Zwei Atelierbesuche

Man muss die persönlichen Absichten des Künstlers nicht kennen, das Werk sagt alles. (Susan Sontag)

Hat Susan Sontag recht? Ich glaube: ja. Trotzdem: diese Ansicht untergräbt etwas Bedeutsames. Zur Vorbereitung auf diesen kurzen Text habe ich Aliaa Abou Khaddour und Christiane Hamacher in ihren Ateliers besucht, um ihre Arbeiten zu sehen und mit ihnen darüber zu sprechen. In dieser Situation, wo man die Künstlerinnen und ihr Werk zusammen erlebt, wird einem viel klarer als in jeder Ausstellungssituation, wie bedeutsam die jeweilige Arbeit für die Künstlerin ist. Die weißen Wände des Galerieraums sind eigentlich in diesem Sinne eine Abstraktion: Man sieht ab von dieser besonderen (schwierig zu fassenden) Beziehung, die jemand zu seiner Arbeit hat.

In unserem Alltag sind wir hingegen unentwegt umgeben von Artefakten, die von anonymen Kräften produziert wurden - in der Regel nach einem klaren Plan zu einem bestimmten Zweck gebaut: die Tastatur, das Telefon, der Tisch, die Tasche und die Tasse. Nur noch relativ selten kommt es vor, dass wir Werken begegnen dürfen, die von ganz konkreten - nicht austauschbaren - Personen geschaffen wurden, als schöpferischer Ausdruck ihrer persönlichen Freiheit. Ein Ateliertreffen ist so eine Ausnahme-Situation, in der man nicht nur etwas über die jeweiligen Arbeiten lernt, sondern auch über die Bedeutung der Kunst und unserer Kreativität für unser Leben.


Aliaa Abou Khaddour und Christiane Hamacher im Kunstbalkon


Krähen als Zeugen (zu den Arbeiten von Aliaa Abou Khaddour)

Aliaa Abou Khaddour hat eine sehr bewegte Lebensgeschichte. Ich möchte sie in diesem Text nicht im Detail ausmalen, denn auf der Internetseite Kunst und Kaviar findet man ein schönes Interview mit ihr mit vielen weiteren Details.

Aliaa Abou Khaddour


Diese Zeichnung oben (links) war mir besonders aufgefallen. Warum? Vielleicht, weil ich selbst Krähen so liebe.

Drei Worte zur Form: Der Aufbau der Zeichnung ist nahezu klassisch, eine Dreiecks-Komposition, wie ich finde. Die Basis des Dreiecks ist ungefähr am Boden des Koffers und die Spitze (nicht ganz zentral) am Kopf. Das führt dazu, dass das Bild - trotz aller Bewegung und Symbolik - in sich selbst ruht. Und auch die räumliche Gliederung folgt klassischen Ordnungen: Vorder-, Mittel- und Hintergrund sind deutlich unterschieden. Die beiden Krähen sind ein wichtiger Teil dieser Komposition. Sie ziehen uns in das Bild hinein und leiten dabei unsere Blicke: was gibt es da zu sehen? Was ist da los? Wir teilen ihre Neugierde.

Die Hauptdarstellerin (ist sie es?) hingegen hat den Blick in sich gekehrt … und ich frage mich unwillkürlich: Sehe ich in dem Bild, was sie in diesem Moment in sich findet? Vielleicht. In dem Text, den Christiane und Aliaa zur Ausstellung geschrieben haben, heißt es schließlich: "Wenn Verborgenes an die Oberfläche drängt, wird das Äußere zum Abbild innerer Wirklichkeit." Aber was finde ich in dieser Innenwelt? Die Dinge der Außenwelt kehren als Symbole wieder. Ich kann manches davon lesen und deuten: Der Koffer steht traditionell für die Reise, die das Haustier* Mensch sein Leben nennt - und es fragt sich: Was heißt heute "Heimat"?

Aber ist das nicht schon zu viel gedeutet? Vieles bleibt schließlich offen: Was macht die junge Frau im Hintergrund? In welcher Stimmung ist sie? Das überlässt Aliaa dem Betrachter und der Betrachterin. Und die Krähen? Was hat es mit ihnen auf sich: Kommen sie direkt aus einem Märchen … oder von der Straße? Mit welcher Symbolkraft sind sie ausgestattet? Darauf gibt das Bild keine eindeutige Antwort: Das Werk sagt doch nicht alles, es bleibt für uns offen.

Vögel tauchen in den Bildern von Aliaa oft auf. Als Zeugen, wie sie im Gespräch gesagt hat. Hat die Natur ein Auge auf uns? Oder sind wir ihr egal? Doch das ist vielleicht schon zu "dramatisch" interpretiert. Schließlich kommt die Zeichnung ganz fein und mit viel Liebe daher - und das ist letztlich das Wichtigste. Aliaa erzählt, dass sie oft lange an der Vorbereitung für die Zeichnungen arbeitet: "Ich sammele meine Lieblingsbilder, meine eigenen und frei verfügbaren. Diese Bilder zerschneide ich und setze sie zu Collagen zusammen, manchmal nutze ich sogar bis zu zehn Bilder." Doch die Umsetzung erfolgt dann oft in ein oder zwei Tagen. Sehr präzise, aber doch offen, sodass die Freiheit des Betrachters dadurch nicht beschnitten wird.


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*Ein Ausdruck von Peter Sloterdijk


Maskenpflicht (zu den Arbeiten von Christiane Hamacher)

… Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wie viel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, dass ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. …


(Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge)

Christiane Hamacher


Masken - in welcher Form auch immer - haben für alle Kulturen seit jeher eine große Bedeutung. In unseren Breitengraden hängt der Begriff eng mit dem Begriff "Person" zusammen. "Person" hat seine Ursprünge im griechischen Theater und bedeutet dort soviel wie Maske und Rolle. Masken setzt man - in diesem Verständnis - auf um in eine bestimmte Rolle zu schlüpfen. Indem man das eine verhüllt, zeigt man das andere. Dass man das "wahre Gesicht" allein hinter der Maske findet, ist damit nicht gesagt. Denn auch eine (soziale) Rolle kann etwas sein, was eine Person "wirklich" ausmacht. Diese Offenheit geht im 16. Jahrhundert unter dem Einfluss des Christentums verloren: "Das gottgegebene Gesicht zu verdecken, kommt einer Sünde gleich." Seit dieser Zeit gelten Masken in unserem Kulturkreis oftmals als Synonyme für Falschheit, Betrug und Lüge.

Es ist in unseren Landstrichen also eine ziemlich tiefe (christliche) Prägung, bei Maske als Erstes nach dem "dahinter" zu fragen und an eine Täuschung zu denken. In einem gewissen Sinn "leidet" darunter unsere Beziehung zu allen Dingen unserer Umgebung. Denn letztlich hat jedes Ding eine Oberfläche, ein Gesicht, das es uns zeigt.

So möchte ich auch die Masken deuten, die Christiane Hamacher in Handarbeit näht. Sie zeigen etwas: nämlich sich selbst, ihr eigenes Gesicht. Sie verhüllen kein wahres "Dahinter". Hinter der Maske ist einfach die Galeriewand. Alles spielt sich zwischen zwei Gesichtern ab. Zwischen uns, den Betrachtern und der Maske. Was für mich dabei besonders hervortritt, ist das "Gemachtsein" der Masken, das nicht verborgen ist. Bedeutsam sind dabei daher die verschiedenen Stoffe: Meistens Nessel oder Leinen, was in der Malerei oft der Bildgrund ist, der später nicht mehr sichtbar ist, hier wird der Stoff selbst sichtbarer Teil des Bildgegenstands. Manche Masken sind aus Seide, sodass sie wie Dessous wirken. Wir sehen offen die fragile Architektur der Arbeit, die immer im Kampf mit der Schwerkraft ist. Besonders wichtig sind dabei natürlich die Nähte. Sie halten einerseits die "Flicken" zusammen und sind anderseits Zeichnung, Falte und Kontur. Manchmal stellen sie etwas dar, manchmal entstehen sie auch einfach im freien Spiel, wie es scheint.

Dieses Zusammenspiel hält die Bedeutung offen, sodass der Betrachter und die Betrachterin ebenso frei bleiben wie die Künstlerin. Die Arbeiten zeigen uns ihr Gesicht und wir sind frei, sie als Spiegel zu nehmen.