Doris Salcedo

Nur langsam finde ich Zugang zu dieser Arbeit – wie ein Affe, der ein Uhrwerk untersucht …

Was sehe ich?

Holzstühle. Besser: Metallene Abgüsse von Holzstühlen. Gut zwei Dutzend im ersten und ein weiteres gutes Dutzend in den beiden folgenden Räumen. Langsam erkenne ich, dass ich Abgüsse eines einzigen Stuhls sehe. Variationen und Mutationen? Ästhetische Fragestellungen? Spiel mit der Form? Nein.

Also, was sehe ich?

Ich sehe zwei Arten von Stühlen: Helle und dunkle, aus Edelstahl und Blei. (Vorsicht Vergiftungsgefahr) Allen fehlt die Lehne, was die Vorstellung, auf ihnen zu sitzen unangenehm macht. Die Hellen sind zerrissen, verbogen und deformiert.

Die Dunklen sind, trotz ihrer surreal verlängerten Extremitäten, kompakt. Die Hellen stehen einzeln oder in kleinen Gruppen, etwas links der Raumachse. Die Dunklen haben sich rechts orientiert, einen Raum ausgespart und den nächsten verbarrikadiert.

Die "hinteren Beine" der Hellen verlängern sich himmelwärts und werden blank und klingenscharf. Die Beine der Dunklen sind in die Tiefe gewachsen, weshalb sie nicht stehen, sondern kopfüber im Raum liegen. Sie sind stumpf und glanzlos.

Die Hellen sind "aussen". Die Dunklen sind "innen":

Zwei aufeinander folgende Räume im Museumsraum sind von den Dunklen besetzt. Davor stehen die Hellen – also draußen. Aber: In zwei Gruppen haben vier Helle sich über vier Dunkle gestülpt, wobei sie sich in strenger Symmetrie, rechtwinklig zum Raum gegenseitig den Rücken stärken.

Die Hellen haben dabei zwar jeden Bodenkontakt verloren, sind aber diesmal weder deformiert noch zerrissen, sondern streng formiert und verdoppelt.

Verbogen und gebeugt sind nun die Dunklen. Ihre Beine, die bisher quer zum Raum standen und den Boden kaum berührten, sind auf Normalmaß gestutzt und stehen jetzt fest auf dem Boden. Sie tragen die Hellen.

Eine Allegorie? Symbolismus?

Links/Rechts, Unten/Oben: Eine politische oder soziale Allegorie? Ich weiß nicht recht. Stühle als Symbole? Was tun Stühle? Nehmen Sie bitte Platz. Danke, ich stehe lieber. Stühle ordnen Räume. Schulräume sind anders bestuhlt als Konferenzräume. Eine Restaurant anders als ein Gerichtssaal … Stühle weisen Plätze zu. Schaffen Verhältnisse. Gesellschaftliche Verhältnisse.

Die Gesellschaft, die Salcedo uns zeigt, ist zerrissen. Es gibt Abhängigkeiten, Spiegel- besser Zerr-bilder: Eine alte, nicht mehr tragfähige Ordnung scheint durch – ich sehe noch, wie der Herr mit dem Knecht verbunden ist … Stühle rücken, hacken, schlagen … die neue Ordnung ist lange nicht gefunden. Wer findet hier wo seinen Platz. Nein, danke. Ich stehe lieber auf.

An den Wänden lese ich: "Wir können Sie verschwinden lassen." Leon Golub (siehe Bild rechts) schreibt das. Daneben zeigt mir Zarina Bhimji einen verwaisten Militärflughafen, einen Raum weiter sehe ich Gespenster, eine Etage höher die Tische von Victor Grippo – sie erzählen Geschichten von Menschen, die ich nicht sehen, aber imaginieren kann.

What u see is what u see? What u see is what u dont see!

Doris Salcedo folgt einer alten Kunsttradition und stellt das Undarstellbare dar. Die Menschen, um die es geht, sind nicht im Bilde. Sie haben ihren Platz verloren.

Aber um wen geht es? Die Angaben sind rar. Die Titel der Arbeit gibt mir zwei Daten: 06. und 07. November 1985 und das Wort Finsternis. Eine lange Zeit. November und Finsternis. Das scheint deutlich. Und undeutlich zugleich, denn die beiden Daten legen nahe, dass es sich um ein konkretes Ereignis handelt. Ein Ereignis, dass so traumatisch sein muss, dass Doris Salcedo es weder konkret zeigen noch konkret benennen will. Dieses Ereigniss mag der Ausgangspunkt der Arbeit sein, doch was sie zeigen will, scheint darüber hinaus Bedeutung zu haben… "Zeit der Anomie".

Doris Salcedo kommt aus Kolumbien. Sie lebt in Bogotá. Sechster November hat dort vielleicht den gleichen Klang wie elfter September hier …

Auch das weiß ich nicht. Ich brauche Nachhilfe:

In den 1970er Jahren wurde die Guerillagruppe M-19 ins Leben gerufen, die die Zukunft der Stadt und des Landes mitprägte. Die Regierung entschied sich, die Casa de Nariño zu bauen, den Sitz des Präsidenten, der ein für die Zeit übliches Beispiel von Luxus inmitten des verarmten Stadtzentrums darstellt. Am 30. April 1984 wurde der Justizminister Rodrigo Lara Bonilla durch die Drogenmafia im Norden der Stadt ermordet. Diese Tat führte zur Konfrontation des Staates mit den Kartellen des Drogenhandels im ganzen Land.

Der 6. November 1985 wurde zum tragischsten Tag in der Geschichte der Stadt seit dem Bogotazo. Die Guerillagruppe M-19 nahm den Justizpalast in Bogotá ein. Die darauf folgenden Auseinandersetzungen und die Wiedereinnahme durch die Staatsmacht kostete mehreren hundert Menschen das Leben.

(Wikipedia)

Doris Salcedo:

"Meine Skulpturen sind ein Geschenk an diejenigen, die ihre Präsenz in meiner Arbeit spürbar machen… Ich traf Menschen, die die Größe hatten, ihren Schmerz mit mir zu teilen. Schmerz wird ständig erneuert. Ich denke, das erlaubt es, eine andere Art der Beziehung zur Realität zu schaffen. Der Unterschied zwischen ihnen und mir verschwindet, indem ihr Schmerz auch mich ergreift, mein Zentrum übernimmt. Indem ich mich bemühe eine Arbeit zu machen, die sich in der Mitte der Gesellschaft bewegt, erfüllt ihr Schmerz auch den Kern dieser Gesellschaft. Die Opfer werden dann zu den Hauptprotagonisten."

(Foto: Wikipedia)

Haben Dinge ein Gedächtnis? Sind die Dinge, mit denen wir leben, ein Teil von uns? Was erzählt der Stuhl auf dem ich sitze von mir, wenn ich verschwinde …