• 2009 | San Keller, Digestiv (Walk)

  • SK San Keller, JB Jörn Budesheim, KU Kirsten Uchmann

  • Fridericianum, Kassel

  • Kunstaktion von San Keller: “San Keller bietet den Besuchern beim Verlassen der Kunsthalle Fridericianum einen Verdauungsspaziergang auf dem Friedrichsplatz an, um sich mit ihnen kritisch über die aktuellen Ausstellungen zu unterhalten.” (Friedericianum) Zufällig gehörten Kirsten Uchman und ich zu den Besuchern an diesem Tag und so kamen wir zu einem “Verdauungsspaziergang” mit San Keller von der Kunsthalle bis zur Orangerie und natürlich wieder zurück. Halb im Spaß, halb im Ernst kann man sagen, haben wir dabei erfahren, wie es ist ein Kunstwerk zu sein.

SK Kommen Sie öfters her?

JB Ja, kann man so sagen. Wir wohnen in Kassel und schauen uns schon eigentlich jede Ausstellung an. Und das sind jetzt wieder mal Ausstellungen, wo man weiß, dass man wenigstens vier bis fünf Mal rein muss, um es verdauen zu können

SK Vier, fünf Mal, echt?

JB Ja Ja, bestimmt. Also, oben die Ausstellung von Carlos Amorales, da muß man sich erst einmal informieren. Ich weiß zum Beispiel gar nicht wie die Arbeit von Hans Haacke aussieht, das müsste ich mal angucken, ich werde wahrscheinlich mal im Internet gucken, und unten werde ich vielleicht einmal mit einer Führung mitgehen. Das sind eigentlich vom ersten Eindruck her sehr schöne Ausstellungen Die unten hat es uns ein bisschen mehr angetan.

KU Auf jeden Fall. Einfach die Materialien, die sind einfacher und ansprechrender und man denkt vielleicht eher zu wissen, was er sich dabei gedacht hat. Gerade diese „Eisgeschichte" hat mir sehr gut gefallen, die „Venus", den ganz genauen Titel habe ich jetzt nicht mehr im Kopf.

SK Venus?

JB Irgendwas heißt es da mit „aus dem Wasser geboren", und die Skulptur mit dem Flutschfinger, da steht auf dem Schild irgendetwas mit Venus, und Venus ist ja aus dem Wasser geboren, das fand ich schon mal ganz witzig, wie er das Flutschfingereis und die Venus zusammenbringt. Da gibt es doch dieses berühmte Gemälde, mir fällt der Name nicht mehr ein, wo die Venus auf dieser Muschel ist, da kommt sie gerade aus dem Wasser und das ist ja auch sozusagen die Assoziation, die man da haben soll. Das fand ich ganz witzig. Was man als Besucher bei den nächsten Besuchen leisten muss, ist, die Gefühle, die man hat, zu einem Ganzen zu organisieren. Man hat ja gesehen, dass er so mit basic Materialien arbeitet—Wasser, Licht, Stein, Holz, alles, was so als basal gilt, Wärme, Kälte, und die Frage ist jetzt, ob das einzelne verschiedene Skulpturen sind oder ob man di zu einem Ganzen synthetisieren kann.

SK So wie eine Art Grundmoment.

JB Ja, so was vielleicht. Man könnte auch sagen, dass diese Sache, wo dieser verbrannte Container steht, dass das ja eigentlich eine für sich abgeschlossene Skulptur darstellt und die daneben mit dem Flutschfinger, das ist auch eine Skulptur und die Wand ist eine Skulptur. Es könnte aber auch sein, dass alle zusammenarbeiten, aber das habe ich noch nicht gesehen, aber da, vermute ich mal, ergibt sich noch etwas.

SK Ja, das finde ich interessant, sich das zu fragen. Durch die Ausstellung kommt das alles in Beziehung zueinander und könnte dann auch wieder mit anderen Werken in Beziehung gesetzt werden. Ich finde das als Ausgangslage eigentlich ganz spannend, wenn man die Werke miteinander vergleicht oder zueinander in Beziehung setzt, um sie auch verstehen zu können. Aber ich glaube nicht, dass es eine Gesamtinstallation ist.

JB Gewissermaßen gehört sie zusammen, weil sie von einer einzigen Person stammt.

SK Das finde ich interessant, diesen Anspruch, das wirklich verstehen oder auflösen zu wollen. Ich taste mich ja auch heran. Aber wird es Ihnen nach fünf Ausstellungsbesuchen dann klar sein? Ist das gut, wenn es sich dann geklärt hat?

JB Das ist eine gute Frage. Meine Erfahrung ist die, dass wenn die Arbeiten gut sind, dann kann man so viel herausfinden wie man will und es wird immer besser. Wenn sie jedoch nicht so gut sind, dann sind sie wie ein Bilderrätsel, man hat vier fünf Teile gefunden, die passen zusammen, und das war’s dann auch. Aber wenn sie sehr gut sind, dann sind sie sozusagen unendlich und sie halten einer genaueren Prüfung stand. Also, diese Ausstellung hat es uns sofort angetan.

SK Ja, es hat eine sehr reizvolle Oberfläche, nicht. Was finden Sie, was macht diesen Reiz aus? Sind es die Materialien an sich oder ist es deren Kombination?

KU Die Einfachheit auch, dieser Tapeziertisch mit diesen kleinen Dingen, ich weiß gar nicht, ob der Künstler die während des Aufbaus gefunden oder gebraucht hat. Ich könnte mir das gut vorstellen. Auch diese Polaroids, die ganz am Anfang sind, die haben wir uns erst richtig angeguckt, als wir zur Ausstellung hinausgingen und fanden, dass das wahrscheinlich eine ganz zeitaufwändige Arbeit war und dann wird das in diesen kleinen Polaroids ganz einfach dargestellt. Ich habe auch, vielleicht weil ich die falsche Brille aufhatte, gar nicht richtig sehen können, was da eigentlich passiert ist. Aber diese Art der Darstellung, die mag ich eigentlich sehr gerne.

JB Das Unverhältnis zwischen dem Aufwand und dem, was man dann auf den paar Bildchen sieht, das hat mir gut gefallen. Alle Gesten waren sehr großzügig, so eine schöne grüne Wand zum Beispiel, wobei da natürlich auch [vielleicht] viele kritische Elemente mitschwingen. Viele Künstler arbeiten ja jetzt über das Verschwenden von Wasser und dass es knapp wird überall auf der Welt. Aber das sind Aspekte, über die ich noch nachdenken müsste.

SK Beim Wasser, da frage ich mich, ist es nicht viel mehr ein Spiel mit der Aufwertung des Wassers durch die künstlerische Berührung? Dies drängt sich mir stärker auf als die Frage nach dem Ökologischen. Das Wasser ist nur Leitungswasser und doch muss man teuer dafür bezahlen. Wenn man im Restaurant für Leitungswasser bezahlen muss, beschwert man sich. Andererseits ist es vielleicht schon fast wieder zu billig für den Aufwand, der dafür betrieben wurde. Ein Hahn wurde speziell installiert und jetzt wird es auch noch mühselig abgefüllt von den Angestellten des Fridericianums, die wiederum vom Künstler zu seinen Arbeitskräften gemacht werden.

JB Und Wasser ist doch auch das, woraus man zu achtzig bis neunzig Prozent besteht, das ist ja auch woran man denkt, wenn dieser Flutschfinger zerfließt und da hat man irgendwie auch das Gefühl, man guckt sich so einen Fernsehfilm über die Entstehung des Lebens an.

SK Ich habe da schon eher an Süßigkeiten und ans Klebrige gedacht, da ist ja wahnsinnig viel Zucker drin.

JB Der Zucker, das ist ein guter Aspekt, da habe ich ehrlich gesagt gar nicht dran gedacht.

SK Und es ist auch ein industriell gefertigtes Produkt. Das Produkt hätte an sich dann auch noch eine Symbolik. Gut, es ist ein Wassereis, man könnte auch ein Sahneeis nehmen. Das würde aber weniger schön fließen.

JB Was war denn das auf dem Diaprojektor, dieser Alubeutel oder so etwas, das haben wir nicht erkennen können.

SK Ich weiß auch nicht genau, ich glaub das ist einfach so eine Beigabe, die sich mit dreht.

JB Und der war sicherlich ausgebrannt, das riecht man ja noch, deshalb denkt man ja auch an Feuer, Hitze, Kälte, was früher als Grundelemente galten. Wir hatten auch schöne Assoziationen zu anderen Ausstellungen. Wir waren mal in Frankfurt in einer Ausstellung, da hat ein Künstler auch mit Bäumen gearbeitet. Die Wurzeln waren abgesägt und die Bäume mit Klebeband umwickelt. Die Fenster waren zudem mit Folie zugemacht, so dass der ganze Raum in ein grünes Licht getaucht war und dazu gab es so eine monochrome Musik. Zufälligerweise flogen an dem Tag, an dem wir in der Ausstellung waren, draußen eine Krähenhorde an den Fenstern des Museums vorbei. Also der Künstler wäre so glücklich gewesen, wenn er in dem Moment anwesend gewesen wäre. Das war echt unglaublich. Daran muss ich natürlich bei dem Baum denken, aber das hat natürlich nichts mit der Arbeit zu tun.

SK Je länger, desto besser gefällt mir diese Arbeit, weil sie etwas Emotionales hat. Ich merke, die Leute sind davon berührt, andererseits denke ich mir auch immer wieder, sie ist verspielter und intellektueller als man denkt. Gibt es da aber auch Fallen? Ich möchte nicht behaupten, dass er ein Fallensteller ist, der einem böse will, aber…

JB Wieso Falle, das verstehe ich jetzt nicht so richtig.

SK Vielleicht ist es auch meine Vorstellung, dass, wenn etwas so emotional ist, dass da noch irgendwo etwas Subversives kommen muss, das alles dekonstruiert.

JB Also, wo es sich umdreht, wo man nicht mehr bedient wird, sondern wo man vielleicht erschrickt?

SK Ja, genau, aber das löst es dann für mich auch nicht auf. Aber das Ökologische, das Gesellschaftliche, das passt für mich irgendwo nicht dazu. Es könnte auch sein, dass es sich im Bereich l’art pour l’art bewegt und Kunst und Kunstströmungen reflektiert.

Ja Ja gut, dazu habe ich jetzt noch keine Meinung, ich bin ja erst sehr kurz drin gewesen. Wahrscheinlich gibt es auch mehrere Zugänge zu der Arbeit. Dass es auch etwas Sinnliches hat, das begrüßt man natürlich, manchmal wird man ja doch sehr kurz gehalten was das anbelangt und dann freut man sich, wenn da auch mal Sachen sind, wo man da abgeholt wird, wo man auch ist, das ist schon mal nicht schlecht. Das ist erst einmal nicht per se etwas Negatives, nicht für mich.

SK Bei der oberen Ausstellung, da gibt es vielleicht schon Punkte, wo man mehr wissen müsste. Obwohl es doch auch recht klar ist. Das Material, das da ausgelegt ist, ist offensichtlich ein Label, CDs, die dazugehören. Man kann es einerseits auf der grafisch-gestalterischen Ebene betrachten oder dann auch eher auf einer systemkritischen Ebene. Was auch versucht wurde, indem man ein Label kreiert, und das dann in den Kunstbetrieb einschleust und abwartet, was da passiert.

JB Das scheint ja das Ende eines Prozesses zu sein. Aber es ist ein Prozess, der ganz und gar ohne mich abgelaufen ist. Das ist irgendwie so wie eine Party, die zu Ende ist und ich war nicht auf der Party und jetzt müsste ich erst einmal herausfinden, was sozusagen auf der Party passiert ist. Das war mein erster Eindruck, als ich da rein kam, mit diesem langen Text da. Ich hatte so fast ein wenig das Gefühl, oh, das wird viel Arbeit.

SK Aber eigentlich müsste man doch davon ausgehen können, dass das, was In der Ausstellung zu sehen ist reichen sollte, um das auch begreifen zu können.

JB Das habe ich früher auch gedacht, glaube ich aber mittlerweile nicht mehr, Also meistens ist es nicht so.

SK Aber jetzt in diesem Fall würde ich nicht zu weit suchen. Die Party, die ist vorbei, an dieser Party kann man so oder so nicht mehr teilnehmen. Und das ist auch Teil dieser Ausstellung, dass man nicht mehr teilnehmen kann und da glaube ich muss man nicht versuchen, die noch zu reaktivieren.

JB Wir haben uns diese Zettel mitgenommen und ich werd jetzt mal im Internet gucken, was man darüber findet. Es sah so aus, als ob man so Einiges darüber finden würde. Ich konnte mir auch die Musik nicht anhören, weil die Kopfhörer alle belegt waren. Ich fand dann auch, na ja, ich hab ja noch genug Zeit. Es hat mich auch nicht so angetörnt. So von der Optik her empfand ich das als eine Überfülle von vielen Sachen. Vielleicht werde ich mir diese Hans Haacke Sache noch näher ansehen.

SK Ja, ich find das auch die stärkere Arbeit. Diese Verknüpfung mit Kunstgeschichte, aber auch der deutschen Geschichte. Und dieser Schriftzug—was der dann wieder für Assoziationen weckt, das weiß ich zum Beispiel auch nicht. Ich weiß auch nicht was Haacke für eine Typografie verwendete, um diesen Schriftzug zu gestalten.

JB Ich habe vage in Erinnerung, dass ich davon Fotos gesehen habe, aber das ist ja auch schon länger her.

SK Ja, das interessiert mich auch. Wohingegen der andere Raum eine zu banale Illustration von einem Konzert zu sein schein. Ich hab dort irgendwie den Dreh noch nicht raus. Es scheint mir komisch, diesen Konzertraum in dieser abstrakten Form so nachzubilden. Ich bin mir nicht sicher—soll man das jetzt auf der Ebene der Symbole lesen soll oder ist es so eine Spielanleitung?

JB Ich fand das vom Gefühl her beim Durchgehen, mit dieser Leere und den Geräuschen, schon ganz wirkungsvoll.