sehen, Hören, Gleichgewicht, Fühlen, Schmecken und Riechen. Vertraut man Google findet man in der Regel 10 Sinne. Andere Quellen sprechen von 30 Sinnen!

Ich liste mal die gängigsten Vorschläge auf:

  • Sehen

  • Hören

  • Riechen

  • Schmecken

  • Fühlen

  • Gleichgewichtssinn

  • Wahrnehmung der Temperatur

  • Schmerzsinn (Nozizeption)

  • Körpersinn (Propriozeption: die Wahrnehmung von Körperbewegung und -lage im Raum)

  • viszerale Sinn - Wahrnehmung der inneren Organe - macht sich zum Beispiel bei Hunger und Durst bemerkbar

  • Sexual Sinn (laut dem Philosophen Reinhard Brandt)

  • Immunsystem (worüber laut Gabriel Bonner Wissenschaftler gerade arbeiten)

  • ...

  • Denken


Denken ist ein Sinn?!

Oops Denken? … hier dürften die Meisten ein wenig überrascht sein. Gabriel rechnet das Denken den Sinnen zu. Auf den nächsten Seiten will ich knapp skizzieren, was das bedeuten soll und was Gabriel unter einem Sinn überhaupt versteht.

Keine zwei Stämme, sondern ...

Gabriel reiht das Denken - wie wir gesehen haben - in die (unvollständige oder offene) Liste der Sinne ein. Die klassische Arbeitsteilung, bei der das Denken auf der einen Seite und die Sinnlichkeit auf der anderen Seite (manchmal sogar) entgegengesetzt werden, soll damit aufgehoben werden! Nach Gabriels Auffassung haben wir es also nicht mit zwei kategorial verschiedenen Vermögen oder zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis zu tun. Sein Vorschlag lautet also auf den Punkt gebracht:

… alles Denken ist ästhetisch.

Der Begriff ästhetisch ist hergeleitet von Aisthesis und meint soviel wie: sinnliche Wahrnehmung, sinnliche Erkenntnis. Gabriels Annahme lautet damit, um es zu wiederholen: Denken ist ästhetisch. Denken ist sinnlich! Im nächsten Schritt soll Gabriels Auffassung von Sinn wiedergegeben und erläutert werden.


“Definition” von Sinn bzw. Gabriels Auffassung, was Sinn heißt:

Ein Sinn / eine Sinnesmodalität ist "eine fehleranfällige Kontaktaufnahme mit Gegenständen, die diese über Bewusstseinslücken hinweg wiedererkennen kann." (Markus Gabriel) Die Definition ist jetzt nicht gerade rhetorisch elegant, was kann damit gemeint sein? Ich gehe die vier entscheidenden Begriffe im Einzelnen durch und versuche zu erläutern, wie ich sie verstehe:


Ein Sinn ist eine fehleranfällige (1) Kontaktaufnahme (2) mit Gegenständen (3) die diese über Bewusstseinslücken (4) hinweg wiedererkennen kann.


(1) Fehleranfälligigkeit (und Objektivität)

“Fehleranfällig” soll hier nicht heißen, dass wir - wie es der Skeptiker vielleicht glaubt - einen Schleier zwischen uns und den Dingen haben und wir nur ein fehlerhaftes Zerrbild der Welt sehen. Fehleranfälligkeit soll vielmehr darauf hinweisen, dass wir sowohl richtig als auch falsch liegen können. Wir liegen also weder in allem von vornherein richtig, noch von vornherein falsch.

Objektivität als Charakteristisches Merkmal eines Sinnes

“Der Umstand, dass ich mich täuschen kann, geht mit dem Umstand einher, dass ich mich auch nicht täuschen kann. Das ist der philosophische Begriff der Objektivität.” (Markus Gabriel) Objektivität ist eine Medaille mit zwei Seiten. Die Vorderseite ist der Erfolgsfall - das Wissen. Die Rückseite ist der Irrtum.


(2) Kontaktaufnahme

Kontakt soll heißen, dass wir nicht von der Welt getrennt sind: "Das bedeutet, wir müssen uns nicht mittels der Wahrnehmung einer fremden Außenwelt annähern, sondern sind dank ihr bereits mit dem Wirklichen in Kontakt." (MG) "Wir berühren das Wirkliche ständig, wir sind mit ihm in Kon-Takt (von lateinisch con = mit und tangere = berühren)" (MG)

“Die Wiedergewinnung des Realismus (Dreyfus und Taylor)”

Den Begriff Kontakt, bzw. Kontaktaufnahme hat Gabriel - wie er selbst erläutert - sich bei den Autorenteam Dreyfus und Taylor geliehen. In deren gemeinsamen Buch "die Wiedergewinnung des Realismus" schreiben sie an gegen ein Bild, das uns gefangen hält, wie sie in Anschluss an eine Formulierung von Ludwig Wittgenstein sagen:

Nämlich die Vorstellung, dass wir nie in direkten Kontakt mit der Außenwelt treten, sondern stets vermittelt durch Vorstellungen in unserem Geist. Demgegenüber vertreten sie eine Sicht, die den Menschen als immer schon in direktem Kontakt mit der Welt begreift: einen robusten pluralen Realismus, wie sie sich selbst ausdrücken.


(3) Gegenstand

Das ist meines Erachtens der schwierigste und wichtigste Begriff in der Definition. Wichtig ist bei dem Begriff “Gegenstand” zunächst zu verstehen, dass damit nicht (nur) der Alltagsbegriff von Gegenstand gemeint ist; also die “gewöhnlichen” Dinge wie zum Beispiel Steine, Autos, Zigarettenschachteln …

Das heißt mit dem Begriff “Gegenstand” sind also nicht allein solche raumzeitlichen Dinge gemeint, sondern alles, worüber man wahrheitsfähige Ansichten haben kann. Man könnte sagen: Die Gegenstände von Ansichten bestimmen, wovon die Aussagen handeln. Beispiele für Gegenstände in diesem in der Philosophie durchaus gängigen Verständnis: die Bundesrepublik Deutschland, eine Aussage, die Vergangenheit, die Gegenwart, meine linke Hand etc. p.p.


Beispiel Zahlen

Das klingt kompliziert und ist es vielleicht auch. Ein eingängiges Beispiel dafür sind Zahlen: Zahlen sind keine Dinge, sie liegen nicht im Weg herum und man findet sich auch nicht Links vom Jupiter. Zahlen sind jedoch Gegenstände (und nach Gabriel gibt es daher auch einen "mathematischen Sinn") denn man kann über sie wahrheitsfähige Ansichten haben. Wer glaubt, dass die 5 größer ist als die 7, der liegt falsch.


Peter Scholz über Zahlen als Gegenstände

Der deutsche Mathematiker Peter Scholze, der in diesem Jahr mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde, sagt in einem Interview etwas ganz ähnliches. (Scholz arbeitet wie Gabriel übrigens auch in Bonn - aber das nur nebenbei.)

Ich [Peter Scholze] denke tatsächlich, dass die Zahlen unabhängig von uns sind. In welchem Sinne sie „existieren“ ist vielleicht schwer zu sagen, sicherlich nicht als konkrete Objekte [also Dinge] unserer Welt. Ich fühle mich aber wie ein Physiker, der die zugrundeliegenden Gesetze der Zahlen erforscht. So wie der Physiker die Welt ergründet, versuche ich einfach, die ganzen Zahlen zu erforschen. [...] Die Zahlen sind Teil von unserer Welt.

Damit sagt der Mathematiker Peter Scholze übrigens mehr oder weniger direkt, dass die Wirklichkeit nicht bloß aus Dingen besteht, sondern auch andere Gegenstände enthält - zumindest enthält sie nach seinem Dafürhalten auch Zahlen.


Wirklichkeit

An dieser Stelle muss man einen weiteren wichtigen Begriff der Theoriesprache Gabriels einführen: die Wirklichkeit. Der Begriff kommt in der Definition der Sinnesmodalitäten zwar nicht vor - aber ohne ihn wird sie nach meiner Einschätzung nicht verständlich. Wirklichkeit definiert Gabriel wie folgt:

Wirklichkeit: Der Umstand, dass es Gegenstände und Tatsachen gibt, über die wir uns täuschen können, weil sie nicht darin aufgehen, dass wir bestimmte Meinungen über sie haben. Wirkliches korrigiert unsere Meinungen über die Wirklichkeit. (Markus Gabriel)

Die Wirklichkeit ist sozusagen die Korrektur-Instanz unserer Vermutungen und Ansichten, dessen, was wir für wahr halten. Erinnern wir uns an den Mathematiker Scholze:

“Ich denke tatsächlich, dass die Zahlen unabhängig von uns sind.”

Scholz erzählt in dem Interview (aus dem das Zitat weiter oben stammt) von einem Beweis - für den er Jahre gebraucht hat … der sich schließlich als verfehlt herausgestellt hat. Damit haben wir den Begriff der Wirklichkeit, wie Gabriel ihn versteht: Die “mathematische Wirklichkeit” war eben anders als Peter Scholze sie in diesem Beweis dachte. Diese Wirklichkeit untersucht Scholz und sie ist ebenso real wie die physikalische Wirklichkeit.


Der neue Wirklichkeitsbegriff der neuen Realisten

Damit vertritt Gabriel (als neuer Realist) natürlich einen ganz anderen als den handelsüblichen Wirklichkeitsbegriff. Dem alten Begriff gemäß gibt es eine vom Denken unabhängige Wirklichkeit, in der Regel die materiell energetische “Außenwelt”, welche der “Goldstandard” der Realität ist. Wirklich zu sein bedeutet in dieser Sicht, Teil der vom Bewusstsein unabhängigen materiellen Wirklichkeit zu sein. Wirklichkeit wird demnach erst dann richtig erfasst, wenn wir von unserem Denken abstrahieren und versuchen die eigentliche Wirklichkeit zu erkennen.

Gabriel fragt hier ganz zurecht: Warum aber sollte beispielsweise das Denken selbst weniger wirklich sein als dieser Goldstandard. Daher legt diese Realismus ein Konzept von Wirklichkeit vor, welches - in Gabriels Worten dem Umstand Rechnung trägt, dass bewusstes, geistiges Leben in keinem Sinne weniger wirklich ist, als Atome oder Sterne.


Untersuchen wir an dieser Stelle - mit den neu gewonnen Begriffen und (hoffentlich) Einsichten - einen möglichen Einwand gegen die Idee, dass Denken ein Sinn ist. In einem Interview mit Gabriel wendet die Moderatorin Stephanie Rohde sinngemäß folgendes ein:

Die anderen Sinne, die wir haben - das Sehen zum Beispiel - funktioniert über eindeutige Reize, die von außen kommen. Farben und Gerüche zum Beispiel. Worauf bezieht sich das Denken? Denn Gedanken fliegen ja nicht da draußen rum und werden dann von mir erfasst. (Stephanie Rohde)

Gabriel antwortet an dieser Stelle überraschenderweise: "Doch, es ist tatsächlich so, dass Gedanken in gewisser Weise “herumfliegen” und von mir erfasst werden." Das klingt natürlich reichlich seltsam, nimmt man es zu wörtlich. Aber man kann es sich meines Erachtens gut verständlich machen, wenn man noch mal den Mathematiker Scholze denkt, der deutlich macht: “Ich denke tatsächlich, dass die Zahlen unabhängig von uns sind.” In diesem Sinne kann man sich Gabriels Satz “dass Gedanken in gewisser weise “herumfliegen” vielleicht verständlich machen. Ein Gedanke ist nach Gabriels Verständnis “etwas, das entweder wahr oder falsch sein kann.” Solche Gedanken werden von uns tatsächlich erfasst. Dass 7 + 5 = 12 ist ein (mathematischer) Gedanke. Dieser ist in der Formulierung von Scholze “unabhängig von uns” da. Er “fliegt herum” - wenn auch natürlich nicht in der Luft, also im Bereich der Raumzeit, sondern im Bereich der Mathematik, die eine Wirklichkeit eigenen Rechts darstellt, den Menschen wie Scholz erforschen:

Ich fühle mich aber wie ein Physiker, der die zugrunde liegenden Gesetze der Zahlen erforscht. So wie der Physiker die Welt ergründet, versuche ich einfach, die ganzen Zahlen zu erforschen. [...] Die Zahlen sind Teil von unserer Welt. (Peter Scholze)

Stephanie Rohde sinngemäß weiter: "Aber das heißt, dass diese Gedanken konkret in der Welt sind und von uns nur gefühlt oder erfasst werden, so wie andere Gegenstände?" (Stephanie Rohde) Markus Gabriel: "Ganz genau so ist es. Gedanken gehören genauso zum Mobiliar der gegenständlichen Wirklichkeit, wie Fermionen, Bosonen, der Mond und Angela Merkel." (Markus Gabriel)


Was ist Denken?

“Als vorläufige Annäherung an das Denken können wir sagen, dass es eine Reise durch Sinnfelder ist, die das Ziel hat, uns durch die Erfassung von Tatsachen eine Orientierung im Unendlichen zu ermöglichen. … “ (Markus Gabriel)

Der Gegenstand eines Gedankens ist dasjenige, wovon der Gedanke handelt. Der Inhalt eines Gedankens ist dagegen die Art und Weise, wie der Gedanke von seinem Gegenstand handelt ... (Markus Gabriel)


(4) Bewusstseinslücken

Das klingt nach Alkoholkonsum, Vergesslichkeit und Ohnmacht :) aber gemeint ist einfach, dass man die Gegenstände mittels der Sinne über zeitliche Abstände hinweg wiedererkennen kann.

Hier zur Erinnerung nochmal die Erläuterung Gabriels:

Ein Sinn/eine Sinnesmodalität ist "eine fehleranfällige Kontaktaufnahme mit Gegenständen, die diese über Bewusstseinslücken hinweg wiedererkennen kann." (Markus Gabriel)