Comments


Moralische Empörung ist der schlechteste Ratgeber

Jürgen Habermas hat vor einigen Tagen einen langen Essay in der Süddeutschen Zeitung* veröffentlicht, der einiges an Aufsehen erregt hat und Gegenstand öffentlicher Diskussion in den Feuilletons, aber auch in weiteren Intellektuellenkreisen geworden ist. Jene, die mit dem Gebrauch von Texten von Philosophen nicht geübt sind, verlieren sich in dem Essay oder missverstehen ihn. So fragte mich ein mir bekannter Ökonom: „Lange Rede kurzer Sinn?“ Ich antwortete: „Moralische Empörung ist der schlechteste Ratgeber“. Zudem verwies ich ihn auf jene Stelle, die mir das zentrale Argument von Habermas zu sein scheint:

“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder missversteht das Dilemma, in das der Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluss, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.“

Man beachte die Verknüpfung des ersten mit dem letzten Satz: Wer sich entschließt, nicht Kriegspartei zu werden, bindet sich die Hände. Im Umkehrschluss, wer sich nicht die Hände binden will, muss Kriegspartei werden. Die Alternative lautet: Wer sich die Hände in dieser Weise gebunden hat, muss bei jedem Schritt genau die dessen Konsequenzen überlegen, vor allem, ob er durch unüberlegtes Handeln gegen seinen Willen zur Kriegspartei wird.

Was mein Gesprächspartner mich daraufhin fragte, war: „Also bedeutet dies, die Unterstützung für die Ukraine zu begrenzen?“. Diese Antwort zeigte das ungewollte oder gewollte Missverständnis der Ausführungen von Habermas. Denn dieser hatte weder für noch gegen eine Unterstützung der Ukraine argumentiert, sondern nur dafür, bei jeder Unterstützungsaktion die erwähnte Risikoschwelle in Betracht zu ziehen. Um diese zu identifizieren, bracht man Informationen und Abwägungen. Und da kann es schon geschehen, dass neue Informationen zu einer neuen Bewertung führen und damit auch zu dem, was dem Kanzler angekreidet wird: plötzliche Wendungen. Ich persönlich kann daran nichts aussetzen. (3/05/2022). Eine notwendige Ergänzung, bereits am 3. 5. beabsichtigt, aber zunächst nicht ausformuliert: Die Überlegungen von Habermas können und dürfen auch nicht in eine Richtung interpretiert werden, wie es die 28 Unterzeichner eines offenen Briefes an Olaf Scholz tun. In diesem Brief werden die Ukrainer quasi zur Kapitulation aufgefordert, weil, so die Belehrung, die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt" nicht "allein den ursprünglichen Aggressor angehe", sondern "auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern". Es liegt nicht nur auf der Hand, dass der Westen, schon gar nicht Deutschland, Waffen an die Ukraine zur Selbstverteidigung liefern dürfe, sonder auch, dass der eigentliche, implizite, Agressor der Westen ist, der Putin zu seinen Tagen zwingt. Das ist keinesfalls etwas, was im Denken von Habermas auch nur im Ansatz zu finden wäre (siehe oben die Frage meines Gesprächspartners). (4/05/2022).


*https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/das-dilemma-des-westens-juergen-habermas-zum-krieg-in-der-ukraine-e068321/


Rezension zu: Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Suhrkamp 2021, 538 Seiten


Viele Autoren suchen gegenwärtig nach Wegen zur Überwindung des neoliberalen Kapitalismus und seiner Hyper-Globalisierung. Den vielleicht im deutsch-sprachigen Raum weitestgehenden Versuch hat Wolfgang Streeck 2021 mit einem Plädoyer für einen Rückbau der EU in souveräne Nationalstaaten vorgelegt, das Aufsehen erregt und Widerspruch ausgelöst hat.

Über den Autor

Wolfgang Streeck, geb. 1946, ist ein einflussreicher Gesellschaftswissenschaftler Deutschlands. Er studierte in Frankfurt a. M. Soziologie bei Adorno. Der undogmatischen Linken zuzurechnen, war er Mitbegründer des Sozialistischen Büros Offenbach am Main. Nach Forschungs- und Universitätspositionen in Berlin und der University of Wisconsin-Madison, USA, wurde er 1995 zum Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln berufen, wo er 2014 auch emeritiert wurden Deutschland wurde er zuerst bekannt, als er für das Bündnis für Arbeit der Regierung Schröder (eines vormals ebenfalls undogmatischen Linken) das Konzept eines Niedriglohnsektors entwarf, wie er sich dann auch im Vollzug der Agenda 2010 herausbildete. Sein 2013 erschienenes Buch Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus wurde in 17 Sprachen übersetzt.

Hauptthese und Aufbau des Buches

In seinem neuen Buch diagnostiziert Streeck, dass die neoliberale Hyperglobalisierung angesichts der vielen Krisen „steckengeblieben“ sei. Ein „Durchbruch nach oben“, d.h. zu einer weiteren Entgrenzung der Nationalstaaten und zu noch mehr technokratischer Herrschaft sei nicht möglich. Stattdessen plädiert er für eine Rückkehr zum souveränen Nationalstaat und den Umbau der EU in eine Föderation von freundlichen, friedlichen, kleinen und mittelgroßen „Keynes-Polanyi-Staaten“; nur dann sei wieder ein demokratisch-regulierter Kapitalismus möglich. Diese Hauptthese, präsentiert im Vorwort und in der Einleitung, wird in fünf Kapiteln entwickelt, wobei das zweite Kapitel die sozialphilosophische Begründung für „kleiner ist besser“ liefern soll - den sog. konstitutiven Partikularismus menschlicher Vergesellschaftung. Kapitel vier liefert eine scharfe Ablehnung aller Zentralisierungsbestrebungen in der EU, und Kapitel fünf skizziert den „Keynes-Polanyi- Staat“ als Grundlage eines einigen, nicht vereinten, Europas mit starken Anlehnungen an das Bretton-Woods-System.

Kapitel I: Kapitalistische Wirtschaft, demokratische Politik: Die doppelte Krise des Neoliberalismus

Streeck konstatiert eine doppelte Krise des Neoliberalismus, worunter er die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlicher Stagnation und politischer Blockade im Sinne der Ausweglosigkeit einer Lösung hin zu mehr Zentralisierung (global, EU) versteht. Er konstatiert eine riesige private und öffentliche Verschuldung, ohne dass dadurch die „säkulare Stagnation“ in den wichtigsten Staaten des neoliberalen Kapitalismus hat überwunden werden können, weder vor noch nach Ausbruch der diversen Krisen seit 2008. Was die zweite Krise – die politische Blockade – betrifft, so konstatiert Streeck eine gewisse Ratlosigkeit unter den „Weisen und Mächtigen“ (ab S. 98). Auf der einen Seite sei den Mitgliedsstaaten der EU endgültig ihre Kontrolle über Güter-, Dienstleistungs-, Arbeits- und Kapitalmärkte und mit der Europäischen Zentralbank (EZB) auch der Entzug der Kontrolle über ihre Fiskalpolitik entzogen worden. Auf der anderen Seite stoße eine weitere Übertragung von nationalstaatlichen Hoheitsrechten auf die zentrale Ebene („Durchbruch nach oben“) auf wachsenden politischen Widerstand und sei auch vom wirtschaftlichen Erfolg nicht gerechtfertigt. Es kommt daher zu einem Patt zwischen Globalisierern und Verteidigern nationaler Souveränität. Im „westlichen Herrschaftsbereich“ sei nach dem Zweiten Weltkrieg eine vorher für unmöglich gehaltene Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie verwirklicht worden, zusammengehalten durch die Wirtschaftstheorie von Keynes, die die Demokratie zu einer kapitalistischen Produktivkraft umdefiniert habe (S. 113). Dieser Konsens sei durch den Sieg der neoliberalen Globalisierung aufgekündigt worden, womit auch Demokratie als Produktivkraft ausgefallen sei.

Kapitel II: Staaten und Staatensysteme: Integration und Differenzierung

Unter verschiedenen Subkapiteln enthält Kapitel II auf nur sieben Seiten (180-187) das bereits in der Einleitung erwähnte Konzept des „konstitutiven Partikularismus der menschlichen Vergesellschaftung. Es handelt sich um eine anthropologisch-sozialphilosophische Theorie der Institutionen- und Nationenbildung „von unten“, die im scharfen Kontrast zum Universalismus der neoliberalen Regeln und Normen „von oben“ steht, der auch andere philosophische Wurzeln (Kant) hat. Die anthropologische Wurzel des konstitutiven Partikularismus ist die Identifikation des Menschen als „Mängelwesen“, d.h. im Unterschied zum Tier fehle es ihm an natürlicher Spezifizität, er sei notgedrungen „weltoffen“ und müsse sich seine Ordnungen und Orientierungen kollektiv selbst schaffen. An dieser Stelle bezieht sich Streeck auf Aristoteles, der vom Menschen als „gesellschaftlichem Tier“ sprach, und auf Marx, der im Anschluss notierte, der Mensch könne sich nur in Gesellschaft „vereinzeln“, d.h. zum Individuum werden. Nach Streeck habe die Natur die Vielfalt der individuellen Ausprägungen an die Gesellschaft übertragen (S. 181). Vergesellschaftung vollziehe sich für den Einzelnen in historischen Räumen und Zeiten, in partikulären kulturellen Traditionen und institutionellen Ordnungen. Diese schafften und bewahrten Identität und könnten sich zu Gesamtgesellschaften und Nationalstaaten verdichten. Sie könnten sich zwar verändern aber, wenn sie schon da seien, nicht ohne Weiteres abgeschafft werden, schon gar nicht durch von „außen kommende Identitätstechnologen“ (S. 183). Deswegen könne es, im Gegensatz zum weltoffenen Individuum, keine weltoffene Gesellschaft geben.

Kapitel III: Durchbruch nach oben? Großstaaterei und ihre Grenzen

Bereits in Kapitel II hatte Streeck ausgeführt, dass Staaten niemals für sich alleinstünden; sie sind immer Bestandteil eines Staatensystems. Daran knüpft er nun an, indem er argumentiert, dass die immerwährende Entgrenzung von Wirtschaft und die Unterwerfung der Gesellschaft unter universalistische Regeln der Kapitalverwertung (wir erinnern uns an Merkels „marktkonforme Demokratie“) die Utopie eines globalen Monostaats bzw. eines Kein-Staats oder Nicht-Staats im Sinne Hayeks beinhalte. Eine Weltregierung, die demokratisch legitimierte Entscheidungen zu fällen imstande wäre, könne es dann nicht geben. „Einheit von oben“ müsse notgedrungen über die Herrschaft von Technokratie durchgesetzt werden (global governance), wie sie sich bis jetzt in Gestalt von IWF, Weltbank und World Trade Organisation manifestiere. Diesen Gedanken führt Streeck am Beispiel der Zentralbanken weiter aus (S. 291ff), und hier vor allem der Europäischen Zentralbank (EZB). Die neuere Debatte über die Übertragung weiterer Aufgaben von den Regierungen an die EZB, so die Sicherung von Finanzmarktstabilität oder eine allgemeine „Notfallkompetenz“, ohne dafür eine demokratische Legitimation zu besitzen, wird von ihm abgelehnt, wahrscheinlich weil es sich um Vorschläge im neoliberalen Geiste handelt.

Kapitel IV: Europa: Gescheiterter Superstaat, scheiterndes Imperium

Streeck identifiziert zwei Strategien eines „Durchbruchs nach oben“: Superstaat und Imperium. Die EU sei im ersten Fall am Widerstand der Nationalstaaten bzw. der nationalstaatlichen Identitäten und Interessen gescheitert, weil kein politischer _Führer in einem dieser Länder den Nationalstaat und dessen Souveränität zugunsten eines Zentralstaates aufgeben wollte und eher Souveränität zurückgewinnen wolle. Daraus hätte sich das merkwürdige Bemühen ergeben, ein gemeinsames neoliberales Programm – der Euro als Supergoldstandard, Fiskalregeln – für alle Länder verbindlich zu machen, sozusagen ein Nebeneinander von nationaler Souveränität und neoliberaler Entgrenzung, was ursächlich für die Krisenanfälligkeit der EU sei. Die zweite Strategie sei das neoliberale Imperium mit Frankreich-Deutschland als doppelter Hegemon mit den diversen „Vasallenstaaten“. Dieses Imperium müsse jedoch an den widersprüchlichen Interessen der beiden größten und stärksten EU-Länder scheitern (Beispiel gemeinsame Armee und Verteidigungspolitik). Auch die „europäischen Solidarprogramme“ entpuppen sich nach Streeck als Instrumente hegemonialer Politik, d.h. dem Versuch neoliberale Einheit von oben durchzusetzen Als zweites Instrument neoliberaler „Solidarpolitik“ bezeichnet Streeck den Weg vom Steuerstaat in den Verschuldungsstaat mit der Folge einer weiteren Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen. Die Aufbringung von staatlichen Finanzen über Vermögenssteuern oder höhere Erbschaftssteuern sei im neoliberalen Europa kein Thema. Die mit zunehmender Verschuldung einhergehende Krisenanfälligkeit des neoliberalen EU-Imperiums muss zum Scheitern dieses Imperiums beitragen.

Kapitel V: Ausweg nach unten: Kleinstaaterei und ihre Möglichkeiten

Zunächst zieht Streeck als weiteren Zeugen für die Überlegenheit von „kleinen“ Nationalstaaten Herbert Simons Aufsatz über die Architektur von Komplexität aus dem Jahre 1962 (S. 390-398). Komplexität – im Falle Simons von Unternehmen und anderen Institutionen - sei nur beherrschbar, wenn Subsysteme dazu dienen, gegliederte komplexe Systeme zu differenzieren. Streeck schließt daraus, dass ein globaler „Staat“, ein Großstaat oder auch ein Imperium zu komplex seien, um von einer technokratischen Zentralinstanz überhaupt in einer wirtschaftlich effizienten Weise beherrscht werden zu können. Danach widmet sich Streeck ausführlich einem Aufsatz von John Maynard Keynes aus dem Jahre 1933, in dem dieser als Befürworter nationaler Eigenständigkeit und angeblicher Gegner des Freihandels ausführlich zitiert wird. Anschließend wird gezeigt, wie die diversen Krisen seit 2008 bereits zu einer De-Globalisierung geführt hätten und dieses Thema zunehmend in wissenschaftlichen Studien behandelt und in den neoliberalen global-governance Institutionen bemerkt worden sei.

Kern dieses Kapitels ist jedoch Streecks Vision von einer europäischen Föderation kleiner und mittelgroßer Keynes-Polanyi-Staaten, deren Konzept auf ein europäisches Bretton-Woods hinausläuft. Der institutionelle Ort des Primats der Politik (der Gesellschaft) über die Wirtschaft (den Kapitalismus) sei der Nationalstaat (S. 437). Dabei ist der „Nationalstaat“ nicht als ethnisch-homogen zu verstehen, sondern als ein Staat mit einer bestimmten, von anderen Nationalstaaten abgrenzbaren Identität seiner Bewohner. Der Keynes-Polanyi-Staat soll „klein“ oder doch zumindest „kleiner“ sein und kann so auf „freundlicher Distanz“ zu seiner wirtschaftlichen und politischen Umgebung bleiben (S. 439). Die empirischen Daten für die EU-Mitgliedsländer – Wirtschaftswachstum, Staatsverschuldung – würden auch belegen, dass kleine Staaten ihren Bewohnern einen höheren Wohlstand als große Staaten schaffen. Ein Bestandteil wirtschaftspolitischer Autonomie sei die Wiederherstellung geldpolitischer Autonomie der Länder des Mittelmeerraums und die „Renovierung“ des Europäischen Wechselkursmechanismus (479).

Diskussion

Es handelt sich um eine Schrift, hinter deren sprachlich provokativem Stil sich durchaus viele zutreffende Argumente und Vorbehalte gegen den Neoliberalismus und die neoliberalen Elemente in der EU-Architektur verbergen, aber auch noch mehr Kritikpunkte. Die meisten Kritikpunkte gehen auf zwei zentrale Aspekte zurück: Erstens die Anwendung des konstitutiven Partikularismus auf die Politik zur Entwicklung der EU und zweitens auf das Konzept des Keynes-Polanyi-Staates, der ja im Mittelpunkt der politischen Schlussfolgerungen steht.

Streecks kurze Ausführungen über den konstitutiven Partikularismus der menschlichen Vergesellschaftung sind – neben dem Bezug zu Simon - der einzige Teil, der sich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung öffnet, während der Rest des Buches eher politisch-visionäres Räsonieren ist. Aber selbst hier sind dem Rezensenten zwei offene Fragen geblieben. Erstens: Auf der einen Seite „verdichtet“ sich Vergesellschaftung, d.h. Bildung von Identität, zu gesellschaftlichen Institutionen bis hin zum Nationalstaat. Andererseits schaffen und sichern die Institutionen Identität und Vergesellschaftung. Das klingt sehr zu dem in der Sozialwissenschaft häufig anzutreffenden Henne-Ei-Problem, dessen Lösung sich der Rezensent wenigstens einmal wünscht. Zweitens lässt Streeck ja selbst explizit erkennen, dass der konstitutive Partikularismus der Vergesellschaftung eine multinationale Staatlichkeit nicht ausschließt. Er spricht sich eher gegen eine zu große Vielfältigkeit aus und bezeichnet „Staatskunst“ als nötig, um ein heterogenes Gebilde zusammenzuhalten. Wenn aber Streecks Ablehnung der EU auf schwankendem Grund steht, dann wird der Furor, mit dem er die EU und die Befürworter einer wachsenden Staatlichkeit insbesondere in den Kapiteln III und IV attackiert, unverständlich. Und dann verlangt sein Keynes-Polanyi-Staat im V. Kapitel nach einer anderen philosophisch-theoretischen Grundlage. Dies hatte bereits Jürgen Habermas zum Vorgängerbuch („Gekaufte Zeit“) angemerkt, er könne in der Analyse keinen ausreichenden Grund für die „defätistische Preisgabe des europäischen Projektes“ entdecken.[1].

Die erste Frage, die die Vision eines „kleinen“, aber nicht „zu kleinen“ Keynes-Polanyi-Staats aufwirft, lautet, ob Keynes dafür wirklich als Pate in Haft genommen werden kann. Unter den im Literaturverzeichnis genannten vier Publikationen wird eine durch ausführliche Zitation besonders hervorgehoben – über National Self-Sufficiency, in der Keynes die Idee des Freihandels abzulehnen scheint: “Ideen, Wissen, Wissenschaft, Gastfreundschaft, Reisen – das sind die Dinge, die ihrer Natur nach international sein sollten. Aber Waren sollten hausgemacht sein“ und auch daheim konsumiert werden (Keynes 1933: 758, in der Übersetzung von W. S.). Das Wort „klein“ taucht in diesem Vortragskript überhaupt nicht auf. Wahrscheinlich hatte Keynes das nicht gerade kleine Großbritannien im Hinterkopf oder gar die Vereinigten Staaten, wo er diesen Vortrag hielt. Vierzehn Jahre vorher hatte er in „Die wirtschaftlichen Konsequenzen des Friedens“ (ebenfalls bei Streeck aufgeführt) argumentiert, dass die neuen Nationalstaaten in Europa wirtschaftlich allein gelassen worden seien und dass unbedingt Freihandel zwischen ihnen eingeführt werden sollte, weil sonst kein Frieden zwischen ihnen herrschen könne (Keynes 1919). Überhaupt hat Keynes in dieser Abrechnung mit dem Vertrag von Versailles deutliche Zweifel an der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit der neuen kleinen Nationalstaaten geäußert. Die Aufspaltung oder Verkleinerung der vormals großen europäischen Imperien – Habsburg, Ostmanisches Reich, Deutsches Kaiserreich und auch Russland – durch den in seiner Heimat als Rassisten aufgefallenen Woodrow Wilson und seinem Versuch, durch die Gründung des Völkerbundes Frieden unter den verschiedenen „Identitäten“ zu halten ist vielleicht das beste neuzeitliche Gegenargument zu Streecks Illusion, kleine und mittelgroße Nationalstaaten seien freundlich und friedlich. Sie waren es niemals. Streeck nennt kein Argument, mit dem man darauf hoffen könnte, dass es nach einem „Rückbau“ der EU in souveräne Nationalstaaten nicht wieder zu derartigen „unfreundlichen“ Begehrlichkeiten kommt. Sein drittes Problem mit Keynes ist eine in der Krise auf Verschuldung ausgerichtete Finanzpolitik, die er bereits in einem Aufsatz von 1999 zur Begründung eines Niedriglohnsektors als „Vulgär-Keynesianismus“ bezeichnet hatte (Streeck 1999), und die sich damals gegen Oskar Lafontaine und die Leitung seines Finanzministeriums richtete. Stattdessen hatte er damals institutionelle Reformen im Sinne Gerhard Schröders gefordert. In seinem neuen Buch fährt Streeck denselben Angriff, nun aber gegen Carl Christian von Weizsäcker. Der liberale Ökonom war vor einigen Jahren der deutschen Keynes-Gesellschaft beigetreten, und zwar aus Protest gegen die Verschuldungsfeindlichkeit seines ursprünglichen Umfeldes und dessen einseitige Ausrichtung auf die Geldpolitik als Instrument der Krisenbekämpfung. Streeck kennt offensichtlich nicht Keynes berühmten Brief an Roosevelt aus dem Jahre 1933, in dem dieser den amerikanischen Präsidenten davor warnte, institutionelle Reformen („New Deal“) überhastet vorzunehmen. Zuerst müsse sich die Wirtschaft erholen, und zwar mit Hilfe staatlicher Ausgabenprogramme, finanziert durch „printing money“.[2]. Aus dieser Sicht ist von Weizsäckers Position genuin keynesianisch.

Bleibt Karl Polanyi als zweiter Pate für eine souveräne Wirtschaftspolitik. Streeck betont Polanyis Konzept der regionalen Planung in einem souveränen Nationalstaat, ohne dass Polanyi hier 1945 besonders konkret geworden wäre – mit einer Ausnahme: der Planung der außenwirtschaftlichen Beziehungen. Es blieb also Streeck überlassen, „regionale Planung“ als Instrument von Klein- und Mittelstaaten näher zu definieren und zu begründen, warum dies auf supranationaler oder auch -staatlicher Ebene nicht möglich oder ineffektiver sei. Die EU ähnelt doch in vielen Bereichen einem Polanyi-Staat mit regionaler Planung, man denke nur an die zahlreichen Förderprogramme für die Regionalpolitik oder an die Gemeinsame Agrarpolitik. Von den Nationalstaaten allein hätten die Programme nicht ohne erhebliche Verschuldung finanziert werden können. Da die Hauptempfänger eher kleine und mittlere Mitgliedsländer sind, verwundert es auch nicht, dass sie eine höhere durchschnittliche Wachstumsrate als die großen Nettogeberländer aufweisen, was von Streeck als empirischer Beweis für seine waghalsige These nimmt, wonach kleine souveräne Nationalstaaten ökonomisch besser dastehen würden als große – was im übrigens auch im Widerspruch zu seiner These von der neoliberal erzwungenen Konvergenz aufscheint. Auch verfällt er der Illusion, dass ein kleiner Nationalstaat mit einer eigenen Währung geldpolitisch autonom wäre. Dazu gab es in den vergangenen Jahren – auch vom Rezensenten – empirische Untersuchungen, die zeigen, dass Zentralbanken kleiner Staaten häufig die Geldpolitik der Zentralbank eines großen Staates nachvollziehen.

Fazit

Insgesamt soll festgehalten werden, dass dieses Buch keine überzeugenden Argumente für eine Rückkehr zu Nationalstaaten und gegen einen demokratischen „Durchbruch der EU nach oben bietet. Überhaupt sind die Ausführungen von Streeck zum Thema „Demokratie“ nebulös, welches zwar im Titel erscheint, aber nicht wirklich ausgeführt wird (übrigens auch nicht bei Polanyi). Verschiedene Passagen lassen auf eine ablehnende Haltung Streecks zur repräsentativen Demokratie bei Entscheidungen über kollektive Güter schließen. Stattdessen bevorzugt er „normativ-moralische kollektive Energien auf Gesellschaftsebene“ (S. 479ff), was eher auf eine „Bewegungsdemokratie“ verweist, die vielleicht in sehr kleinen Staaten oder Kommunen als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie praktikabel wäre, aus guten historischen Gründen in Deutschland nicht praktiziert wird und schon gar kein Konzept für eine demokratische EU wäre*

  • Nachtrag vom 25. Februar 2022:: Diese Keynes-Polanyi-Idylle, wie Carl Cristian von Weizsäcker sie nennt, ist ja bereits seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und Putins _Drohungen gegen Westeuropa obsolet geworden.

[1] Habermas, J. (2013), Im Sog der Technokratie, edition suhrkamp, S. 146.

[2] Keynes, J. M. (1933), ‘An Open Letter to President Roosevelt’, https://la.utexas.edu/users/hcleaver/368/368KeynesOpenLetFDRtable.pdf.






Flüchtlinge in Belarus - wie sollte die EU reagieren? (14. 11. 2021)

Der Unterschied zwischen der jetzigen Situation der an der belarussischen Grenze zu Polen gestandeten Flüchtlinie und den endlosen Zügen des Jahres 2015 besteht darin, dass damals die Menschen um ihr Leben liefen, jene aber wohl offensichtlich nicht alle. Einigen Berichten in den "herrschenden Medien" entnehme ich, dass es sich oft um Mitglieder der Mittelschichten im Irak und Syrien handelt (afghanische Personen sind eher eine Ausnahme, für sie zeichnen sich immer mehr offizielle Wege ab), die gewaltige Gelderaufbringen können, um Tickets und Schlepper zu bezahlen und dabei ihr Eigentum verkaufen oder in Zahlung geben. Das wären dann Wirtschaftsflüchtlinie par excellence.

Natürlich sind sie für mich nicht unbedingt willkommen. Aber sie werden aus humanitären Gründen früher oder später in die EU gelassen werden müssen - je früher desto besser. Denn Wirtschaftsflüchtlin hin oder her: Einem Ertrinkenden reicht man die Hand. Voraussetzung ist allerdings, dass das menschenverachtende Regime in Minsk, das wohl um sein Überleben kämpft, sie ziehen lässt und damit einen vermeintlichen Trumpf gegen die EU und ihre Unterstützung für die belarussische Gesellschaft aus der Hand gibt.


Denn worin besteht dieser Trumpf? In der Hoffnung, zum Gesprächspartner der EU zu werden und damit irgendeine offizielle Anerkennung zu erreichen. Wenn aber Polen sich entschlösse, diese Flüchtlinie durchzulassen, ohne dass das Land oder die EU vorher vorher mit Lukaschenko geredet hätten, würde sich diese Karte als Karo-Bube entpuppen, die ganz simpel mit dem Kreuz-Buben weggestochen wird - vorausgesetzt dass das belarussische Regime sie gehen ließe. Dies ist ein ernster Vorbehalt. Denn das Regime in Minks verhindert offenbar nicht nur die Rückkehr der Flüchtlinge in ihr Heimatland, sondern auch, und zwar mit Waffengewalt, dass diese in ihrer Not in die rückwärtigen Dörfer ziehen, um dort um Unterkunft und Nahrung zu bitten.

Deswegen muss die EU, insbesondere die deutsche Regierung, schnell handeln. Es muss zu einer Übereinkunft mit der polnischen Regierung kommen, die Grenze zu öffnen und die paar Tausend Flüchtlinge auf die willigen Mitgliedsländer zu verteilen. Das wäre die Nagelprobe.

Das funktioniert aber nur, wenn keine neuen Flüchtlinge nachkommen. Hier zeigen sich erste Erfolge, dass aus der Irak, der Iran und die Türkei die Flugrouten für Flüchtlinie erstopft. Als Problem bleibt das Assad-Regime in Syrien. Wie kann man verhindern, dass sich Trecks jener vor Assad geflüchteter wieder auf den Weg zum Flughafen in Damaskus machen, um von dort nach Minsk zu gelangen? Wahrscheinlich nur, indem der auch seine Landgrenzen zu Syrien schließt.



Ein düsteres Szenario für die Beziehungen Polens zur EU (22.10.2021)

Ich habe den starken Eindruck, dass die Rede, die der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in dieser Woche vor dem Europäischen Parlament gehalten hat, hintergründig den Austritt Polens aus der EU angekündigt hat. Obwohl sein Lippenbekenntnis der Rolle Polens als "loyales Mitglied der Union" galt. Ich glaube auch, dass Morawiecki vollkommen im Bilde ist, warum seine beiden zentralen Argumente, mit denen er die Öffentlichkeit hinters Licht führen wollte, falsch sind und er sie eigentlich nur für die polnische Öffentlichkeit formuliert hat. Das erste Argument lautete, dass mit zweiterlei Maß gemessen werde, wenn es darum geht, was mehr wiegt: Urteile des EuGh oder nationales Verfassungsrecht. Dabei bezieht sich Morawiecki immer auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020. Dieses Urteil forderte allerdings den EuGh zu einer schärferen Rechtsaufsicht über die anderen EU-Organe auf - in jenem Falle der Europäischen Zentralbank -, also genau das Gegenteil, was Polen fordert: nämlich weniger Rechtsaufsicht. Das zweite Argument lautete, in allen anderen EU-Ländern würden die Mitglieder des höchsten Gerichts auch von der Politik eingesetzt. Das ist nur formal richtig, denn in Deutschland setzt der Bundestag die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts mit 2/3-Mehrheit fest, so dass keine Partei mit ihren Vorstellungen durchmarschieren kann. Man zielt auch Konsens, Kooperation und zwangsläufig auf größere politische Neutralität. In Polen hingegen bestimmt allein die PiS mit ihrer einfachen Mehrheit die Besetzung der Richterämter und geht keine Kompromisse mit der Opposition ein. Das Höchstgericht gerät deshalb zu einem Instrument einer kompromisslosen Politik.

Das alles dürfte dem polnischen Ministerpräsidenten bekannt sein, und es lohnt sich nicht, mit ihm darüber zu streiten. Weil es weder ihn noch seine Partei - die PiS und deren Verbündete interessiert. Die Eskalationsleiter ist ja dann ganz einfach: Wenn Polen die Finanzmittel gesperrt werden, ist es soweit: Die Regierung kann Art. 50 des EU-Vertrags ziehen und wie Großbritannien den Austritt des Landes erklären. Dann kann man über maximal 2 Jahre über die Modalitäten verhandeln, wahrscheinlich würde die PiS-Regierung viel schneller zu einem Ergebnis kommen - auf die paar Milliarden Euro als Nettoempfänger kann man verzichten.

Da man ja auch weiß, wie die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit denkt, nämlich pro-europäisch, wird man natürlich keine Volksabstimmung durchführen - muss man ja auch nicht. Die Oppostion könnte allerdings die Wahlen zum Parlament - dem Sejm - im kommenden Jahre zu einer Volksabstimmung machen und nach einem Sieg die Austrittserklärung zurückziehen. Das weiß auch die PiS; die Umfragen sind ja derzeit nicht sehr günstig. Also liegt es doch auf der Hand, dass derjenige, der wild entschlossen ist, die Sache durchzuziehen, es nicht zu einem demokratisch legitimierten Umschwung kommen lassen darf. Die nach einer Austrittserklärung zu erwartenden Unruhen im Lande wird die Regierung dann dazu nutzen müssen, eine Art Notstand und ein autoritäres Regime einzuführen und ganz einfach die Wahlen zu verschieben und später überhaupt zu vergessen. Solche Szenarien kennt man ja aus vielen Regionen der Welt. Die Plaupause für Polen ist der 1926 von Marschall Pilsudski angeführte "Maiputsch", mit dem die Sanacja-Regierungen bis 1939 das Land áutoritär regierten. Die PiS und ihre Freunde haben eine sehr familiäre Nähe zur Sanacja, die nationalistisch, anti-kommunistisch und, ja auch, anti-semitisch war, zumindest in Teilen. Das sind düstere Aussichten, und ich kann nur hoffen, Unrecht zu haben. (22.10.2021)




Besitzt China die modernste Staatsform oder kennen wir das schon?

Schon seit längerer Zeit versucht die chinesische Führung unter ihrem Führer Xi Jinping den Eindruck zu verbreiten, den modernsten Staat geschaffen zu haben, der in seiner Effizienz von Verwaltung und Wirtschaft den westlichen Demokratien und ihren Werten überlegen ist und Vorbild für viele Entwicklungsländer sein soll. Kürzlich las ich in der Beilage einer führenden deutschen Wochenzeitung den Beitrag eines australischen Wissenschaftlers, der seit Jahren an einer chinesischen Universität forscht und lehrt, und das chinesische Beispiel einfach bewundernswert und hocheffizient findet.

Branko Milanović hat in seinem ansonsten verdienstvollen Buch „Kapitalismus global“ (Suhrkamp 2020) versucht, den chinesischen Kapitalismus als neuen Prototyp gegenüber dem westlichen („meritokratischen“) Kapitalismus abzugrenzen und erfand den Begriff des „Politischen Kapitalismus“. Aber das ist ja nun wirklich kein neuer Prototyp. Der Anspruch der chinesischen Führung, eine turbo-kapitalistische Wirtschaft mit autoritärer, diktatorischer, gar totalitärer Politik zu hoher Effizienz zu kombinieren, ist wirklich nicht neu.

Politischer Kapitalismus ist ein Euphemismus, der verdeckt, dass viele seiner Merkmale in China bereits in Europa in den Jahren zwischen 1920 und 1945 weit verbreitet waren. Auch Mussolini trichterte seinen Landsleuten ein, die ganze Welt beneide Italien wegen des Faschismus, der als die modernste Staatsform des 20. Jahrhunderts betrachtet werde. Der italienische Faschismus war Prototyp für die deutschen Nationalsozialisten, die spanischen Franquismus, Dollfuss‘ Idee vom Ständestaat in Österreich etc. Es handelte sich um politischen Kapitalismus, d.h. die Lenkung einer kapitalistischen Wirtschaft mit 5-Jahres-Plänen und dirigistischen Eingriffen in die Wirtschaft. Die deutschen Ordoliberalen hatten dies verstanden und bezeichneten das nationalsozialistische System als Zentralverwaltungswirtschaft, welches sich auch nahtlos in die Kriegswirtschaft überführen ließ.

Chinas autoritärer Kapitalismus mit totalitären Zügen in der Lenkung der Gesellschaft ist nicht unattraktiv für Erdogans Türkei, Russlands Putin, Lukaschenko in Minsk,und viele andere Diktatoren. Und seine Attraktivität reicht bis in die rechtspopulistischen und nationalistischen Kreise in der EU und sogar in einige Regierungen (beispielsweise Orban in Ungarn).

Wir sollten die unsägliche Bewunderung des polit-ökonomischen Systems in China beenden und es als das sehen, was es ist: ein Déjà-vu der dunklen Jahre 1920-1945 des vorigen Jahrhunderts. Und ähnlich könnte auch seine Zukunft aussehen: Ein Land, dass expansionistisch und imperialistisch handelt, wenn der Rest der Welt nicht klein beigibt, scheut auch nicht vor dem Einsatz militärischer Mittel zurück. Auch Chinas Führung wird wohl nicht der Versuchung widerstehen können, seine Interessen mit militärischer Potenz durchzusetzen. Und in der Tat: Sind wir nicht besorgt über Chinas Aufrüstung, seine Expansion in Afrika, neuerdings auch über seine Kreditvergabe an Montenegro, Griechenland etc., um einen Fuß in die Tür zur EU zu bekommen? Branko Milanović hat in seinem Buch versucht, die inneren Konflikte im modernen „kommunistischen“ (faschistoiden?) China zu identifizieren, z.B. die enorme Korruption, die immer mit fehlender Rechtsstaatlichkeit und einer zunehmenden ökonomischen Ungleichheit einhergeht, und die die innere politische Stabilität der „kommunistischen“ Führung bedroht. Es scheint so, dass der Kampf von Xi Jinping gegen die Korruption in natürlicher Verbindung mit seinen globalen Dominanzphantasien steht. Es ist eine Illusion anzunehmen, China würde international als fairer Wettbewerber auftreten, und Handel würde zu Wandel in China führen - eher in unseren Ländern! Ich denke mir, dass sich unsere Politik stärker auf die Demokratien in Asien (Indien) und Afrika konzentrieren sollte.

(Posted 05/07/2021) ergänzt: 15/08/2021

Vgl. auch den Kommentar "China wird sich durch Handel nicht wandeln" von Karl-Heinz Büschemann in SZ-online.de: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/china-export-handel-essay-1.5381779 - kostenlos leider nur für Abonnenten.





COVID-19 and the precarious ‘normality’ of the EU

The sequence of economic crises since 2008, of which the COVID-19 pandemic is but the most recent, has exposed a ‘trilemma’ in the EU’s response to these crises. Unfortunately, there is no concept for resolving this trilemma and rendering the union more resilient. This could be fatal for the EU.

Politicians all over the EU, responsible as they are for the stability of their economies and the common currency, are in thrall to the unpredictable course of the COVID-19 pandemic and its restrictive effects on the famous four freedoms of the union. The longing for ‘normality’ is the great political goal, but would a return to the former ‘normality’ actually be a desirable strategic goal? It is clear that the EU’s leaders have no conceptualisation of the future of the union once the COVID-19 pandemic is over. Best evidence is given by the Commissions ongoing call to participate in the conference of the future of the EU. The commission asks for proposlals what to do. This missing conceptualization could prove an existential problem for the EU in its present composition, where ‘normality’ is conceived of as the status quo ante.

A recurrent pattern of grit in the machinery

When we look at the short (though very turbulent) history of the EU since the introduction of the common currency in 1999, the lack of any long-term vision is puzzling. Indeed, the euro had 10 good years until 2008, during which the conventional wisdom of pursuing a combination of expanded integration, orthodox monetary and orthodox fiscal policies (following the same path as in decades past) seemed to work in the currency union. However, important elements of this wisdom proved themselves unfit for purpose in the three crises that followed over the next 13 years: the global financial crisis of 2008-2009, the sovereign debt crisis of 2009-2013 and the COVID-19 crisis since 2020. In each case, European policy makers reacted by taking emergency steps – most of them too late and of merely temporary duration. Meanwhile, there is no guarantee that this sequence of crises will be over any time soon.

The crises are interlinked

The first blow fell with the global financial crisis of 2008-2009; it could be parried by temporarily abandoning the constraints on orthodox fiscal policies and by large government rescue packages for the banks. A harsh return to fiscal restrictions then followed in all countries, according to the requirements of the Growth and Stability Pact. This sudden U-turn triggered the sovereign debt crisis in several euro area countries and jeopardised the stability and growth performance of the entire EU. Institutional reforms at the EU level focused on the financial sector: new bank supervision tools for the European Central Bank (ECB), the banking union and the capital markets union – on the assumption that the liberalisation and deregulation of cross-border private financial flows would be the best antidote to any future financial crisis. National fiscal policies remained restrictive, in contrast to 2008-2009. The Fiscal Compact of 2012 tightened even the former restrictions, and a raft of restrictive budgetary rules was implemented at the national level. Fiscal austerity programmes were imposed on high-debt countries. It should be noted that the programmes also included major retrenchment in the healthcare system, with dire consequences for the subsequent COVID-19 pandemic crisis. It remained up to the ECB – following the ‘unconventional’ monetary policies it has pursued since 2015 – to take quasi-fiscal responsibility and forestall the worst of the consequences. Nevertheless, the real economic fallout from the national fiscal austerity manoeuvres had still not been completely absorbed, when concerns about new recessionary tendencies spread across the EU in the fourth quarter of 2019.

It was in this precarious situation that the COVID-19 crisis erupted, making matters worse particularly in those countries that had made deep cuts in their healthcare systems (Germany is no exception). The search for emergency solutions in monetary, fiscal and other policies became ever more desperate. All the new institutions created in recent years – the banking union, the capital markets union, the European Stability Mechanism (ESM) – may be useful in terms of avoiding fresh financial tremors; but the COVID-19 pandemic has directly hit the real economy with supply and demand shockwaves. These have forced the suspension (to all intents and purposes) of the Stability and Growth Pact and the creation of a ‘recovery and resilience facility’ (RRF) at the EU level – but all measures are thought to be merely temporary.

Emergency steps face a trilemma

The poor crisis resilience has exposed the impossibility of preserving more than two of the three cornerstones of the present EU architecture: ‘euro area integrity’, ‘orthodox monetary policies’ and ‘orthodox fiscal policies’. In a study that is well worth reading, Bonatti, Fracassi and Tamborini dub this problem the ‘trilemma’ of European policies.[1] The latter two cornerstones – deactivated for the moment, but likely to be resumed – imperil the first one of euro area integrity. Meanwhile, euro area integrity and monetary orthodoxy reduce the efficacy of orthodox fiscal policies in dealing with asymmetric shocks. And euro area integrity, when coupled with orthodox fiscal policies, forces the central bank to go beyond its remit in a severe crisis (albeit with limited efficacy). It should also be remembered that in May 2019, the German constitutional court questioned the legitimacy of the ECB’s massive asset purchase programme (APP), which was nevertheless continued and then complemented in 2020 by the even more massive pandemic emergency purchase programme (PEPP).

Back to ‘normality’ would mean global marginalisation

When we consider the last 13 years, it is hardly surprising that, of all the big global players, the EU has the weakest economic performance and organisational capabilities. It has also lost some of its (already limited) political relevance, making it harder for it to deal on level terms with the emerging new global order of the United States and the challenger, China – complemented, perhaps, by Russia. A return to the former pre-coronavirus ‘normality’ is scarcely credible as a beneficial strategy for Europe. Either the EU must be prepared to remain in permanent crisis mode, with a further loss of global relevance and increasing centrifugal forces, or it needs to undertake institutional reforms to address the inconsistencies between EU integrity, monetary policies and fiscal policies, and to make the union more resilient to severe shocks in the future.

The need for a new fiscal policy architecture

Of the three cornerstones of the EU architecture, the fiscal policy pillar is the weakest. Once the pandemic is over, most EU member states will be burdened with substantially elevated public debt levels. A return to ‘normality’ would mean reinstatement of the stipulations of the Growth and Stability Pact and the Fiscal Compact for national fiscal policies. In that event, it is as certain that the European economy will be condemned to a sluggish recovery as that tomorrow the sun will rise in the east; and the inherent vulnerability may even set the stage for the next crisis. In order to forestall such a scenario, it is imperative that the present emergency programmes be transformed into a coherent concept, and that their temporariness be converted into permanence. Overcoming fiscal orthodoxy would be a core element in resolving the trilemma. The presently unclear boundary between monetary and fiscal policy competencies should be replaced by coordinated monetary-fiscal responses that also make monetary policies more effective. But how to achieve this?

A steadily growing body of professional commentators advocates a fiscal instrument with risk-sharing properties at the EU level. Indeed, we have seen that private risk sharing in a banking and capital markets union is not capable on its own of avoiding and solving a financial and economic crisis, irrespective of where the initial shock occurs. One can use what is already in place to complement a capital markets or banking union: the establishment of the RRF in response to the coronavirus crisis offers an opportunity to use it as the nucleus of the EU’s own sovereign fiscal risk-sharing instrument. However, the greatest disadvantages to the RRF are its temporariness and modest volume, compared to President Biden’s USD 1.9 trillion anti-coronavirus package. The RRF should be transformed into a permanent facility that is competent to coordinate dealings with the ECB and to issue securities that are attractive to institutional investors and central banks. As matters currently stand, investors will find it more attractive to invest in US bonds, which will strengthen the US economy and the dollar. A permanent and powerful public risk-sharing tool for the European Union would remove one of the EU’s biggest stumbling blocks in global systemic competition.



[1] Luigi Bonatti, Andrea Fracasso and Roberto Tamborini (2020), ‘COVID-19 and the future of quantitative easing in the euro area: Three scenarios with a trilemma’, https://www.europarl.europa.eu/cmsdata/211589/Topic%202%20Compilation.pdf; pages 70-101.

Posted: 25/03/2021

Published: wiiw Monthly Report No. 4/2021





WER IST EIGENTLICH VERANTWORTLICH FÜR DIE CORONA-MISERE?

Dieser Winter wird sich im Gedächtnis der Menscheit einprägen - auf lange Zeit und die Welt, auch Deutschland, verändern.

Mit 30.000 Neuinfektionen heute (10.12.2020) und Hunderten von Toten allein in Deutschland sind die Befürchtungen der Kanzlerin noch vom Oktober -Weihnachten: 19.000 - weit übertroffen. Aber sie war machtlos, weil in der förderal verfassten Bundesrepublik die Länder und ihre Regierungen das entscheidende Wort haben. Das hat auch Lindner von FDP wohlweislich verschwiegen, der eine Debatte über Einschränkungen der Grundrechte im Bundestag vor ihrer Beschlussfassung durch die Bundesregierung forderte. Diese Debatte hätte aber in den Länderparlamenten mit Bezug auf die Länderverfassungen geführt werden müssen, denn, wie wir gesehen haben, Landesregierungen entscheiden letztlich, Frau Merkel kann nur appellieren. Hat man gesehen, dass die FDP, dort, wo sie mitregiert (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz) diese Debatte geführt hätte? Nein, also alles nur Augenwischerei!

Lässt man mal Christian Lindner, der es besser wissen müsste, und die AfD, dieren Anhänger und Vertreter nun überhaupt nichts wissen ("Alles nicht bewiesen"), beiseite: Wer ist eigentlich politisch verantwortlich für die Eruption der Seuche und dem drohenden Zusammenbruchunseres Gesundheitssystems? Die Frage ist eigentlich leicht zu beantworten, wenn man sich ein Mindestmaß an Erinnerungsvermögen bewahrt hat. Angefangen hat alles mit der Aufhebung der Reisewarnungen für die EU irgendwann im Juni nach der ersten Welle. Außenminister Maas: "Das ist aber keine Aufforderung zum Reisen". Ja, was denn sonst? Hilfloser geht's nicht mehr. Weiter ging es mit dem ratlosen Blick auf Hunderttausende Deutsche, die in diese "vormaligen" Risikogebiete fuhren und dort das taten, was hierzulande noch beschränkt war: Kein Abstandhalten, keine Masken usw. usf., keine Kontrollen und Tests bei oder nach der Rückkehr. Die wenigen Corona-Infizierten, die mit dem Virus in den Urlaub fuhren, steckten dort die anderen an, und so re-importierte Deutschland das Virus wieder auf erhöhtem Niveau. Dann die halbherzigen Reaktionen im Oktober. "Wir haben gelernt aus der ersten Welle. Eine Schließung von Schulen und Kitas würden wir heute nicht mehr machen", heiß es. Obwohl man doch aus der Geschichte weiß und von den Epidemiologen gebrieft wurde, dass die zweite Welle immer stärker, ja tödlicher als die erste ist. Jetzt die Kehrtwende - die Schließung von Schulen und Kitas ist absehbar. Was also haben "sie" gelernt? Nichts. Bouffier: "Wir alle haben das Virus unterschätzt". Wir alle? Einige offensichtlich nicht. Neben den Medizinern sind dies Merkel, Lauterbach und, ja auch, Spahn - allerdings mit sehr begrenzten Möglichkeiten. Bouffier indes gehörte zu den Bremsern, als im November noch schärfere Restriktionen hätten eingeführt werden sollen so wie auch Laschet, Schwesig, Müller, Ramelow, Haseloff und Weil. Sie alle sind erwiesenermaßen von der Krise überfordert und gehören abgelöst - so schnell wie möglich. Es wäre für mich ein Alptraum, einen Politikertypen wie Laschet als Bundeskanzler und damit als Krisenmanager hinnehmen zu müssen. Nur in den persönlichen Konsequenzen für diese Polikversager kann sich die Stärke unsere Demokratie beweisen. Nicht die Bundesregierung, sondern die Länderregierungen sind unsere Schwachstelle. (11.12.2020)


The EU’s Recovery and Resilience Facility: no illusions, please! (posted

5/08/2020)

The establishment of a “Recovery and Resilience Facility” (RFF) looks like a milestone on the EU’s way to an own, sovereign fiscal policy as supported by many economists. But I believe that this construction offers an ambivalent impression. At another place (https://mpra.ub.uni-muenchen.de/83965/) ,I argued in favor of a central fiscal capacity on the EU level making the EU more resilient against severe external shocks and the European Central Bank’s monetary policy more effective. It is easy to observe that more trade and financial integration transformed asymmetric shocks into commons shock via the trade and financial multipliers, and that there is no more room for effective responses on the national level. Such separate responses would only disintegrate the European economy and undermine the effectiveness of the European Central Bank’s monetary policy. I used the analogy of a fire department of any larger town, which task is not only to extinguish – unconditionally (!) - a burning building, but also to prevent the fire spreading out to the neighborhood. In very old times, each house owner was responsible for his/her own house. But with more housing density, modern cities have a public fire department available. Similar to the transformation of privately organized and competing fire departments into publicly organized ones in the 18th century, the introduction of a central fiscal capacity would be this milestone on the way transforming the EU’s present architecture into a powerful modern concept of economic policy. Also, I argued in favor of non-repayable grants (a standard instrument of public budgets), borrowing on financial markets, and own revenue sources.

Does the RRF deliver these ingredients? Only partly. Apparently, the facility consists of three components, which raise hopes in a new central fiscal capacity: (i) the 310 bn euro of non-repayable grants (ii) the financing of the Fund by long-term borrowing on capital markets, and (iii) the imposition of own tax revenues (‘plastic tax’) of the EU budget to be used for debt service. But as I will argue in a moment, the new facility does not yet constitute a sovereign fiscal policy of the EU; it is merely a milestone towards a central fiscal capacity, nothing more. Certainly, spending 310 bn euro will have some positive effect, but effectiveness will be reduced. The weak point is the ongoing lack of fiscal sovereignty of the EU authorities. What does that mean? A legal entity is sovereign when it is not subject to orders from its constituents or addressees of its operations. Seemingly, this is ensured. However, external independence is a necessary but not sufficient condition for sovereignty. Goodhard and Lastra (2017) pointed out that sovereignty means internal independence, and independence is a prerequisite for policy discretion within the framework of rules that established a border to arbitrariness.[i] There is the rub. The EU council negotiated a compromise in exhausting sessions in two respects: First, the council of ministers, not the EU commission or the European parliament, decides actually on the approval of funds according to a member states’ application and the background documents about reform plans and the use of means. In Council voting, the well-known principle of double majority is applied. Second, the so-called "’super emergency brake,’ requested by a minority of five EU member governments, among them prominently the Dutch prime minister Mark Rutte, creates a veto right for each single EU government on the recovery plan of another EU government, when the double majority is already secured. Similar, tax financing: The introduction of an EU tax and its changes remains in the competence of the Council; the EU parliament does not have this right that is fundamental for a sovereign fiscal policy. The RRF solution will be less effective compared to a status with sovereign competences of the Commission and the Parliament. Nevertheless, one has to respect that a first and important step towards such a solution is done: grants, budget deficits, and own taxes – all of them not allowed until today. Hence, the way toward a true and effective fiscal policy body on the EU level remains very long.

[i] Goodhart, C. and R. Lastra (2017), “Populism and central bank independence”, Discussion Paper Series, DP 12122, Centre for Economic Policy Research, London, UK.



Staatsverschuldung in der Corona-Krise: die einfachen Zusammenhänge (21/06/2020)

Die Programme auf nationaler und europäischer Ebene zur Überwindung der größten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression Anfang der 1930er Jahre als Folge der Corona-Pandemie werden die Staatsverschuldung in Europa enorm nach oben treiben. Noch vor wenigen Jahren galt Staatsverschuldung als politische No-Go-Area. Der Hauptstrang der Wirtschaftswissenschaften, der sog. Mainstream, lieferte dafür den Legitimationsrahmen. Staatsverschuldung habe inflationäre Wirkungen, reduziere die privaten Investitionen und das Einkommen, aus dem die Steuern für die Rückzahlung der Schulden genommen werden müssten und – last but not least – ende sehr häufig in Finanzkrisen. Das hat sich grundlegend geändert. Die meisten meiner Fachkollegen, auch viele jener, die noch vor Jahren vor Staatsverschuldung gewarnt und ausgeglichene Staatsbudgets empfohlen haben, begrüßen nun die schuldenfinanzierten Rettungsprogramme und scheinen sich keine Sorgen über die zukünftigen Folgen mehr zu machen. Bitte, in der wissenschaftlichen Aussage hat die Mehrheit nicht immer recht, aber ich glaube, in diesem Falle schon. Und vor allem dann, wenn von politischer Seite noch immer als Gegenargumente Allgemeinplätze der vergangenen 30 Jahre vorgebracht werden.

Der österreichische Bundeskanzler, Herr Kurz, gehört zu jener Gruppe der sog. Geizigen Vier, die den Plan der Europäischen Kommission ablehnen, 750 Mrd. Euro für die Überwindung der Krise durch die Begebung von Anleihen auf den Kapitalmärkten zu finanzieren und zwei Drittel dieser Summe als Zuschüsse an jene Länder und Sektoren zu vergeben, die besonders stark von der Pandemie betroffen sind. Zweifelsohne kann eine Vergabe der Mittel nur über Kriterien erfolgen, z.B., dass keine Massenentlassungen vorgenommen, Dividenden ausgeschüttet werden oder dass die Mittel vorzugsweise dem Gesundheitssystem zugute kommen sollten. Herr Kurz hat aber letzte Woche (20. Juni) ein anderes Argument vorgebracht, nämlich dass es sich ja um Steuergelder handele. Nun, dass ist aus dem offensichtlichen Grund zunächst einmal falsch, weil die Programme nicht durch Steuern, sondern Schuldenaufnahme, finanziert werden sollen. d.h. durch die Ausgabe von langfristigen Staatsanleihen.

Möglicherweise hat der österreichische Bundeskanzler aber etwas anderes im Sinn. Er hat auf eines der Hauptargumente aus dem Koffer neoliberaler Ökonomie vor 30-40 Jahren zurückgegriffen, wonach die heutigen Staatsschulden aus den zukünftigen Steuereinnahmen finanziert werden müssten. Dieses Argument wäre aber schlichtweg falsch. Wenn der Staat sich mit Anleihen bei den Privaten langfristig verschuldet, so werden die Halter der Papiere diese an die nächste Generation vererben. Wenn es dann zur Rückzahlung aus Steuereinnahmen kommen sollte (was nicht zwingend ist, aber hier jetzt keine Rolle spielen soll), so zahlt die zukünftige Generation genauso viel an Steuern, wie sie aus der Rückzahlung der Kredite plus Zinsen erhält. Diesen Schluss gebietet die Logik und entstammt keinerlei politischerr Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung. Freilich kann man über ungleiche Verteilungseffekte einer zukünftigen Steuerfinanzierung von Schuldentilgung diskutieren: Die Privaten, die Staatsanleihen halten, dürften nicht diejenigen sein, die Steuern im Umfange der an sie gezahlten Schuldentilgung aufzubringen haben. Aber das ist auch kein zentraler Einwand. Denn wenn die Anti-Krisen-Programme nicht durch Schuldaufnahme, sondern alternativ durch Steuererhöhungen finanziert würden, wären bei dem heutigen Steuersystem schon ungleiche Verteilungseffekte zu erwarten, deren politisches Risiko wahrscheinlich keine Regierung auf sich nehmen möchte. Schulden- und Steuerfinanzierung dürften sich also nicht viel nehmen, wenn es um die intertemporalen Verteilungseffekte bei unverändertem Besteuerungssystem geht.

Ein Argument gegen die Schuldenfinanzierung aus einem anderen Zusammenhang könnte lauten, dass wir damit Ressourcen verbrauchen, die unseren Kindern fehlen werden. Dieses Argument ist ebenfalls falsch. Die gegenwärtige wirtschaftliche Depression setzt ja Ressourcen frei, die wir bei einem ungestörten Verlauf der Wirtschaft zweifelsohne verbraucht hätten und die damit unseren Kindern ohnehin nicht zur Verfügung gestanden hätten. Im Grunde läuft das Argument des Ressourcenverbrauchs auf den wahrlich sinnlosen Vorwurf hinaus, wir wollten die durch die Pandemie verursachte Arbeitslosigkeit auf die künftige Generation verschieben.

Und noch ein letztes falsches Argument gegen Schuldenfinanzierung: Die riesige Geldvermehrung würde über kurz oder lang zu Inflation führen. Natürlich käme eine Geldvermehrung nur dann zustande, wenn die Europäische Zentralbank den Privaten (hauptsächlich Banken) ihre Staatstitel abkauft. Das tut sie sowieso gerade und in nicht unerheblichem Umfange mit dem Ziel, die wirtschaftliche Stagnation im Eurogebiet nach der globalen Finanzkrise 2007/2008 und seit der Eurokrise 2012 zu überwinden. Ich habe an meiner Pinnwand einen Zettel mit Aussagen prominenter und weniger prominenter Ökonomen aus dem Jahr 2012 angeheftet, die für das Eurogebiet eine rasante Beschleunigung der Inflationsrate prognostizierten. Sie alle haben sich geirrt, wie man weiß. Einer versprach sogar, seinen Professorentitel zurückgeben, wenn es keine Inflation gebe. Mir ist nicht bekannt, dass er dies getan hätte. Wieso kann es nicht zur Inflation kommen? Aus einem einfachen Grunde: In einer schweren Wirtschaftskrise sinkt die Auslastung des Produktionspotenzials (Maschinen und Arbeitskräfte), und es besteht eher die Gefahr, dass die Preise allgemein sinken. Aber genauso wenig, wie die Preise sinken, steigen sie, wenn die Auslastung der Kapazitäten wieder zunimmt, was einfach damit zusammenhängt, dass die vermehrte Nachfrage auf eine ausreichende Vermehrung des Angebots trifft. Die Gefahr einer Inflation droht erst dann, wenn die Kapazitäten ausgelastet sind und die zusätzliche Nachfrage nicht durch vermehrte Produktion befriedigt, sondern nur durch erhöhte Preise abgeschöpft werden kann.

Fazit: Aus diesen drei genannten Gründen ist eine Schuldenfinanzierung zur Überwindung der Corona-Krise höchstwahrscheinlich weder eine Belastung zukünftiger Generationen noch kann sie inflationäre Effekte haben.

The Merkel–Macron proposal: a new instrument born of necessity (26/05/2020)

Two remarkable events recently burst upon the economic policy agenda of the European Union.

The first was the judgment by the German Federal Constitutional Court on 5 May against the massive Asset Purchase Programme of the European Central Bank (ECB). In direct opposition to the European Court of Justice, the Federal Court ruled that the programme goes beyond the ECB's mandate by involving itself in German fiscal policy, and obliges the German government to demand an explanation with respect to these actions from the Central Bank. The ruling effectively puts an end to Mario Draghi’s ‘whatever it takes’ promise. From now on, highly indebted member states such as Spain, Italy and Greece would be well advised not to risk credit financing for measures to tackle the consequences of Coronavirus. The capital markets may once again not accept an even higher public debt in those countries (just as in 2012). In that case, the monetary union would again run into trouble, if the ECB is not allowed by the German government to protect the common currency using non-standard monetary policies without accepted explanations and justifications. Hence, a new instrument is needed.

The second event followed on almost immediately: the Merkel–Macron proposal for a EUR 500 billion recovery fund, to be disbursed in the form of non-repayable grants to member countries and regions that have been particularly badly hit by the Coronavirus crisis. The fund would be financed by EU Commission borrowing on the financial markets.

In linking the two events, we might first of all point out that the proposed recovery fund could significantly reduce the need for the exclusive use of unconventional monetary policy measures to combat Europe-wide crises, particularly as the effectiveness of such measures declines as their scale increases. Despite the temporary nature of the fund, the proposal could pave the way for a permanent fiscal crisis mechanism at the European level, as a counterpart to the European Central Bank. Many commentators have seen the lack of such a mechanism as a fundamental in-built weakness of the monetary union that has aggravated the economic downturn on the margins of the euro area and has delayed the recovery of the entire area following the sovereign debt crisis. Hence, the Merkel–Macron proposal offers a way out of an institutional framework, the intellectual foundations of which have ceased to be widely accepted in the academic community. It looks almost like a revolution, born of necessity.

However, before the negotiations at the European level can produce any substantial plan, there are certain problems that need to be resolved, including the intention of raising the proposed EUR 500 billion on the financial markets. Art. 310 (1) of the Treaty on the Functioning of the European Union – an element of the EU’s primary law – requires budget expenditure to be balanced by revenue. Indeed, this is an even more powerful rule than that which the Stability and Growth Pact of 1997, subsequently strengthened by the Fiscal Compact of 2012, imposes on member states. In fact, borrowing requires a change to the EU Treaty, which has to be passed unanimously by the Council. But even that is not the end: a Council decision needs to be followed by various ratification procedures at the national level, which would take time and may result in some unpleasant surprises. The problem could be solved if, instead of being part of the EU budget, the fund were to be made into a legally independent body of the EU member states. There are important precedents for this, such as the European Stability Mechanism or the European Investment Bank. On this point, unfortunately, the Merkel–Macron proposal is silent.

Also unclear are the methods of borrowing, the debt servicing and the burden on the EU budget. The proposal talks vaguely of borrowing and amortisation over 20 years from the EU budget. Amortisation plus interest payments (‘annuity’) are normal for loans from banks. However, bank lending is unusual for public-sector debt in the member countries: they finance deficits almost exclusively by issuing bonds with various maturities and a fixed rate of interest on the capital markets. The amortisation occurs when the bond falls due. The amortisation of shorter-term bonds is usually financed by issuing new bonds. Under the proposals for the recovery fund, final amortisation could take place far beyond the end of the fund’s activities.

In the (preferable) case of bond financing, only interest payments would effectively accrue to the annual EU budget. At a cautious estimate (2%), annual interest payments would amount to about EUR 10 billion. In the case of additional payments of member countries to the budget, Germany would have to contribute about EUR 2.5 billion, and Austria about EUR 250 million. If, as expected, the fund helps to stabilise the economy and tax revenues in the member countries, there should not actually be a financing problem. The EU’s own increased resources, raised via an EU-wide tax, could help with servicing the debt.

A group of countries – the so-called Frugal Four (including Austria) – has now put forward an alternative proposal, which relies exclusively on conditional lending to the recipient countries. Some compromise is necessary; it is Brussels business as usual. Seemingly, the compromise will involve a mixture of favourable credit and non-repayable grants, with the latter clearly predominant. This could be acceptable both to those countries that have been particularly badly hit by the coronavirus crisis but that are in no mood to take on fresh public debt, and also to the ‘Frugal Four’.

Entgleist (25/05/2020)

Als die Eurozonen-Krisenstaaten Kredite aus dem ESFS und später ESM erhielten, dienten diese der Rückzahlung von Krediten des Bankensektors. Das ist vielfach kritisiert worden. Aber: Ein Anstieg der Gesamtverschuldung war nicht beabsichtigt. Der sog. Vorschlag der sich selbst so bezeichnenden Sparsamen Vier – Österreich, Niederland, Dänemark und Schweden – soll die Alternative zum deutsch-franzöischen Vorschlag eines Wiederaufbaufonds in den schwer von den Folgen der Corona-Krise betroffenen und bereits hoch-verschuldeten Ländern sein (Spanien, Italien). Er sieht wie damals - 2012 - ausschließlich Kredite vor. Aber damit soll genau das Gegenteil zu den Massnahmen in der Eurokrise von 2012 erreicht werden, nämlich eine weitere Erhöhung der Verschuldung dieser Länder. Es handelt sich um einen aus dem Gleis jeglicher wirtschaftlicher Rationalität gesprungenen Vorschlag, der nur ein Ziel hat: eine Karambolage mit dem Merkel-Macron Vorschlag eines Wiederaufbaufonds.

Das Paradoxon einer Existenz und gleichzeitigen Nicht-Existenz der Corona-Gefahr (11/05/2020)

Einen nicht eingetretenen Schaden kann man nicht sehen. Weil dies so ist, sind immer mehr Menschen davon überzeugt, dass die Freiheitsbeschränkungen im Kampf gegen die Corona-Epidemie im Grunde nichts gebracht haben – „alles übertrieben“. Wissenschaftler kennen dieses Paradoxon: Maßnahmen werden ergriffen, um etwas zu verhindern. Was aber verhindert wurde, existiert ja nicht.

Egostreiter, Demokratiegegner, Impfgegner und Verschwörungsmystiker sehen die Gelegenheit gekommen, den wachsenden Unmut noch zu befeuern. Dabei liegt es doch auf der Hand: Die Beschränkungen haben einen größeren Schaden verhindert; die Infektionszahlen sind erheblich gesunken, die sog. Reproduktionsrate, der Faktor R, ist unter 1 gesunken. Der letztliche Wiederanstieg der Zahl R kann plausibel mit dem Beginn der Lockerungen vor zwei Wochen erklärt werden. Das zeigt doch, dass hier ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung vorliegt: Die Freiheitsbeschränkungen waren die Ursache, der Rückgang der Infektionszahlen und Mortalitäten die Wirkung. Hebt man die Ursache auf, tritt auch die Wirkung nicht mehr ein. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ein sehr abstrakter, und nicht jede Beschränkung hat dieselbe Wirkung wie eine andere. Das kann man aber im voraus nicht wissen, wenn die täglichen Infektionszahlen die 6000er Grenze überschreiten und Bilder aus den Krankenhäusern Norditaliens eine noch schlimmere Entwicklung vorzeichnen. Der Umgang mit einer neuartigen Bedrohung ist ein Lernprozess, durch den unwirksame Maßnahmen von wirksamen getrennt werden können. Und wirksam ist eine Maßnahme, durch den ein Schaden nicht eintritt und der daher auch nicht gesehen werden kann.

Merkwürdige Positionen in der Exitdebatte (30/04/2020)

Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Wege aus den Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, die ja auch gleichzeitig eine Beschränkung von Grundrechten bedeuten, ist eine Diskussion über jene Werte, die bisher in Deutschland den höchsten Rang genießen, ausgelöst worden. In dieser Debatte vertreten die Schreihälse von der AfD die extremste Position, als diese kürzlich in ihrem Antrag im Bundestag die sofortige Aufhebung aller Beschränkungen mit Ausnahme der Grenzwiedereröffnung forderte. Die Argumente sind bar jeglichen intellektuellen Vermögens, so dass eine rationale Auseinandersetzung uninteressant ist. Dagegen hat Wolfgang Schäuble kultivierter argumentiert. Er hat einen „absoluten Wert des Schutzes des Lebens“ infrage gestellt. Er bezieht sich offensichtlich auf Artikel 2 GG, Absatz 2, wo es heißt, jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Er meint nun, dass der absolute Schutz des Lebens nicht an vorderster Stelle der Grundrechte stehe, sondern die Würde des Menschen, die unantastbar sei, wie in Art. 1 des Grundgesetzes festgeschrieben. Schäuble führt weiter aus, dass, obwohl die Würde des Menschen unantastbar sei, schütze dies nicht davor, dass wir alle schließlich sterben müssten. Deshalb sei ein Absolutionsanspruch des Rechts auf Leben gar nicht möglich. In eine ähnliche Kerbe schlägt Katrin Göring-Eckhard von den Grünen, von der ich heute Morgen (30.4.2020) in der Online-Version auch die steile These las, dass die Grundrechte sich gegenseitig beschränkten; dieser Passus war dann am Nachmittag um 13:30 nicht mehr zu lesen. Ich gehe aber davon aus, dass sie es gesagt hat. Dann müsste sie einmal erklären, inwiefern etwa Art. 2 „Das Recht auf Leben“ die in Art. 1 postulierte Unantastbarkeit der menschlichen Würde beschränkt oder jeden anderen der ersten 19 Grundrechte. Im Kontext der gegenwärtigen Lockerungsdebatte geht es schließlich darum, ob weiterhin Rücksicht auf Risikogruppen genommen werden soll, z.B. auf Ältere mit Vorerkrankungen. Es liegt doch nahe, dass selbst ein geringer Entzug des Schutzes ihres Lebens eine Ungleichbehandlung auf Intensivstationen impliziert, die direkt gegen die Würde des Menschen verstieße, also auch nicht im Sinne von Schäuble sein könnte. Eine unwürdige Krone in der Debatte hat sich Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen und gleichzeitiges U-Boot der AfD bei den Grünen, aufgesetzt. In einem Interview im Sat-1-Frühstücksfernsehen (29. April 2020) schwadronierte er wie folgt: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankung." Dies ist auf den Punkt gebracht, was kultiviertere Debattenteilnehmer als Beschränkung des Grundrechts auf Leben durch die anderen Grundrechte bezeichnen. So würden das auch die AfD-Leute unterschreiben können. Wann werden sich die Grünen von diesem Herrn, der schon in der Vergangenheit AfD-Positionen vertreten hat, endlich befreien?

Immunitätsausweis? (03/05/2020)

Es gibt bisher nur spärliche Informationen über den Kabinettsbeschluß der deutschen Regierung, einen Immunitätsausweis einzuführen. Aber alle Presseinformationen laufen darauf hinaus, dass Covid-19-Genesene künftig einen Immunitätsausweis und dadurch gewisse Sonderrechte erhalten, z.B. Kontaktrechte. Wenn das so ist, so hoffe ich auf breiten Widerstand. Denn, wenn nur Covid-19-Genesene den Ausweis erhalten sollen, was wäre denn dann mit Personen, die bisher noch nicht infiziert worden sind. Sollen die sich sehenden Auges infizieren, um dieselben Sonderrechte zu erhalten - falls sie überleben? Und was ist denn dann mit den sog. Risikogruppen, die sich bisher schön isoliert und nicht infiziert haben. Werden die faktisch diskriminiert? Ich glaube nicht, dass so etwas vor dem Bundesverfassungsgericht bestand haben wird.

Postscriptum 10/05/2020: Gottseidank ist die Idee im Papierkorb gelandet!!!

Postscriptum 14/05/2020: Zu früh gejubelt! Bundsgesundheitsminister will es, weil sonst Bundesbürger nicht in andere Staaten reisen könnten, die SPD hat abgelehnt. Mal sehen, ob die SPD schon heute in der 2. Lesung des Gesetzes umfallen wird.

Ist Schengen tot? (11/04/20)

Dies ist eine überaus spannende Frage für Millionen von Bürgern der Europäischen Union, die sich – wie meine Freunde und ich als Europäer fühlen. Sie fragen sich, wann und sogar ob diese Kontrollen wieder aufgehoben werden und das Schengen-Abkommen für die unbeschränkte Freizügigkeit in Europa wieder in Kraft gesetzt wird. Muss man pessimistisch sein, ist die Freizügigkeit auf sehr lange Frist beendet? Oder kann man optimistisch sein? Meine Überlegungen beginnen mit der pessimistischen Version.

Es ist eigentlich sehr erstaunlich, wie schnell die Regierungen des Schengenraums ihre Grenzen wieder re-nationalisiert haben, obwohl man doch weiß, dass das Corona-Virus durch die eigenen Staatsbürger, die sich im Ausland aufgehalten haben, eingeschleppt wurde; Stichwort: Ischgl. Und den eigenen Staatsbürgern kann ja nun kein Rechtsstaat die Wiedereinreise verbieten. Insofern haben die Grenzschließungen die pan-europäische Ausbreitung des Corona-Virus nicht verhindert. Warum dann die schnelle Schließung der Grenzen? Meine Antwort lautet: Schengen war bereits vor der Corona-Krise gescheitert. Wachsende Teile der Bevölkerung haben seit Beginn der Flüchtlingskrise mit der Personenfreiheit in Europa nichts mehr anfangen können. Und Rechtspopulisten haben als erste überhaupt die Forderung „Grenzen dicht!“ erhoben – so z.B. die AfD bereits Anfang März. Die Bundesregierung hat diesem allgemeinen Gefühl nachgegeben, und die sie tragenden Parteien haben vor der AfD Angst. So geht es auch anderswo zu: in Österreich haben ÖVP und SPÖ Angst vor der FPÖ, in Frankreich Macron vor Marie Le Pen, Mark Rutte in den Niederlanden vor Pim Fortyn, aber auch in Dänemark, Schweden, ganz zu schweigen von unseren „demokratischen Freunden“ in Osteuropa. Arum sollte das Schengen-Abkommen wieder in Kraft gesetzt werden?

Das ist aber nur eine sehr pessimistische Überlegung. Die optimistische Version der Geschichte baut auf der Erfahtung, dass Togesagte länger leben. Wir haben die wirtschaftlichen und privaten Verflechtungen, vor allem in den Grenzgebieten, auf, die einfach zu stark sind, um den freien Personenverkehr auf Dauer abzuschaffen. Ein wichtiger Grund scheint mir die gemeinsame Währung zu sein. Sie ist wohl schlichtweg undenkbar ohne freien Reise- und Personenverkehr. Wozu braucht der Bürger Euro, wenn er nicht so ohne Weiteres ins Ausland fahren kann? Nun ist auch die gemeinsame Währung durch die unterschiedlich hohen fiskalischen Kosten der Krisenbekämpfung bedroht, und der EU-Finanzministerrat hat letztens unzureichende Beschlüsse gefasst. Aber der Bestand des Euro scheint zunächst einmal gesichert. Es ist allerdings sehr fraglich, ob der längerfristige Bestand gesichert ist, wenn sich die öffentlichen Haushalte etwa von Italien, Spanien und Frankreich, die von der Corona-Krise besonders stark betroffen sind, in einem Maße auf den Kapitalmärkten neu versschulden müssen, welches längerfristig die Rückzahlungsfähigkeit in Zweifel gezogen wird. Dafür sind eben die Corona-Bonds (siehe vorigen Kommentar) da, die, wenn sie von der Euroäpischen Zentralbank als Sicherheit angesehen werden, eine übermäßige Verschuldung verhindern. Solange aber der Euro Bestand hat, werden über kurz oder lang die Grenzen wieder geöffnet.

Was heißt „über kurz oder lang“? Selbst die optimistische Variante wird in Rechnung stellen müssen, dass es eher auf „lang“ hinausläuft – möglicherweise nach einer Neuverhandlung von Schengen und der Einführung digitaler Grenzkontrollen – die Gesundheits-App auf dem ‚Smartphone als neuer europäischer Reisepass. Eine Neuverhandlung des Schengen-Abkommens wurde schon nach den Reisebeschränkungen in den nationalen Alleingängen in der Flüchtlingskrise notwendig. Man sollte sich erinnern: sie sind nicht wieder aufgehoben worden, obwohl keine Flüchtlingsströme mehr zu beobachten waren. Auch: Die Überlastung der Nord-Süd-Transitstrecken hat zu Beschränkungen auf Österreichs Straßen geführt. Du auch die Maut-Problematik ist mit dem freien Reiseverkehr verbunden. Das alles könnte mit einer Revision des Schengen-Abkommens abgehandelt werden, belastet aber auch Neuverhandlungen. Also: Die Hoffnung auf ein schnelleres Tempo ist immer möglich, aber eine begründete Hoffnung gibt es wohl kaum, schon gar nicht für dieses Jahr. Das alles wird wohl ein zäher Kampf. Und mit einem status quo ante ist gar nicht zu rechnen.

Why I advocate Corona bonds (01/04/20)

Yes, the so-called corona-bonds are Eurobonds. They remind me of a discussion a couple of years ago, when Eurobonds were suggested to stabilize the euro area in the so-called euro crisis . The general idea behind Eurobonds then and corona bonds now is the constitution of public risk sharing institutions and instruments in the highly cross-linked European economy. Private capital markets have provided proof not being able to do that in an economic crisis. In the financial and euro crises 2008-2015, the private credit and capital market channels tended to break down when countries desperately need finance.

But Eurobonds were rejected by most of the EU countries and the EU commission. Instead, the EU commission preferred the strengthening of private risk sharing such as a capital markets union, which would make sense only when it would be complemented by public risk sharing in case of a severe crisis, when the private channels dry out. New EU institutions like the European Stability Mechanism (ESM) or the projected European Monetary Fund (EFM) are strictly designed according to the principle of conditional assistance. Conditional assistance means that each country has to be overcome a financial crisis by own adjustments.

‘Own adjustment’ means: wage and public expenditure cuts, mainly in the sphere of investment in the public infrastructure. Among others, such adjustment programs in the past were the reason for today’s overstress in the national health system in France, Spain, Italy, and the UK; and currently, similar fears prevail also in Germany. On the other hand, a short glance into a German hospital or a care home reveals that Germany benefitted from disinvestment and low wages in other EU countries. You will find many physicians and nursing staff from poorer EU member states, which are missed in their home country in the present corona disease.

When the Corona crisis will be over, public debt will be considerably higher in all EU member states, in rich as well as poorer ones. The decisive indicator is the ratio of public debt to the gross domestic product (GDP). Public debt will have increased, and GDP will have declined. However, the ratio will differ among the countries, because they are unequally hit by the corona virus. In countries with an already precarious health system, the power of the epidemic enforces more efforts to contain it and to prevent a long-lasting disruption in intra-EU economic relations. If these efforts will not be undertaken, every EU country will suffer from these disruptions, even countries with a better health infrastructure.

Therefore, it is absolutely necessary, to provide joint assistance to countries in a precarious situation. The best instruments are Eurobonds or, however they are called. Of course, this means that Germany (and others) assumes its responsibility for the stability of the European Union and of its own economy, which own success is built on the success of the EU including countries, which are now in a desperate situation.

But, the German government and also some others argue that the ESM should provide financial assistance to countries particularly hit by the disease. This is not a good alternative to joint bonds. ESM assistance is conditional and requires an adjustment program of receiving countries already now – in the middle of the crisis. The result is not a prophecy: The ESM approach will deepen the split between rich and poorer EU countries, and it will improve the position of Germany and other countries in the competition for resources in the health sector.

In my view, the EU will break apart when the disciplinary measures of the Growth and Stability Pact or the ESM will apply to these countries, which particularly will have to increase their public debt.

But, today, I am more optimistic than a couple of years ago with respect to the chances of appropriate new institutions, as some initiatives at the European level, including the Commission, indicate. Personally, I support with absolute conviction the initiative of European economists for European Renaissance Bonds, for which the program can be found here: https://europeanrenaissance.altervista.org/

Ungarn (30/03/2020)

Als jemand, der die Transformation der mittel- und osteuropäischen Länder und ihre spätere Aufnahme in die Europäische Union mit Sympathie beobachtet und wissenschaftlich begleitet hat, ist der Weg, den Ungarn nun eingeschlagen hat, besonders enttäuschend. Ab heute - dem 30 März 2020 – mit der Verabschiedung eines unbefristeten Ermächtigungsgesetzes kann Ungarn nicht einmal mehr als "illiberale Demokratie", sondern als Diktatur bezeichnet werden, und Victor Orbán als ungarischer Diktator. Die gegenwärtig in der Öffentlichkeit bevorzugte Bezeichnung "Autokrat" ist schon ein Euphemismus (über Unterschiede zwischen Autokratie und Diktatur siehe die entsprechende Seiten im Internet). Dieses Staatswesen kann nicht länger Mitglied der Europäischen Union sein. Ich bin deshalb der Meinung, dass die EU-Organe – Parlament, Kommission und Rat – die ungarische Regierung auffordern sollten, entweder diese Gesetze zurückzunehmen oder aber eine Volksabstimmung über den Verbleib in der Union durchzuführen.

Wohnungsnot: Enteignung vs. Kommunaler Wohnungsbau (8. 4. 2019)

In Berlin gibt es Bestrebungen für die Enteignung eines großen Wohnungskonzerns, und zwar aufgrund des Art. 15 des Grundgesetzes. Die Linke in Berlin, beteiligt am Senat, unterstützt dies. Es ist bekannt, dass Art. 14 und 15. GG eine entschädigungslose „Vergesellschaftung“ nicht zulassen, und dass im Falle einer Nichteinigung mit dem Eigentümer die Gerichte zu entscheiden hätten. Es scheint auf den ersten Blick durchaus sinnvoll, dass Instrument der Vergesellschaftung angesichts der Mietpreis- und Immobilienpreisexplosion nicht nur in Berlin, sondern in vielen großstädtischen Regionen in Erwägung zu ziehen. Eine Kommunalisierung kann die Mietpreise nicht nur in den entsprechenden Quartieren drücken, sondern hätte auch Ausstrahlwirkung auf den gesamten Wohnungsmarkt einer Kommune. Insofern war die massenhafte Privatisierung kommunaler Wohnungen in den vergangenen Jahren – insbesondere in finanziell unter Druck stehenden ostdeutschen Städten (Dresden) – ein fataler politischer Fehler.

Die ökonomische Bewertung einer Enteignung muss allerdings auch andere Effekte einbeziehen: Der Umfang der öffentlichen Gelder, die für eine Entschädigung aufzuwenden sind und die öffentlichen Haushalte belasten, ist nicht zu vernachlässigen, gerade im überschuldeten Berlin. Im Gespräch sind derzeit für das konkrete Berliner Projekt (Deutsche Wohnen) 30 Mrd. Euro Entschädigung, was als Verkehrswert der Immobilien angesehen wird. Die Hoffnung der Initiatoren des Volksbegehrens ist ein deutlich geringerer Betrag, der entweder zwischen Senat und Wohnungsunternehmen oder gerichtlich festgelegt werden kann. Nehmen wir also an, dass der Senat ca. 20 bis 30 Mrd. Euro für die Kommunalisierung wird aufwenden müssen (andere Berichte gehen bis zu 300 Mrd. Euro, umfassen aber möglicherweise den gesamten privaten Wohnungsbestand und nicht nur das derzeitige Projekt). Der Effekt wäre – wie bereits erwähnt – eine Dämpfung der Mietpreise. Aber: Die Kommunalisierung würde ja zunächst überhaupt keinen zusätzlichen Wohnraum schaffen, und gerade der ist ja notwendig in einer bevölkerungsmäßig expandierenden Stadt wie Berlin. Es wäre fatal, wenn die Kommunalpolitik sich auf den Standpunkt stellte, es seien genügend Wohnungen da, sie müssten nur anders bewirtschaftet werden. Alle unsere Erfahrungen zeigen, dass dies ein Irrweg wäre. Notwendig ist vielmehr der umfangreiche Bau neuer Wohnungen – auch das ist unbestritten. Zwar könnte man argumentieren, dass die Entschädigungssumme von den privaten Immobiliengesellschaften für den Neubau verwendet werden könnte, aber das ist ziemlich unsicher. Unter dem Eindruck möglicher Enteignungen könnte das Kapital ins Ausland gehen, es könnte der Schuldenreduzierung dienen oder überhaupt gänzlich anders investiert werden (z.B. in Wertpapiere). Alles ist möglich außer, dass die Stadtpolitik ein enteignetes Unternehmen nicht verpflichten kann, die Gelder wieder in Immobilien zu reinvestieren. Der finanziell klamme Berliner Senat wird ebenfalls nicht in der Lage sein, nach diesem finanziellen Kraftakt in neue Wohnungen zu investieren, falls er das jemals vorgehabt hätte. Bleibt also der alleinige Mietpreiseffekt, der aber zu wenig ist angesichts der Wohnungsnot. Die bessere Alternative zu einer Kommunalisierung könnte also die Verwendung dieser möglichen 20 bis 30 oder mehr Mrd. Euro für den eigenen kommunalen Wohnungsbau. Aber wie?

Was nicht nur Berlin braucht, ist ein völlig neues Wohnungsbaukonzept für die Bundesrepublik. Ehe ich dieses skizziere, eine (sehr) kurze grundsätzliche Anmerkung: Wohnungen sind Güter, die hergestellt und auf dem Markt angeboten und nachgefragt werden. Insofern ist der Preismechanismus zunächst einmal kein Problem. Das Problem ist ein anderes: Im Unterschied zu anderen Gütern, sind Wohnungen an das Bauland gebunden. Deswegen heißen sie auch „Immobilien“. Bauland als natürliche Ressource ist nicht beliebig vermehrbar. Wer Bauland erwirbt, braucht nur zu warten und – bei zunehmender Wohnungsnachfrage – nur auf steigende Preise zu spekulieren. Der Wertzuwachs bei Bauland kann weitaus höher ausfallen als die Einnahmen aus zukünftigen Mieten. Das gilt insbesondere für stadtnahe Flächen, die zwar von landwirtschaftlicher Nutzung in Bauland umgewidmet wurden, aber nicht bebaut werden – weil ihr Wert enorm steigt. Steigende Mietpreise signalisieren also ein fatales soziales Versagen des Prinzips selbst-regulierter Märkte. Aus meiner Sicht spricht dies grundsätzlich dafür, die nicht vermehrbare natürliche Ressource Land aus dem Marktmechanismus herauszunehmen. Kommunen sollten nicht weiter Flächen in Bauland umwidmen, ohne sich ein Vorkaufsrecht zu sichern. Ebenso sollten unbebaute Flächen in den Kommunen nicht an Private veräußert werden, allenfalls an Wohnbaugenossenschaften. Mit diesem Konzept wird der Weg für die Wiederbelebung des kommunalen und die Stärkung des genossenschaftlichen Wohnungsbaus geöffnet.

Ein Blick über die Grenzen nach Wien (Österreich) zeigt, dass dies möglich ist. Die Gemeinde Wien ist seit den 1920er Jahren im Besitz eines umfangreichen Bestands an Gemeindewohnungen ist und hat kürzlich beschlossen, angesichts der Bevölkerungszunahme erstmals seit vielen Jahren wieder neue Gemeindewohnungen zu errichten. Es fällt auf, dass die Mietpreis- und Immobilienentwicklung in Wien viel gedämpfter erfolgt als in großstädtischen Quartieren Deutschlands. Beispielsweise liegen die Preise für neuerstellte Wohnungen in der 330.000 Einwohnerstadt Bielefeld oberhalb der Preise in Wien, welches derzeit die am schnellsten wachsende europäische Stadtregion ist. Mit anderen Worten: Kommunalisierung könnte sich als kurzfristig als positiv, aber langfristig negativ erweisen. Darüber sollten die Initiatoren des Volksbegehrens, aber insbesondere ihre politischen Unterstützer einmal nachdenken.

(

10 % on U.S. cars, but only 2.5 % on EU cars – is this fair?

It is true, EU tariffs on car imports from the U.S. and – this is important – from all non-EU countries are far higher than U.S. import tariffs. This has been regulated in the Uruguay round 1994. I do not know why such a difference has been agreed 24 (or even more) years ago, but I think it is no important to know the reasons. I think that those tariffs had and have nothing to do with cost structures. Tariff structures on automotive imports are part of a whole package regulating tariffs on all traded items, not only cars. And here, there are trade items with higher U.S. tariffs than EU tariffs. This brings me to the crucial issue: the Uruguay round or WTO rules are international binding law. Therefore, a signature state cannot one-sidedly change it or its parts without severe consequences. One of these consequences is the application of the most-favored nation clause: If the EU would be pressed to reduce tariffs on U.S. cars, the same would apply to car imports from China, Russia etc. Though I believe it is possible to exempt 3.6 ltr cars from the U.S., because China seems not to produce such tanks. But this would not correct the EU trade balance with the U.S. very much. What I would like to say: Among civilized nations, a fair change is acceptable only through comprehensive negotiations. They were on their way: The EU offered the U.S. a transatlantic free trade agreement with far-going tariff reductions, which were almost completely negotiated. However, the new U.S. government was not interested, and therefore, the higher, and certainly not justified by cost structures, EU tariffs on car imports from the U.S. continue to apply – such as higher U.S. tariffs on imports of other items from the EU apply.

(22/03/2018)

Was ist falsch an den neuen EU-Kommissionsvorschlägen zur Reform der Union?

Am 6. Dezember dieses Jahres veröffentlichte die EU-Kommission einen Fahrplan zur „Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsreform“ (Pressemitteilung mit einem umfangreichen Anhang von Einzelaspekten: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-5005_en.htm). Die EU-Kommission schlägt unter anderem vor, einen neuen Vizepräsidentenposten zu schaffen, der gleichzeitig Sprecher der Eurogruppe wäre. Dies wäre der neue EU-Wirtschafts- und Finanzminister. Die neue Position würde auch nicht über einen eigenen Haushalt verfügen, der rechenschaftspflichtig gegenüber dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat wäre. Ein EU-Finanzminister wäre das nicht, denn ein solcher müsste über eigene Mittel verfügen können, um überhaupt politische Relevanz zu erreichen. Es wäre nur eine Verschiebung innerhalb der Brüsseler Bürokratie, vielleicht sogar ihre Ausweitung (zusätzlich zu den bisherigen Kommissaren). Ob mit diesem Manöver die euroskeptischen Bürger der Union befriedigt werden, ist zu bezweifeln. Was bliebe denn diesem Wirtschafts- und Finanzminister? Die Kommission sieht ihn in der Rolle eines Aufsichtsorgans, um die disziplinierende Funktion der Maastricht-Verträge zu stärken, die eigentlich kaum über die bestehenden Verträge hinaus gestärkt werden kann und – verglichen mit den bisherigen Kommissaren – nichts wirklich Neues einbringt. In gewisser Weise soll er wohl die verrufene Troika in Gesprächen mit Krisenländern ersetzen.

Verschiedene Kommentatoren wiesen bereits darauf hin, dass der Fahrplan der Kommission ausdrücklich als Gegenentwurf zu den Vorschlägen von Präsident Macron zu verstehen ist. Macron schlägt einen wirklichen Finanzminister für die Eurozone vor, versehen mit einem eigenen Budget. Und wenn man dem Chef der deutschen Sozialdemokratien, Martin Schulz, glaubt, gehen seine Überlegungen in die gleiche Richtung. Damit komme ich zu dem Schluß: Es handelt sich um eine politische, nicht mehr wirtschaftswissenschaftlich begründete Auseinandersetzung. Ob es zu einer vernünftigen Einigung kommt, hängt davon ab, ob es einen Pool gemeiner politischer Präferenzen gibt oder nicht. Gleichwohl möchte ich, nicht zuletzt aufgrund meiner eigenen eher wirtschaftswissenschaftlichen denn politologischen Kompetenzen einige Reflektionen zu dem Vorschlag machen.

Ich stimme mit all jenen überein, dass angesichts der Erfahrungen aus 10 Jahren Krise eine stabilisierende Funktion für die Gesamtwirtschaft und nicht nur für einzelne Länder in das EU-Rahmenwerk eingebaut werden sollte. Warum ich das aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht für notwendig halte, habe ich an anderer Stelle ausführlicher erläutert (Klick hier), und kann an dieser Stelle nur zusammenfassen.

Ich halte die Zusammenlegung der Funktionen des Eurogruppensprechers und des Haushaltskommissars für einen Fehler. Grundlage meiner Kritik ist die einseitige Ausrichtung des Kommissionsvorschlags am disziplinierenden Charakter der geltenden Maastricht-Verträge, soweit sie die Fiskalpolitik der Währungsunion betreffen. Wo doch sichtbar ist, dass eine Reform stabilisierende Elemente in das fiskalische System einbauen müsste. Was heißt „disziplinierend“ und was „stabilisierend“?

Disziplinierend: Die nationalen Fiskalpolitiken müssen den Bedingungen einer gemeinsamen Währung folgen. Erfahrungsgemäß stößt sie dabei an Grenzen, wenn der von ihr gesetzte Zinssatz am unteren Rand angelangt ist und die Offenmarktpolitik zu Blasenbildung auf den Finanzmärkten beiträgt. Dieser ihrer Verantwortung und den Auflagen der Kommission folgend, haben viele Länder in ihre Verfassungen Schulden- bzw. Defizitobergrenzen eingeführt. Das hat in einigen Mitgliedsländern zu einer prozyklischen Fiskalpolitik geführt, was eine Erholung ihrer Wirtschaft nach einem Schock erheblich behindert und die Erholung in der gesamten Union deutlich verzögert hat. Das Aufkommen europafeindlicher Stimmungen in den Bevölkerungen und die nachfolgende politische Instabilität in einigen Ländern hat zweifelsohne etwas damit zu tun.

Stabilisierend: Für die Stabilisierung der Eurozone ist die Europäische Zentralbank (EZB) verantwortlich. Ihre Politik wird jedoch unwirksam, wenn der von ihr gesetzte Zinssatz die Nullgrenze erreicht und ihre Offenmarktpolitik zur Blasenbildung auf den Wertpapiermärkten beiträgt.

Viele Kommentatoren einschließlich meiner Person, haben daher einen länderübergreifenden fiskalischen Risikoteilungsmechanismus gefordert, so wie er auch in anderen großen Währungsgebieten existiert. Ein Vorschlag mit großer Relevanz für die Eurozone ist die Einrichtung eines Stabilisierungsfonds, der die Investitionstätigkeit stabilisiert. Denn es war eine Erfahrung, dass unter dem Druck der fiskalpolitischen Regeln der Maastricht-Verträge und ihrer Umsetzung durch die Kommission in den Krisen seit 2009 das erste Opfer der nationalen Finanzminister die Ausgaben für Investitionen waren. Das hat die langfristigen Wachstumsaussichten ebenso geschädigt wie die kurzfristige Nachfrage.

Die Kommission zielt ziemlich deutlich auf den Vorrang der disziplinierenden Funktion ab. Sie neigt dazu zu sagen, wenn schon auch eine stabilisierende Funktion, dann bitte im Rahmen der bestehenden Verträge. Dies wird besonders deutlich im zweiten großen Vorschlag der Kommission, der Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds. In 70 Einzelpunkten beschreibt und begründet die Kommission ausführlich die disziplinierende Funktionsweise des zukünftigen Fonds. Eine Unterstützung für Länder soll nur unter Auflagen gewährt werden, nämlich nachdem mit der EU-Kommission eine Absichtserklärung über die Reduzierung eines Budgetdefizits bzw. des Schuldenstandes erreicht worden ist. Erst in den beiden letzten Punkten wird für die nicht absehbare Zukunft in Erwägung gezogen, „neue Finanzinstrumente“ zu entwickeln, die ohne Auflagen schnell und automatisch Hilfen mobilisieren, wenn auch eine Stabilisierung nötig würde.

Was also als Möglichkeit angesehen wird, ist eine Kombination von zwei Funktionen in einem Instrument (dem EWF). Ein Zusammenwerfen der disziplinierenden und der stabilisierenden Funktion der Fiskalpolitik in e i n e m Instrument muss zu einem Zielkonflikt führen, der die Effizienz dieses Instruments beschränkt. Mehr fiskalische Disziplin, die notwendig im Falle einzelner Länder sein kann, könnte unerwünschte Übertragungseffekte auf andere Länder, in denen sie nicht notwendig ist, haben, oder: Mehr Disziplin erfordert später mehr Stabilisierung. Deshalb plädiere ich dafür, die disziplinierende Funktion wie bisher auf die Fiskalpolitik der Mitgliedsländer zu lassen und der Kommission die Beaufsichtigung zu überlassen. Die stabilisierende Funktion sollte dagegen einer neuen europäischen Körperschaft außerhalb der Kommission übertragen werden, die Stabilisierungshilfen ohne Auflagen vergibt, und zwar am besten als Investitionshilfen.

Der BITCOIN-Wahnsinn oder: Milchmädchen, Achtung!

Liebe Milchmädchen, Ihr müsst jetzt ganz, ganz vorsichtig sein und aus Euren Träumen erwachen! Denn Ihr wisst ja, die Kanne, in der Ihr die Milch zum Markte tragt, kann zerbrechen und aller Gewinn ist perdu und damit auch die schönen Dinge, die Ihr kaufen wolltet. Ihr wisst ja, das heißt „Milchmädchenrechnung“. Kennt Ihr auch die „Milchmädchenhausse“, die im übertragenen Sinne dasselbe meint, nur im Falle des Aktienhandels selbstverschuldete Abzocke? Und damit bin ich beim Bitcoin-Wahnsinn. Der Preis für 1 Bitcoin (BC), diese virtuelle Währung, war 2017 von 1000 Euro auf 16.000 Euro gestiegen, und ich erhielt fast täglich unabwehrbare Aufforderungen, mich zu beteiligen. Nun, nach einem Crash in 2017 hat der Kurs Anfang 2021 noch höhere Regionen erreicht - der nächste Crash wird Euch, Mildmädchen, um eure Ersparnisse bringen. Also Vorsicht! Und ich will sofort erläutern warum: Noch 2017 nahmen die weltgrößen Derivatebörsen in Chicago (die CBOE und die CME) den Handel mit Terminverträgen (Futures) auf BCs aufnehmen, nachdem die US-Derivateaufsicht dies erlaubt hat. (Ein Future ist eine Wette zwischen Anbieter und Nachfrager auf den Preis einer Finanzanlage und soll dem Anbieter zur Sicherung seiner Preiserwartung dienen. Doch dazu später.)

Zunächst einmal ist es wichtig, einige einfache Grundtatbestände des BC zu kennen. Zunächst wissen wir ja, dass es sich um eine digitale, virtuelle „Währung“ oder auch Kryprtowährung handelt, mit der ihre Produzenten/Anbieter der Regulierung des Geschäftsbankensektors durch die Notenbanken entgehen und Aktivisten im Darknet den Rechtsstaat und die Landesgesetze (illiegale Waffen, Kinderpornos) umgehen wollen. Um solche Finanz- und anderen Geschäfte zu tätigen, muss man aber über BCs verfügen. Man kann sie kaufen, indem man einem Anbieter oder Produzenten echtes Geld zum aktuellen Preis überweist. Man, und das heißt tatsächlich: jeder, kann sie aber auch selbst „schürfen“. Man ist dann ein sog. Miner oder Teil eines Miner-Pools. Bitcoin werden geschürft, indem die Miner auf ihren Computern oder Computernetzwerken kryptographische (versteckte) Rätsel lösen. Das geht nur mit Großrechenanlagen oder entsprechend vernetzten Einzelcomputern und kostet sehr viel Energie. Deshalb sind einige Großrechenanlagen in Ländern mit billiger Energie platziert (Island). Man kann sie auch klauen, wie kürzlich in Slowenien, wo ein Hacker 2017 4700 Bitcoins gestohlen hat (damals 68 Mio. Dollar). Aber für Euch Milchmädchen kommt das Schürfen oder Klauen eher nicht in Frage, sondern das Kaufen.

Allerdings ist das Angebot von BCs tendenziell immer beschränkt, wie etwa das von Gold. Bitcoin-Spekulation hat sehr viel gemeinsam mit Goldspekulation, nur das Gold real ist und ein Bitcoin nicht. Ein Problem war das bisher noch nicht. Denn BC-Plattformen, wo man kaufen und verkaufen kann, waren dünn gesät. Es kann aber jetzt zu einem Problem werden, da BCs auf „normalen“ Terminbörsen gehandelt werden können und manche Großanleger dem Starttermin geradezu entgegenfieberten. Und tatsächlich: Anfang 2021 ist der BC-Kurs auf sagenhafte 38.000 Dollar gestiegen.


Um das besondere Problem der Spekulation mit der virtuellen Währung BC, welches erheblich höher ist als eine Spekulation in der Realanlage Gold zu erklären, sind einige technische Ausführungen zu Terminverträgen bzw. Futures notwendig, die wie ich hoffe, verständlich genug sind.

Angenommen, im Dezember 2017 beläuft sich der Preis, den man für 1 BC zahlen muss („Kassapreis“), auf Euro 15.000. Der „Terminpreis“, also der vom Markt für April 2018 festgelegte Preis beläuft sich dagegen auf Euro 15.500. Die Preisdifferenz ist die Prämie und erklärt sich hauptsächlich aus Verzinsung und anderen Nebenkosten. Wenn nun ein Investor glaubt, der Kassapreis wird bis April 2018 über den Terminpreis hinaus steigen, so wird er einen Terminvertrag für April kaufen. In diesem Vertrag verpflichtet sich der gegenwärtige Besitzer eines BC, diesen gegen eine Zahlung von Euro 15.500 an den Investor zu liefern. Wenn beide Seiten den Vertrag einhalten, wechseln im April 2018 Euro 15.500 und 1 BC den Besitzer. Wenn aber der Kassapreis höher steigt, so wie der Investor hofft, hält er im April einen BC mit einem aktuellen Marktpreis von mehr als Euro 15.500 und hat einen schönen Gewinn gemacht, falls er den BC verkauft. Der Verkäufer des BC hat einen Verlust gemacht, denn für die erhaltene Summe von Euro 15.500 kann er keinen neuen BC kaufen, dessen Kassapreis ja jetzt höher liegt. Also sehen wir hier alle Elemente einer Wette: Der Investor wettet auf einen Kassapreis oberhalb von Euro 15.500, der Verkäufer auf einen Preis unterhalb denn in diesem Falle hätte der Verkäufer einen Gewinn gemacht. Er hat Euro 15.500 erhalten und muss für einen neuen BC weniger ausgeben. Die Wahrscheinlichkeit, diese Wette zu gewinnen, ist sicherlich größer als im Lottogeschäft.

Um jetzt zu verstehen, wie die ganze Sache aus dem Ruder geraten kann, muss noch ein wichtiges Detail in diesen Vertragsabschluss eingebaut werden, nämlich die „gehebelte Spekulation“. Hier kommt der Broker bzw. Makler ins Spiel. Der Makler vermittelt den Handel zwischen zwei anonymen Wettpartnern auf Terminmärkten. Der Investor/Käufer muss einen Teil des Vertragspreises beim Makler hinterlegen („einschießen“) um der Terminbörse seine Bereitschaft zur Vertragserfüllung zu dokumentieren. Dieser Einschuss liegt gewöhnlich zwischen 5 % und 10 % des Vertragswertes, also in unserem Fall bei maximal Euro 1.550. Durch diesen eher geringen Betrag ergibt sich eine Hebelwirkung, die an der Terminbörse zu außergewöhnlichen Profiten oder auch führen kann, wenn der Investor bzw. BC-Käufer die Preiswette gewinnt bzw. verliert. Denn der Investor/Käufer kontrolliert mit seinen vorgestreckten nur Euro 1.550 („Garantiesumme“) einen Terminwert von Euro 15.500. Wenn er also tatsächlich einen freien Betrag in Höhe von Euro 15.000 im April 2018 zur Verfügung hat, so kann er zu diesem Zeitpunkt nicht nur 1 BC kaufen, sondern (15.000/1.550) fast 10 BCs. Das nennt man „gehebelte Spekulation“, die nur möglich wird, wenn eine Anlage an der Terminbörse gehandelt wird. Nehmen wir an, der Investor oder eines von Euch Milchmädchen hat richtig spekuliert, und der Kassapreis ist im April 2018 auf Euro 20.000 gestiegen, so zahlt er für 10 BC lediglich Euro 155.000 (den vereinbarten Terminpreis), kann diese aber für Euro 200.000 wieder verkaufen. Rendite: Euro 45.000 bezogen auf ein Anfangskapital von Euro 15.000 = 300 %. Das ist doch mal ein Anreiz für euch Milchmädchen, oder? Das ist die Stunde der Milchmädchenhausse, in der uninformierte Last-Minute-Anleger auf einen Zug springen, der demnächst gegen die Wand kracht. Denn die informierten Anleger haben den Zug schon längst verlassen, Gewinne mitgenommen. Und an irgendeinem Punkt werden es so viele sein und viele, viele von Euch werden viel Geld verlieren.

Das letzte Kapitel der Geschichte erzählt, warum das auch für die Realwirtschaft gefährlich wird. Solange der Bitcoin nur im Internet gehandelt wurde, hat er aus der realen Wirtschaft nur Strom, Rechenkapazitäten und geringe echte Währungsbeträge abgezogen. Wenn aber die Profis mit den Praktiken der gehebelten Spekulation dazu stoßen, u.a. ihr Milchmädchen, müssen beträchtliche Finanzmittel für BC-Investitionen aus anderen Verwendungen abgezogen werden (die Bedeutung des Energieverbrauchs und der Rechenkapazitäten sinkt dagegen). Ihr werdet also Euro geringen, kaum Zinsen tragenden Sparbücher plündern. Das steigert die Zinsen auf den anderen Finanzmärkten und senkt die Werte anderer Anlagen, z.B. Aktien, was bereits negative Auswirkungen auf die Kreditvergabe der Banken an den Unternehmenssektor haben kann. Wenn aber die Bitcoin-Blase platzt, geraten die Anleger, vor allem aber Ihr, die doch so angestrebt sparen, in eine finanzielle Schieflage. Ihr müsstet Kapital nachschießen, weil der Kassapreis für 1 BC weit unter den Terminpreis gefallen ist. Die Folge sind Pleiten im Finanzsektor mit entsprechenden Ansteckungseffekten im Unternehmenssektor. Die letztendlich Leidtragenden werden die Milchmädchen sein.

(9th December 2017)

Fortschritte in der Europapolitik? Mit wem?

Emanuelle Macron kann beruhigt sein: Die FDP wird nicht Teil der deutschen Regierung werden und damit nicht seine europapolitischen Initiativen und Pläne verhindern. In den sog. Sondierungsgesprächen ist ja deutlich geworden, dass die FDP-Führung europapolitisch einen nationalen Kurs verfolgt. War da nicht etwas unter Röslers Parteiführung und Lindners Generalsekretariat? War da nicht eine Umfrage in der FDP über die Europa-Politik? Zur Klarheit über die Bremserfunktion der FDP: In der Süddeutschen Zeitung vom 24.11.2017 finden wir einen Auszug aus dem Protokoll der Sondierungsgespräche (click here: http://www.sueddeutsche.de/politik/jamaika-wie-die-fdp-die-verhandlungen-zur-europapolitik-platzen-liess-1.3763062

Ich habe auf dieser Website sowie in verschiedenen Aufsätzen die Position vertreten und empirisch zu untermauern versucht, dass ein Stabilisierungsmechanismus – in welcher organisatorischen Form auch immer - für die Eurozone notwendig ist, dass die Frage der sog. asymmetrischen Schocks unerheblich ist und dass es bei einem Stabilisierungsmechanismus keine automatischen Geldtransfers geben muss, sondern Zuschüsse im Falle einer Notlage. Das ist kein Automatismus. Eine neue Regierung, die diese Position vertritt wird sich leichter tun, die deutsch-französische Achse für die Reform der Union zu mobilisieren. Meine Sorge sind die Sozialdemokraten. Sie waren in der Europapolitik unsichere Kantonisten, und eine große Koalition wird vielleicht keine Fortschritte hervorbringen. Frau Merkel ist weswentlich offener, und auch die Grünen sind entschiedene Pro-Europäer. Also hoffe ich für den Fortschritt in Europa auf eine Regierung, die die Grünen einschließt.

(26th November 2017)

TTIP

Zehntausende haben am Samstag, den 17. September in Deutschland gegen TTIP demonstriert. Wissen sie, warum sie demonstriert haben? Natürlich nicht, denn niemand kennt die Regelungen, die auf tausenden von Seiten angeführt sind. Wie kann man also eine Meinung zu etwas haben, was man nicht kennt? Da man aber das TTIP ablehnt, lehnt man ja nicht einzelne Regelungen und Ergebnisse ab – egal, ob die vorteilhaft oder nicht sind -, sondern das Prinzip Freihandel und das Prinzip Verhandlung. Man will also überhaupt nicht verhandeln – egal, was dabei herauskommt.

Demgegenüber unterstütze ich das Prinzip des Verhandelns. Ich sage aber, dass auch ich den bisherigen Entwurf nicht gelesen habe. Erstens habe ich dazu keinen Zugang, sondern nur das Europäische Parlament, und ich meine schon, dass die Abgeordneten ihren Pflichten nachkommen sollten, um sich zu informieren und dann zu entscheiden. Soviel Vertrauen möchte ich schon haben, sonst könnte ich gleich gegen den Parlamentarismus im Allgemeinen demonstrieren. Zweitens bin ich nicht sicher, dass ich den Entwurf selbst dann lesen würde, wenn ich ihn vor mir liegen hätte – einfach zu lang und wohl auch unverständlich, nicht mein Metier, so wie auch das der Allermeisten, die gestern demonstriert haben. Also auch hier: liebe Abgeordnete, kommt Eurer Pflicht nach. Ihr verfügt ja über bezahlte Berater.

jetzt mein Argument, warum ich für den Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens bin: weil es – wenn es richtig gestaltet wird – endlich einen europäischen Einfluss bei der weiteren Gestaltung des Welthandels erlaubt. Eine unbegrenzte Globalisierung, so wie sie bisher erfolgte, führt uns in Krisen und zu einer noch ungerechteren Verteilung des Wohlstands – sowohl zwischen Gruppen von Nationen wie auch zwischen Bevölkerungsgruppen innerhalb der Nationen. TTIP eröffnet Chancen, dies ein wenig zu korrigieren. Wenn wir uns aus diesen Verhandlungen zurückziehen, nicht, weil uns die Ergebnisse nicht gefallen, geschweige sie kennen, sondern weil wir sie grundsätzlich ablehnen, was wäre dann die Alternative? Nun, die nächsten Freihandelsrunden würden im Rahmen der WTO (World Trade Organisation) erfolgen, und zwar den Interessen der USA und des Pazifikraums (China) folgend. Dies wäre dann aber kein TTIP mehr, sondern ein US-amerikanisch-chinesisches Abkommen, welches die Regeln des Welthandels bestimmt – Deutschland, ja ganz Europa hätte zu folgen. Können wir das wirklich wollen? Ist es nicht so, dass die EU mit einem Markt von 500 Mio. Einwohnern eine stärkere Verhandlungsposition hat als die USA mit 319 Mio? Und ist es nicht so, dass zukünftige Verhandlungen, falls TTIP scheitert, die EU mit dem chinesisch-amerikanischen Markgiganten führte müsste?

Deshalb: Ich bin dafür, dass Verhandlungen geführt werden, und zwar mit dem Willen zu einem Abschluss. Verhandlungen bedeuten immer ein Geben und Nehmen – niemand kann seine Position zu hundert Prozent durchsetzen. Und wer gegen TTIP demonstriert, weil Chlorhähnchen auf dem europäischen Markt zugelassen würden, ist ein Einfaltspinsel. Chlorhähnchen sind nicht schlechter als ein beliebiges Hähnchen aus niedersächsischen Mastanlagen – ich würde das eine nicht essen wie ich das andere nicht esse.

**************

13th September 2016

Die Sozialdemokratie besitzt keinen Plan für Europa

Diese bedauerliche Schlussfolgerung muss man nach acht Jahren Finanz- und Eurokrise ziehen. Nicht, dass führende Sozialdemokraten nicht über Europa reden. Aber das was sie sagen, betrifft die entscheidenden Probleme nur am Rande. Nun hat sich der österreichische Bundeskanzler Kern in der FAZ vom Montag (12. September 2016) auf einer ganzen Blattseite in einer Weise zur EU geäußert die in Österreich (Die Presse vom 13. September) als „konsequent sozialdemokratisches Programm“ bewertet werden. Das ist der Tenor seiner Äußerungen: Die Sparprogramme müssten beendet werden, und ein öffentliches Investitionsprogramm müsse her, mit einem Umfang, welcher um ein Vielfaches höher sei als bisher angenommen. Das ist ja nichts Neues, dass einige sozialdemokratische Führer in Europa ab und zu dieses Pferd reiten. Ähnlich auch die südeuropäischen Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen mit dem französischen Präsidenten. Alle diese Programme sind richtig, aber nicht per se europäisch. Was Christian Kern gefordert hat, könnte er – sofern es sein Koalitionspartner in Wien zulässt – auch in Österreich durchführen – oder die SPD in Deutschland, wenn sie denn kämpferisch genug wäre, sich gegen Schäuble durchzusetzen. Die sozialdemokratischen Parteien ignorieren die Frage, wie so ein europäisches Programm aussehen und welche europäische Institution es ausführen müsste. Damit kommen wir zur entscheidenden Frage nach der seit Jahren geforderten Reform der Institutionen in der EU. Die sozialdemokratischen Parteien haben diese Debatte ignoriert. Und sie ignorieren insbesondere damit die Bereitstellung von europäischen Instrumenten für eine von ihnen zu Recht geforderte expansive Politik auch gegen den Widerstand einiger Nationalstaaten. Diese Reformdebatte haben sie bisher einigen konservativen Politikern überlassen, wie Wolfgang Schäuble, der irgendwann einmal – als es noch Mode war – von einem europäischen Finanzministerium sprach. Das hat er mittlerweile vergessen. In der Tat sah es noch bis vor kurzem aus, als wenn dieses Thema tot wäre. Aber kürzlich hat der immerhin als Sozialdemokratat bezeichnete Regierungschef der Slowakei, Fico, diesen Vorschlag auf die Agenda seines EU-Vorsitzes (bis 31.12.2016) lanciert. Seine Motive sind nicht klar, denn so aus dem hohlen Bauch heraus kann man vieles ohne Substanz vorschlagen. Aber die Forderung ist vernünftig und für einen Sozialdemokratien zur Zeit überraschend. Die Substanz beruht in der weltweiten Erfahrung, dass eine Währungsunion ohne zentralen fiskalischen Counterpart nicht überleben könne. Von der Erfahrung zur Erkenntnis ist es nur ein kleiner wissenschaftlicher Schritt, und zur politischen Gestaltung ein weiterer. Unter den Ökonomen ist der Streit über die richtige Erkenntnis unentschieden. Die Mehrheit steht auf dem Standpunkt, so eine zentrale Regierung brauche man nicht in der EU. Ausreichend sei eine Vervielfachung von Koordination und Regelbindung – dann könne auch so eine Währungsunion bestehen. Das ist leider der wirtschaftswissenschaftliche Legitimationsrahmen für Politik, und aus diesem schöpfen auch die sozialdemokratischen Parteien. In welche Schwierigkeiten so eine Konstruktion gerät, sehen wir gegenwärtig: Die Geldpolitik der Zentralbank ist schon seit Monaten (mindestens) an ihre Grenze geraten. In dieser Zeit versinkt Deutschland planlos im Boom und Griechenland planlos im Chaos. Wenn man, wie der österreichische Bundeskanzler, dafür plädiert, die Rolle des Staates in der Wirtschaft wieder zu stärken, so wäre diese Forderung inkonsequent, wenn sie nicht nur für den österreichischen Staat, sondern auch auf europäischer Ebene gälte. Weil aber die Sozialdemokratien inkonsequent sind, besitzen sie keine Strategie für ein Überleben Europas.

*******************

4th August 2016

Warum Hochfrequenzhandel schädlich ist

Anlass für diesen Kommentar ist ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. Juli 2016 (S. 37), in dem die Risiken des Hochfrequenzhandels (HFH) auf Plattformen und Börsen beschrieben werden. Dort wird die Frage gestellt, ob man nicht den Hochfrequenzhandel mit seinen eigenen Waffen schlagen sollte (oder den Teufel mit Beelzebub austreiben). Dagegen wird Martin Hellmich von der Frankfurter School of Economics mit den Worten zitiert, er könne nichts Problematisches am HFH finden. Nun, zuerst etwas Technisches: HFH beruht darauf, dass Händler sich mit Hilfe von superschnellen Computern minimalste Informationsvorsprünge verschaffen können. Aktienpakete, die ein Marktteilnehmer über seinen Händler kaufen möchte, können häufig nicht von einer Handelsplattform (eine Handelsplattform ist ein Bindeglied zwischen Händler und Finanzmärkten, z.B. Börsen) abgewickelt werden, sondern werden an eine zweite Plattform weitergeleitet. „Hochfrequenzhändler“, die von der Kauforder aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zum Handelsplatz erfahren, können etwa Aktien auf der zweiten Plattform erwerben, bevor der Auftrag des Marktteilnehmers dort eingetroffen ist. Der Hochfrequenzhändler kauft die Aktien auf der zweiten Plattform zu dem dort geltenden Kurs und verkauft ihn an den Marktteilnehmer zu einem minimal höheren Kurs, als der erwartet hat. Die Differenz ist sein Gewinn. Der gesamte Transaktionsprozess spielt sich dank der schnellen Computer in Mikrosekunden ab. Das geht auch in die andere Richtung: Ein Marktteilnehmer will ein größeres Aktienpaket verkaufen; die gesamte Transaktion findet auf zwei Plattformen statt. Der Hochfrequenzhändler erhält die Information von der ersten Plattform, und ehe die zweite Plattform involviert ist, hat er dort seine Aktien zum gelten Kurs verkauft und kauft dort zu einem minimal niedrigeren Kurs, als der Marktteilnehmer sich erhofft hat. Wiederum kann er die Differenz als Gewinn einstreichen. Es liegt nun auf der Hand, dass es auf diese Weise zu Kursausschlägen nach oben oder unten kommt. Im Extremfall können in einer labilen Börsenlage bestehende Tendenzen zu einem allgemeinen Kursverfall verstärkt werden. Fiktive Gewinne aus einer individuellen Transaktion können sich dann in allgemeine Verluste verwandeln, den Hochfrequenzhändler eingeschlossen. Aus diesem Grunde verstärkt der Hochfrequenzhandel mit superschnellen und –teuren Computern die Volatilität auf den Aktienmärkten. Martin Hellmich argumentiert nun, Informationsdifferenzen zwischen den Marktteilnehmern seien die Grundvoraussetzung für den Handel mit Wertpapieren. Es gäbe für Marktakteure wenig Anreiz zu handeln, würden sie nicht annehmen, einen Informationsvorsprung zu besitzen. Wirklich nicht? Kurse reflektieren doch Erwartungen über die Zukunft und nicht Wissen über aktuelle Ereignisse - und die Zukunft kann niemand wissen, auch kein schneller Computer. Außerdem: Es ist ein Unterschied, einen Informationsvorsprung tatsächlich zu besitzen oder an ihn zu glauben. Insiderhändler vermuten nicht, ihn zu besitzen, sondern haben ihn wirklich. Deshalb ist Insiderhandel unter Strafe gestellt. Hochfrequenzhändler vermuten nicht, den Informationsvorsprung zu besitzen, sie haben ihn dank der superschnellen Computer, die sich nicht alle Marktteilnehmer leisten können. Insofern handelt es sich um einen unfairen Wettvorteil. Deshalb sollte auch der Hochfrequenzhandel einer strengen Regulierung, möglicherweise sogar einem Verbot unterliegen.

1st of March 2016:

Zur Abschaffung des Bargelds

Seit einigen Jahren schlagen einige international bekannte Ökonomen – z. B. Buiter, Rogoff, Bofinger – vor, Bargeld, also Banknoten und Münzgeld, abzuschaffen.Der Hintergrund ist die ziemliche Ineffektivität der Zinspolitik der großen Zentralbanken an der Null-Prozent-Grenze (zero bound) zur Stützung der Wirtschaft. Das gilt derzeit vielleicht noch mehr für die Eurozone als für die U. S. Das Argument lautet, ohne Bargeld würden die Wirtschaftssubjekte gezwungen, entweder mit Kreditkarte oder mit Banküberweisung zu zahlen. Alle Transaktionen würden unbar erfolgen. Dann könnten die Wirtschaftssubjekte negative Zinsen nicht mehr umgehen, indem sie ihre Konten räumen und privat, etwa unter der Matratze, halten. Wird das Bargeld abgeschafft, fiele die Null-Zins-Barriere für die Geldpolitik. Dese Diskussion hat nun auch die Europäische Währungsunion erreicht, so seit Jahren die Geldpolitik an der Nullzinsgrenze verharrt und die Wirtschaft trotzdem nicht anspringt. Auch die Forderung, die Verwendung von Bargeld auf Banknoten unter einem Wert von 500 Euro zu beschränken, ist in diesem Kontext zu sehen, wenn auch nicht ausschließlich.

Das theoretische Modell, das hinter dieser Argumentation steht, ist das IS-LM-Modell wie in der nachfolgenden Abbildung:

Wir finden zwei Kurven: Die erste – schwarze - Kurve ist die LM-Kurve, die die Nachfrage nach Geld darstellt – sie wird in den Textbüchern gewöhnlich als Liquiditätspräferenzkurve bezeichnet (L für Liquidity und M für Money). Wenn das Angebot an Zentralbankgeld (= Bargeld) gegeben ist, nimmt aufgrund eines gestiegenen Volkseinkommens die Geldnachfrage (= Liquiditätspräferenz) zu. Dann kann das Geldmarktgleichgewicht nur gesichert werden, wenn auch der Zinssatz steigt. Deshalb besitzt die LM-Kurve eine positive Steigung. Hier bleibt für die spätere Diskussion festzuhalten, dass die Liquiditätspräferenz aus dem Transaktionsmotiv der Wirtschaftssubjekte abgeleitet ist, was nicht ganz im Sinne des Erfinders (J. M Keynes) ist.

Die rote Kurve ist die IS-Kurve, die die Gütergleichgewichte bei unterschiedlichen Zinssätzen und Volkseinkommensniveaus darstellt. Sie ist negativ geneigt, weil die Investitionen mit steigendem Zinssatz ab- und die Ersparnisse zunehmen. Sinkende Investitionen führen zu einem Rückgang des Volkseinkommens, so dass auch weniger für die Ersparnis übrig bleibt. Hier ist darauf hinzuweisen, dass das Gleichgewicht zwischen Sparen und Investitionen eine Funktion des Zinssatzes ist, während er auf dem Geldmarkt eine Funktion des Gleichgewichts zwischen Geldangebot und Geldnachfrage ist. Im IS-LM-Modell finden wir also zwei Zinstheorien, was an sich schon problematisch ist, aber hier nicht weiter diskutiert wird.

Güter- und geldwirtschaftliches Gleichgewicht treffen sich inflationsneutral in Punkt A. Punkt B steht für eine Ungleichgewichtssituation. Ersparnis und Investitionen sind zwar ausgeglichen, aber die Geldnachfrage ist zu hoch; die Wirtschaftssubjekte halten eine zu hohe Transaktionskasse auf ihren Bankkonten oder im Geldbeutel. Die Geldpolitik kann ihr Inflationsziel nicht einhalten; die Inflation nimmt ab. Wenn die Zentralbank deshalb den Zinssatz senkt, so beabsichtigt sie, die Geldhaltung zu bestrafen, die Sparneigung zu senken und damit die Kauflaune bzw. die Investitionsnachfrage anzuregen.

Nun stellen wir uns eine Situation vor, wie sie die Zentralbank in der Währungsunion vorfindet: hohe Arbeitslosigkeit, stagnierendes Volkseinkommen und Null Zinsen, d.h. weiter kann der Zinssatz nicht gesenkt werden, weil sonst die Bankeinlagen aufgelöst würden. Diese Lage ist mit den Mitteln des Modells links unten im grün-markierten Bereich abgebildet. Beim Punkt C handelt es sich um ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht mit möglicherweise drohender Deflation. Das Modell sagt: Negativzinsen!, die aber eben nicht wirken, solange es Bargeld gibt, das von Konten abgehoben werden kann.

Aber diese Schlussfolgerung ist falsch. Das Modell reduziert das Halten von Geld ausschließlich auf das Transaktionsmotiv und übersieht das spekulative Motiv, mit welchem der Erfinder der Liquiditätspräferenztheorie des Zinssatzes (J. M. Keynes) ursprünglich die Zinsabhängigkeit und nicht die Einkommensabhängigkeit der Geldnachfrage erklärte. Richtig verstanden besagt die Liquiditätspräferenz, dass die Wirtschaftssubjekte bei langfristiger Unsicherheit lieber Geld als Sichteinlage oder bar halten als in illiquide Finanzanlagen oder produktives Kapital, denn sie wollen ihre eigene Zahlungsfähigkeit sicherstellen. Wenn die Vermögenswerte steigen, fällt die Liquiditätspräferenz, und die Zinsen als Risikoprämie für Finanzanlagen sinken. Denn: Jede Änderung des Zinssatzes ist umgekehrt proportional zu einer Änderung der Preise fvon Wertpapieren (Aktien, Anleihen, Hypothekenkredite usw.). Das heißt, Geldhalter besitzen immer zwei Optionen: Geld auf Konten zu halten oder Geld in Finanzwerte umzuwandeln. Mit Käufen von Konsum- oder Investitionsgütern hat das nichts zu tun.

Schafft man das Bargeld ab, so bleibt für einen Geldvermögensbesitzer bei einem negativen Zins noch immer die Alternative, aus den Geldbeständen auszusteigen und in Wertpapiere umzusteigen. Sinkt die Risikoprämie ins Negative, winken enorme Gewinne aus der Spekulation auf steigende Vermögenspreise. Diese Erfahrung konnten wir in der Niedrigzinsphase vor Ausbruch der globalen Finanzkrise machen. Wir können auch beobachten, wie die auf niedrige Zinsen abzielende Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ähnliche Ergebnisse hervorbringt: Die Nachfrage nach Investitionsgütern wird kaum angekurbelt, aber dafür zeichnet sich ein neuer Boom bei Wertpapieren (deutsche Staatsanleihen, Hypothekverbriefungen) ab. Die paradoxe Erkenntnis aus der in der Abbildung links unten dargestellten Ausnahmesituation ist, dass eher eine Erhöhung der Zinsen in Richtung eines Vollbeschäftigungsgleichgewichts führen würde als ihre weitere Senkung. Aber dies ist eine andere Geschichte. Hier geht es darum, das Bargeld abzuschaffen. Dieser Weg führt in eine Welt des ständigen Aufbaus und Platzens von Spekulationsblasen auf den Finanzmärkten, also eine Welt noch intensiverer und häufigerer Finanzkrisen. Es sei denn, man schaffte mit dem Bargeld auch gleich die Spekulation auf den Finanzmärkten ab.

****************

Posted 26th Februar 2016:

Trennt Euch!

Sonderbünde!

Die Europäische Union erweckt derzeit den Eindruck einer zerrütteten Großfamilie: Botschafter werden zurückgezogen; Ministerbesuche sind nicht erwünscht. Regierungen gründen eigene Bünde (Österreich + Westbalkan; Visegrad-Länder und Mazedonien). Es gibt nur noch wenige Regierungen, die versuchen, eine Lösung in einem irgendwie vermutbaren Gesamtinteresse zu finden; viele sind im Prinzip bereits dabei, aus dem gemeinsamen Haus auszuziehen – vor allem aus dem Südostflügel -, andere sind noch nicht soweit, werden aber bald darüber nachdenken. Die Zerrüttung des Zusammenlebens im gemeinsamen Haus Europa begann ganz in der Staatsschuldenkrise, die die institutionellen Fehlfunktionen der Union offenlegten. Deren Lösung aber auch so schwer war, weil einige EU-Länder – Slowakei, Ungarn, Finnland - nicht bereit waren, an einer gemeinsamen finanziellen Unterstützung für Griechenland, Portugal, Irland und Spanien teilzunehmen. Was herauskam war ein Überleben der Eurozone für den Tag, aber nicht darüber hinaus.

Putins Projekt: Weg mit Merkel und der EU!

Die Zerrüttung gewann in der Ukraine-Krise Dynamik, als einige Regierungen nur mit Zähneknirschen Sanktionen der EU zustimmten, aber hinter dem Rücken aller anderen Herrn Putin hofierten und ihm in seinen Tiraden gegen den liberalen dekadenten Westen recht gaben. Nun erweist es sich, dass Putins Hauptprojekt – eine Schwächung der EU zur Förderung seiner eigenen geopolitischen Interessen ("Westeuropa soll russisches Einflussgebiet werden")* – immer weiter vorankommt. Die Zerrüttung der gemeinsamen Werte und Interessen kulminiert nun in der Flüchtlingskrise. Das Bündnis der Länder, die noch (!) ein gemeinsames Interesse zeigen, schrumpft auf einen harten Kern um Deutschland und die Benelux-Länder, vielleicht noch Italien und Spanien; Frankreich ist bereits ein Wackelkandidat.

Man kann Angela Merkel ob ihrer politischen Grundhaltungen insbesondere in der Griechenland-Krise und bei der Durchsetzung des Fiskalpakts kritisieren, aber sie hält in der Flüchtlingsfrage eine gesamteuropäische Linie, und sie ist als einzige standhafter Widerpart zu Russland - und das ist, was wir brauchen. Wie kurzsichtig, opportunistisch, ja geradezu feige die Politik einiger Länder ist, zeigt das Beispiel Österreich, dessen opportunistische Regierung zunächst die "deutsche Willkommenskultur" demonstriert hat, und nun mit ihrer Westbalkan-Initiative zur Schließung der eigenen und anderer Grenzen ein gemeinsames europäisches Vorgehen in der Flüchtlingsfrage unterläuft. Feige deshalb, weil Österreich seit Jahren Sturmgewehre und seit neuestem Granaten in die Region liefert, aber die Konsequenzen - Flüchtlingsströme - nicht weiter tragen möchte. Österreich ist wie auch andere Balkanländer einschließlich Ungarn, aber auch die Slowakei, ja auch nicht an einem Türkei-Deal interessiert – nicht zuletzt aus nostalgischen Gründen: denn die einstige K.K.-Macht Österreich hat den Westbalkan immer als Puffer gegen das osmanische Reich gesehen, und einige seiner Außenpolitiker träumen von einer größeren Rolle ihres kleinen Landes im Donauraum. Wenn sich jedoch an der griechisch-mazedonischen Grenze erst einmal 200.000 Flüchtlinge gestaut haben, eine menschliche Katastrophe sich anbahnt und Aufstände ausbrechen, dann wird kein Grenzzaun halten, und die Politik der nationalen Abschottung wird aufgegeben werden müssen; alle Träume über die Vergangenheit werden sich in Alpträume verwandeln. Diese Last zu tragen, d.h. solidarisch zu sein mit den Ländern der Westbalkanroute, hat Deutschland bisher übernommen, und es bleibt zu hoffen, die deutsche Regierung zeigt Rückgrat genug, um eine gesamteuropäische Lösung zu finden.

Trennt Euch!

Wenn nicht, dann würde angesichts der sich mittlerweile eingestellten Verhältnisse das empfehlen, was auch ein Eheberater einer zerrütteten Ehe empfiehlt: Trennt Euch! In einer Union der Unwilligen sind grundlegende Reformen der Institutionen, wie sie eigentlich seit Ausbruch der globalen Finanzkrise notwendig geworden sind, nicht möglich. Was nötig ist, ist ein Neustart nicht nur der Währungsunion, sondern der gesamten Europäischen Union und ihrer Politiken mit einem Konzept, dem aller Voraussicht nach eben nicht alle jetzigen EU-Länder zustimmen werden. Ihnen bleibt die Möglichkeit des Austritts mit vielleicht dem Status einer privilegierten Partnerschaft. Ich werde versuchen, in den nächsten Tagen an dieser Stelle die wirtschaftspolitischen Eckpunkte eines Konzepts für den Neustart der Union/Währungsunion zu präsentieren.

* Folgende Anekdote hörte ich vor einigen Jahren von einem guten, leider schon verstorbenen Freund: Besucht eine Delegation Russland und wird von einem hohen General an die Westgrenze geführt, die durch einen Fluss markiert wird. Sagt ein Delegationsmitglied: Das ist nun einmal eine sichere geographische Grenze für Russland. Seufzt der General und antwortet: Ja, nur leider steht auf dem anderen Ufer kein russischer General......

****************

Brexit! Wieso nicht?

12. Februar 2016 Ein Brexit wird von der Politik, der Presse und von vielen Ökonomen als ökonomische und dann als politische Katastrophe empfunden. Mich überzeugen die wirtschaftlichen Argumente nicht.

Da wäre zunächst das Argument, dass uns Kontinentaleuropäern ein ganz wichtiger Absatzmarkt verlorenginge. Aber woher denn? Großbritannien hat in den vergangenen 50 Jahren alles getan, um seine Industrie zu erledigen und dafür die Finanzindustrie aufzubauen. Deswegen kennen wir doch kaum britische Industrieprodukte, für die man zudem noch Adapter für unser Stromnetz benötigt, dafür aber jede Menge von Finanzinnovationen - den Mini, den Jaguar, den Rolls Royce mal ausgenommen. Wenn Großbritannien die EU verlässt, werden die Einwohner und Unternehmen der Insel kaum weniger deutsche oder andere Produkte kaufen, ganz einfach, weil ihr Land diese nicht produziert. Umgekehrt wäre Kontinentaleuropa von den störenden Einflüssen der Londoner City auf unsere Finanzmärkte befreit; nicht London, sondern Frankfurt würde zum führenden Finanzmarkt Europas aufsteigen – eine Rolle, die auch der Bedeutung der Eurozone gleichkäme. Und noch ein Argument: Ein Ausscheiden Großbritanniens ermöglichte endlich die notwendigen Finanzmarktreformen in der Union, einschließlich Bankenunion, gegen die die britischen Vertreter in EU-Rat und EU-Kommission ständig ihr Veto eingelegt haben.

Das zweite Argument lautet, dass ein Austritt Großbritanniens die bisherige Logik der europäischen Einigung umdreht. Bisher habe diese Logik auf Erweiterung beruht. Ein Austritt wäre ein Signal für den Zerfall – die Union käme quasi auf ein abschüssiges Gleis. Ein Brexit würde Spekulationen über weitere Austritte nach sich ziehen. Ich glaube nicht, dass eine derartige Logik außerhalb der Einbildung einiger Theoretiker existiert. Eine Verkleinerung muss überhaupt nicht zum Zerfall führen, sondern böte die Chance zu jener Vertiefung, die im Grunde längst überfällig, aber mit 28 Mitgliedsländern eben nicht zu erreichen ist. Ich erinnere an die alte Diskussion zwischen Vertiefung und Erweiterung und an die spätere Überzeugung, man könne beides haben – letzteres haben die Krisenkaskaden widerlegt.

Viel schlimmer wäre ein Streben nach unbedingter Aufrechterhaltung des derzeitigen Bestands. Wenn Großbritannien nicht austritt, dann nur, weil es für sich günstige Bedingungen für seinen weiteren Verbleib durchgesetzt hat – eine Politik, die das Land seit Beginn seiner Mitgliedschaft verfolgt hat. Die Furcht vor einem schleichenden Verfall der Union durch Austritt würde das Tor für Erpressung weit öffnen. Da kann man viel sicherer sein als bei Spekulationen über wirtschaftliche Folgen.

Und dann gibt es da noch das politische Argument, wonach die EU ohne Großbritannien international weniger politisches Gewicht besitzen würde, denn Großbritannien sei Vetomacht im UN-Sicherheitsrat und Atommacht. Betrachtet man aber das Verhalten Großbritanniens im Sicherheitsrat, so ist die Haltung der EU mit Großbritannien nicht mehr abgestimmt als mit den USA. Großbritannien verfolgt seine eigene Sicherheits- und Außenpolitik und wird sich von der EU nicht dreinreden lassen. Dafür muss man ja nun als EU nicht einen Preis in Gestalt der wirtschaftlichen Sonderwünsche zahlen. Deswegen bin ich der Meinung, dass die Kernforderungen der Briten – Einschränkung der Arbeitnehmerfreiheit, mehr Einfluss auf die EZB als bisher möglich – unbedingt abgelehnt werden sollten.

Europäisches Finanzministerium

8. Februar 2016: François Villeroy de Galhau und Jens Weidmann, die Chefs der französischen Zentralbank und der Bundesbank, haben in einem gemeinsamen Beitrag in der Süddeutschen Zeitung die Schaffung eines gemeinsamen Finanzministeriums für den Euro-Raum vorgeschlagen (Süddeutsche Zeitung vom 8. Februar 2016, S. 18). Damit würde das „Gleichgewicht zwischen Haftung und Kontrolle“ im Euroraum wiederhergestellt werden und damit würde auch ein wesentlicher Konstruktionsfehler der Währungsunion repariert Diese Argumentation wirft zwei Fragen auf: Was verstehen die beiden unter „Gleichgewicht zwischen Haftung und Kontrolle“?, und was verstehen sie unter dem Terminus des Finanzministeriums.

Die erste Frage kann wie folgt beantwortet werden: Ein Gleichgewicht ist erreicht, wenn derjenige, der für die Risiken haftet, die von den nationalen Finanzpolitiken ausgeht, auch die Handlungen der nationalen Finanzpolitiken kontrolliert. Dahinter steht die Vorstellung, dass bisher eine gemeinschaftliche Haftung für eine den Euro-Raum destabilisierende Fiskalpolitik, die ja bisher das ausschließliche Recht der nationalen Parlamente ist, besteht. Wenn sich Italien also nicht an die Bestimmungen des Fiskalpakts hält, tragen die anderen Länder die Folgen, z.B. ein erhöhter Zinssatz im gesamten Euroraum oder gar ein erhöhtes Risiko für den Kreditausfall. Faktisch konstatiert ein Ungleichgewicht, dass sich nationale Parlamente nicht an die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in der verschärften Form des Fiskalpaktes halten. Deshalb müsste eine übergeordnete Instanz, eben das europäische Finanzministerium, derartige nationale Beschlüsse aufheben können. Dazu müssten Souveränität und nationale Befugnisse in „erheblichem Maße“ von den nationalen Parlamenten auf das europäische Finanzministerium übertragen werden. Mit anderen Worten: Wenn Matteo Renzi einen Budgetentwurf, der die erwähnten Regeln verletzt, vom italienischen Parlament verabschieden lässt, legt das europäische Finanzministerium sein Veto ein. Danach beginnt ein Kontrollverfahren, bei dem das europäische Finanzministerium mit dem italienischen Finanzministerium verhandelt, um wie viel und wo die Staatsausgaben an die Staatseinnahmen herangeführt werden. Ohne Zustimmung keine rechtliche Gültigkeit.

Die zweite Frage kann nun auch ganz einfach im Lichte der Antwort auf die erste Frage beantwortet werden. Ein Finanzministerium ist ein Ministerium, das die Finanzen eines Staates führt, insbesondere für die Einnahmen sorgt und die Auszahlungen durchführt und kontrolliert. Wir sehen gleich, dass das etwas anderes wäre als der von den beiden Notenbankchefs vorgebrachte Vorschlag. Denn das wäre so, als wenn der Bundesfinanzminister die Finanzen der Bundesländer kontrolliert, aber keine eigenen Einnahmen hätte. Das ist ein anderes Verständnis als das, was etwa George Soros vor einigen Jahren gefordert hat, nämlich ein europäisches Finanzministerium (also ein klassisches Schatzministerium) mit eigenen Einnahmen, die die Grundlage für die eigene Finanzpolitik wäre. Was die beiden vorschlagen, die das, was Wolfgang Schäuble ebenfalls vor einigen Jahren vorgeschlagen hat: Nicht eigene Finanzpolitik, sondern Kontroll- und Aufsichtsinstanz. Das ist natürlich kein Finanzministerium. Es wäre eine neue europäische Behörde, direkt dem Europäischen Rat oder meinetwegen auch der Kommission oder dem europäischen Parlament zugeordnet, das für die Regeleinhaltung sorgt.

Staatsräson und Nächstenliebe oder: der Bankrott der Intellektuellen

9. Oktober 2015: - Heute beschäftige ich mich ausnahmsweise mit einem Themengebiet, das nicht in den Bereich der ökonomischen, sondern der politischen Wissenschaften gehört, aber eine ungeheure akutelle Brisanz besitzt: die Flüchtlingsfrage.Anlass dieses Kommentars ist ein Interview, welches der Deutschlandfunk heute (9.10.2015)* mit dem deutschen Schriftsteller Martin Moosebach über die Veröffentlichung des jüngsten Essays von Botho Strauss im Spiegel führte. Das Interview plätscherte so ein wenig dahin, bis der Journalist den Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage herstellte und Herrn Moosebach sinngemäß fragte, ob nicht die christliche Grundlage unserer Kultur, auch des Staates, eine von Nächstenliebe geleitete staaatliche Politik verlange. Schließlich sei das Gebot der Nächstenliebe Grundlage des Christentums. Und jetzt kam die Antwort von Moosebach: Ja, unbedingt. Aber dies sei private Sache. Ein Staaat könne keine Nächstenliebe fühlen, weil er keinen Nächsten habe. Diese Aussage ist der Betrachtung wert - denn sie entstammt der Gedankenwelt und politischen Philosophie von CARL SCHMITT, diesem "furchtbaren Juristen", der nicht nur eine juristische, sondern auch verfassungstheoretische Fundierung für den nationalsozialistischen Staat lieferte. Darüber gibt es unendliche Debatten bis heute, was auch den großen Einfluss von Schmitt auf unsere heutigen Intellektuellen dokumentiert. Faktisch postuliert Moosebach nach Schmitt einen Gegensatz zwischen den Privaten und dem Staat. Der Staat hat seine eigene Räson, und die muss er schützen - auch gegen den Bürger. Schmitts Abneigung gegenüber dem demokratisch verfassten Staat basiert darauf, dass dieser Staat nicht die Voraussetzungen, auf denen er beruht, schaffen kann: Er kann die demokratische Gesinnung seiner Bürger nicht erwzingen. Aus diesem Grunde kann sich der Staat auch nicht von den Gesinnungen seiner Bürger leiten lassen - also auch wenn es Nächstenliebe wäre. Abgesehen davon, dass man mit dieser Philosophie - dass der Staaat keine Nächstenliebe fühlen könne - auch Konzentrationslager begründen kann: Wie kann denn ein Staat handeln, wenn die Mehrheit seiner Bürger demokratisch gesinnt wäre? Dies muss in die Diktatur führen. Was aber, wenn die Mehrheit seiner Bürger Nächstenliebe fühlte und danach handelte. Käme sie nicht ebenso in Konflikt mit dem Staat? Wer hätte dann zu dominieren und wie? Und was tut dann der Bürger? Macht er sich strafbar, wenn er tätige Nächstenliebe zeigt? Man kann nur stöhnen: Deutschland - Deine Schriftsteller.

* http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau[submit]=1&drau[station_id]=0&drau[searchterm]=&drau[from]=09.10.2015&drau[to]=09.10.2015&drau[broadcast_id]=131

Philosophen, Theologen, Romanistiker u.a.

5. September 2015 -Dass die Regierungsjobs für Wirtschaft und Finanzen unverhältnismäßig stark von Juristen und schwäbischen Hausfrauen besetzt werden, ist schon bekannt. Aber auch in den Wirtschaftsressorts der großen deutschen Zeitungen machen sich mittlerweile Theologen, Historiker oder Philosophen breit. Beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, wo Rainer Hank, ein Literaturwissenschaftler, der auch Philosophie und Katholische Theologie studiert hat, das Wirtschaftsressort leitet, und es sich zur Mission gemacht hat, den Neo-Liberalismus zu retten. Ein anderes Beispiel ist Thomas Urban. Urban hat Romanistik, Slavistik und Osteuropäische Geschichte studiert und ist seit Jahrzehnten Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Aus Anlass des Besuchs des spanischen Ministerpräsidenten in Berlin hat er am 2. September in dieser Zeitung unter der Überschrift „Sparen kann die Lösung sein“ eine Lanze für Austeritätspolitik gebrochen (http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/austeritaet-in-spanien-sparen-kann-die-loesung-sein-(1.2629600). Spanien hätte die Wende geschafft, nun werde es zur Wachstumslokomotive der Euro-Zone (Prognose 2015: 3 % Wirtschaftswachstum). Für Angela Merkel seien die neuen Zahlen aus Madrid eine sehr gute Botschaft, denn sie bestätigten ihr Credo: Eine Schuldenkrise könne nur durch Austerität überwunden werden. Dieses Rezept hätte schon in den „meisten“ (!) osteuropäischen EU-Ländern, die sich in einer viel schwierigeren Ausgangslage befanden, funktioniert. Aus gutem Grund erwähnt er nicht Polen, das größte osteuropäische Land, das ohne Austeritätspolitik gut durch die Krise gekommen ist. Wahrscheinlich hat er die Die Baltischen Länder im Sinne, die sozusagen die Musterknaben der Austeritätspolitik sind.

Also, wie sehen die Fakten für die Baltischen Ländern Estland, Lettland und Litauen im aus? Die folgende Abbildung zeigt uns den höchsten Stand des Bruttoinlandsprodukts zu Beginn der globalen Finanzkrise, etwa 2007 und 2008, wobei alle Werte auf das Jahr 2005 normiert sind. Estland, Lettland und Litauen haben durch ihre Austeritätspolitik extreme Einkommenseinbußen bis etwa2009/2010 erlitten, danach haben sie sich erholt. Aber nur Estland und Litauen haben im Jahr 2014 (schwarze Kästen) das Vorkrisenniveau wieder erreicht.

Abbildung: Reales Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen von 2005: Vorkrisen- und Nachkrisenstände)

Quelle: Eurostat.

Austerität heißt zunächst einmal Verarmung durch Arbeitslosigkeit. Die nachfolgende Tabelle gibt ein Bild darüber, wie hoch die Arbeitslosenquote den Baltischen Länder war und ist. Die Arbeitslosenquoten in allen drei Ländern lagen 2014 noch weit über dem letzten Vorkrisenjahr 2007.

Tabelle 1: Arbeitslosenquoten in % (Labor Force Surveys)

Quelle: Eurostat.

Die Arbeitslosenquote wäre aber noch viel höher ausgefallen, wenn ihre Regierungen durch die Verarmungspolitik nicht große Teile der Bevölkerung vertrieben hätten. In Estland hat die Bevölkerung zwischen 2008 und 2014 nur um 2 % abgenommen, in Lettland und Litauen bereits um 10 %. Auf Deutschland bezogen, wären dies 8 Millionen seiner Einwohner. Natürlich ist der Großteil nicht verstorben; er ist emigriert. Die nächste Tabelle zeigt das Ausmaß der Wirtschaftsflüchtlinge in Nettobetrachtung (Immigration minus Emigration). Die Regierungen dieser Länder haben ja das Glück, dass in der EU Niederlassungsfreiheit herrscht, so dass sie nicht das Schicksal von Wirtschaftsflüchtlingen des Westbalkans erleiden müssen, die wieder zurückgeschickt werden. Lettland und Litauen haben ungefähr 7 % ihrer Einwohner , netto durch Emigration seit 2008 verloren. Austerität heißt damit auch Auswanderung und Produktion von Wirtschaftsflüchtlingen.

Tabelle 2: Nettowanderung (Anzahl in Personen); - = Auswanderung

Quelle: Eurostat.

Nun zu Spanien: Der Wirtschaftseinbruch fiel nicht so stark aus wie in den Baltischen Ländern, aber das Vorkrisenniveau ist noch lange nicht erreicht. Prognosen des Wirtschaftswachstums sind schön, sagen aber Analysten nicht viel. Sie wissen, dass eine leichte Belebung nicht notwendigerweise auf Austerität zurückgeht, sondern von vielen Faktoren abhängt, wie z.B. eine bessere Auslandsnachfrage oder mehr Finanzmittel aus EU-Fonds (wie z.B. im Falle Estlands). Und in das Rechenwerk von Prognostikern wollen wir an dieser Stelle lieber keinen Blick werfen. Was bleibt: Austerität hat Spanien eine extrem hohe Arbeitslosenquote verschafft. Die Nettoemigration war extrem niedrig, aber nur, weil Spanien Einwanderungsland ist (Flüchtlinge aus Nordafrika). Die Bruttoemigration war dagegen enorm: ca. 2,5 Mio Menschen seit 2008. Viele Einwanderer flüchten offenbar nach einiger Zeit angesichts fehlender Perspektiven in Spanien weiter in die anderen EU-Länder.

Fazit: Ein Land mit einer dauernd hohen Arbeitslosenquote (vielleicht über 10 %) und/oder einer andauernden Migration kann keine gesunde und leistungsfähige Wirtschaft besitzen, auch wenn es ein leichtes Wirtschaftswachstum aufweist. Dieses Wachstum zeugt nur von einer ungeheuren Ungleichverteilung des geschaffenen Produkts und damit von einem Dauerzustand der Verarmung.

Nicht das Staatsdefizit, sondern die darniederliegende private Investitionstätigkeit ist das Kernproblem Griechenlands

12. August 2015 - Die Theorie der effektiven Nachfrage (TeN) lehrt uns, dass ein Überschuss im Regierungshaushalt über Nachfrageentzug zu einer Kontraktion der wirtschaftlichen Leistung führt. Auf diesen Effekt gründen unsere Linken und Grünen im Bundestag ihre Ablehnung des dritten Hilfspakets für Griechenland, denn das das Hilfspaket verpflichtet die griechische Regierung dazu, in den nächsten Jahren - wenn auch viel gemäßigter als bisher verlangt - einen Haushaltsüberschuss zu erzielen. Aber das ist natürlich nicht die ganze Geschichte, und wer sich nur auf den Zusammenhang zwischen Haushaltsefizit und inländischer Produktion bezieht, übersieht einige wichtige andere Elemente. Zunächst einmal die Standardbeziehung in der TeN, wonach die private Ersparnis S eines Landes aus der Einkommenserzeugung von den privaten Investitionen I, der Nettoposition des Staatshaushalts D (= Defizit) und den Nettoexporten E bestimmt wird:

S = I + D + E

Um den Effekt einer Variation von D zu untersuchen, werden in der Regel I und E konstant gehalten. Dann ist es mehr als logisch, bei einer Verringerung des Defizits auf einen Rückgang der privaten Ersparnis zu schließen, weil weniger Staatsaushaben (netto) weniger Einkommen bedeuten und bei gegebener Sparneigung der Privaten einen Rückgang von S nach sich ziehen müssen. Dies ist die Basis des Arguments, staatliche Austeritätspolitik führt das Land noch mehr in die Krise.

Man sieht aber sofort, dass wir nicht von vornherein sagen können, ob isgesamt wirklich eine Rezession eintritt, denn wir wissen nichts über die Reaktion von I, also den privaten Investitionen. Alle Theorien, die einen Zusammenhang von I und D konstruieren, gehören zu den phantasy economics; die Investitionen der Unternehmen sind ausschließlich ein Ergebnis ihrer Erwartungen über die zukünftigen Erträge aus diesen Investitionen und ihrem Gespür dafür. Es ist selbstverständlich, dass in einer Zeit, in der die Unternehmen negative Erwartungen hegen und ihre Investitionen kürzen, die Regierung mit höheren Defiziten einspringen sollte. Wir wissen auch, dass dies der Normalfall in einer zyklischen Bewegung der kapitalistischen Wirtschaft ist. Davon können wir aber im Falle der Griechenland-Krise nicht ausgehen. Tatsächlich ist nicht die Verringerung des Staatsdefizit das eigentliche griechische Problem, sondern die Unwilligkeit der Unternehmen zu investieren und vor allem der Banken, dies zu finanzieren. Wir können auch beobachten, dass dort im Zuge der letzten Turbulenzen sowohl das Staatsdefizit wieder steigt wie auch die Investitionen sinken. Die Investitionen sind also in gewisser Weise unabhängig vom Staatsdefizit und es ist - auch im Falle Griechenlands - möglich, das Defizit herunterzufahren, wenn nur ein Mechanismus existierte, die Investitionen anzuregen. Dazu bietet das dritte Rettungspaket zwei Wege:

- Zweifelsohne wird die Investitionstätigkeit in Griechenland derzeit von einem Kreditstop der Banken beeinträchtigt, denen die liquiden Mittel ausgegangen sind (Bankenschließung, Kapitalverkehrskontrollen, Abzug von Depositen). Unter diesen Umständen ist keine Bank bereit, vor allem keine, der die Insolvenz droht, einen längerfristigen Kredit an Unternehmen zu geben, mit denen Investitionen finanziert werden - zumal es unklar ist, ob die zukünftigen Erträge aus diesen Investitionen in Euro oder neuen Drachme erfolgen werden. Die Zuführung neuer Mittel an den Bankensektor in Verbindung mit seiner Restrukturierung verbessert deshalb die Finanzierungsbedingungen.

- Wenn das dritte Rettungspaket auch die externe Finanzierung von Infrastrukturinvestitionen in Griechenland umfassen würde - dazu is bisher noch nicht allzu viel bekannt - würde auch dadurch ein positiver Nachfrageschub in der Wirtschaft ausgelöst werden, der sich hauptsächlich auf inländische Ressourcen (Arbeitskraft, Bauwirtschaft) richten würde.

Der ausschließliche Blick auf die Sanierung des Staatshaushalts in der obigen Gleichung ist extrem einseitig und der Verweis auf die TeN nicht begründet. Im übrigen verstehe ich nicht, weshalb man gegen ein Reformprogramm in Griechenland sein kann, das höhere Steuern für die reichen Reeder und ihre Reedereigen beinhaltet. Auch verstehe ich nicht, dass man gegen die (stufenweise) Abschaffung der Frühpensionen sein kann. Die Durchschnittsrente in Griechenland ist so niedrig, weil der Anteil der Frühpensionen so hoch ist. Werden diese abgeschafft, steigt die Durchschnittsrente und der potenzielle Frührentner erhält weiterhin sein Gehalt, welches die potenzielle Frührente übersteigt. Im Falle eines Verlustes des Arbeitsplatzes, welcher ja sehr realistisch ist, ist die Flucht in die niedrige Frührente zwar erschwert. Aber die Reformanforderungen der "Institutionen" sehen einen Umbau des Sozialsystems vor, der hier kompensierend einspringt.

KLEINE GRIECHISCHE STÜCKE (18. Juni - 13. Juli 2015)

Tsipras? Nicht zu fassen!

13. Juli - An dieser Stelle habe ich einige wenige Wochen lang unter dem Titel "Kleine griechische Stücke" kurze Kommentare zu den aktuellen Verhandlungen der griechischen Regierung mit EU, EZB und IWF eingestellt. Ich habe insbesondere die fehlende Professionalität und Zielgerichtetheit der Tsipras-Regierung in den Verhandlungen kritisiert - nicht so sehr, was sie anstrebte. Am Ende - nach dem Referendum - hatte ich den Eindruck, sie hätte eine Strategie gehabt, eine zwar riskante, aber doch wohl eine konsistente. Die nunmehr - also heute, den 13. Juli - erreichte Übereinkunft mit den Gläubigern belehrt mich eines Besseren. Abgesehen davon, dass die griechische Regierung es hätte billiger haben können (vor zwei Wochen), gibt es dazu nichts mehr zu sagen. Hoffen wir, dass die damit verbundenen Programme das Land vor Niedergang, Chaos und Unruhen retten (wahrscheinlich werden sie es nur auf sehr niedrigem Niveau stabilisieren). Was die Verhandlungspartner von der Währungsunion betrifft: Hier bin ich vollständig einer Meinung mit dem ökonomischen Sachverstand, wie er von Paul Krugman und Joseph Stiglitz vertreten wird, während die Finanzminister, insbesondere Herr Schäuble keinerlei ökonomischen Verstand an den Tag legen und darüber hinaus eine politische Verhaltensweise gegenüber Griechenland verfolgen, die verdammt ähnlich der Einstellung und der führenden Rolle Clemencaus in den Friedensverhandlungen mit Deutschland nach dem 1. Weltkrieg ist (der übrigens auch nach einem Ultimatum von Deutschland angenommen werden musste). Alles weitere Ökonomische ist bei Keynes nachzulesen: The Economic Consequences of the Peace (1919). Armes Europa - zurück zu den Geistern der Vergangenheit!

Banküberfall

6. Juli 2015 - Nehmen wir einmal an, dass die Verhandlungstaktik der griechischen Regierung folgender Strategie gefolgt ist: Ihr strategisches Ziel ist der Schuldenschnitt plus Verbleib in der Eurozone. Dann gibt es dafür nur eine Vorausetzung: Die Verwendung des Euro im Inland muss gesichert werden, wenn ein beidseitig vereinbarter Schuldenschnitt auf dem Verhandlungsweg nicht sofort erreicht werden kann. Dazu muss eine Erstausstattung für den Fall der Fälle her. In der Tat haben sich die griechischen Bürger in den vergangenen Verhandlungsmonaten

mit Euro-Cash vollgesogen, und zwar über die Notfallkredite, die die griechische Notenbank an die Banken in Höhe von insgesamt 90 Mrd. Euro vergab.Sie konnten das, solange der EZB-Rat dies nicht mit zwei Drittel Mehrheit verhinderte. Das ist erst seit letzten Montag der Fall. Damit und auch mit anderen Krediten, die Griechenland in den vergangenen Monaten von der EU erhielt, hat das Land eine Erstausstattung an harter Währung für den Fall erhalten, dass das Eurosystem sich faktisch von Griechenland abschottet. Wenn dies eine bewußte Taktik war, dann wird sie in die Wirtschaftsgeschichte als der genialste Bankraun eingehen.

Das private Griechenland hat sich unter Umständen sind durch privates Horten 100 % des Bruttoinlandsprodukts durch Euro abgedeckt - ein Verhältnis, das ausreichen könnte, um bei einem Kreditembargo der Institutionen die Wirtschaft am Laufen zu halten. Das Land steuert wirtschaftlich auf eine Situation zu, die der Montenegros nahe kommt. Auch in Montenegro ist der Euro offizielles Zahlungsmittel, aber ohne Zugang zur EZB, und Montenegro kann damit leben. Es kommt darauf an, wieviel Euro-Reserven das inländische Bankensystem noch besitzt oder in den nächsten Wochen wieder einsammeln kann, um normalen Bankverkehr zu gewährleisten und Kredite zu gewähren.

Tsipras ist nun seinem zentralen Ziel nähergekommen - einen satten Schuldenschnitt und den Euro behalten.Der nächste logische Schritt wäre die Weigerung, alle Auslandsschulden zuzückzuzahlen. Das käme zunächst einem Schuldenschnitt von 100 % gleich.Damit würde die griechische Notenbank auf einen Schlag schuldenfrei; die Gegenbuchung in ihrer Bilanz wäre die Streichung ihrer Forderungen an das griechische Bankensystem. Ein schuldenfreies und restrukturiertes Bankensystem sollte in der Lage sein, das Vertrauen der Bevölkerung allmählich zu gewinnen, um die gehorteten Euro wieder zurück auf die Konten zu führen. Die unangenehme Begleiterscheinung des Schuldenmoratoriums wird sein, dass griechische Unternehmen nur noch gegen Vorauskasse im Ausland einkaufen dürfen - ein Problem, welches sich spätestens mit einem Schuldenabkommen erledigt. Die Eurofinanzminister werden sich llaus Eigeninteresse beeilen, mit Griechenland wieder zu verhandeln, um wenigstens einen Teil der Forderungen zu retten.

Einen Fehler darf die Regierung indes nicht machen: eine Parallelwährung einführen, um ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber Rentnern und Staatsbediensteten nachzukommen. Die Parallelwährung würde unweigerlich einer drastischen Abwertung unterliegen, zu einem Kaufkraftverfall führen, der Produktion und Beschäftigung weiter drückt. Die Regierung muss eben bis auf Weiteres mit ihren Steuereinnahmen in Euro auskommen. Ich nehme an, dass sie das durchkalkuliert hat und zum Schluss gekommen ist, dass die Einnahmen für diese Zwecke reichen, bis es zu einem Schuldenschnitt gekommen ist.

Theorie und Praxis

2. Juli 2015 - Seit einigen Tagen habe ich eine Auseinandersetzung mit einem befreundeten Ökonomen. Dieser ist ein Vertreter der Theorie der effektiven Nachfrage und hat dazu auch bedeutende Beiträge geliefert. Nach dieser Theorie kann klipp und klar bewiesen werden, dass Griechenland jetzt und über Jahre hinweg ein Budgetdefit braucht, um die Wirtschaftskrise zu überwinden. Ich selbst hege große Sympathien für diese Theorie und haben ebenfalls dazu publiziert. Aber im Falle Griechenlands ist sie falsch angewendet. Die Theorie der effektiven Nachfrage und die auf ihr basierende funktionale Finanzpolitik nach Abba Lerner gründet auf der Annahme eines effektiven und gerechten Steuersystems - mindestens. Dies liegt in Griechenland bekanntlich nicht vor. Weder ist die Finanzadministration in der Lage, die dem Staat gehörigen Steuern einzutreiben noch zahlen die Reichen ihren Beitrag. Deswegen macht ein Deficit spending keinen Sinn. Deshalb habe ich immer vertreten, dass diejenigen Länder in der Eurozone, die über eine funktionierende Finanzadministration verfügen, in der gegenwärtigen Stagnation Defizite fahren, aber nicht Griechenland, dessen Regierung offenbar nicht einmal bereit ist, die Waffenkäufe im Ausland zu stoppen und dadurch einen Überschuss herzustellen, der Produktion und Beschäftigung im Inland überhaupt nicht negativ tangiert. So einfach ist das!

Verarmungspolitik

1. Juli 2015 - Gestern hatte ich Gelegenheit, Hans-Werner Sinn in Wien über die griechische Tragödie zu sinnieren. Seine Konklusion war, ein Austritt des Landes aus dem Euro sei ein Programm über eine bessere Zukunft, denn nach zwei, drei Jahren würde die Wirtschaft wieder wachsen. Sein Argument: Die Abwertung der Schuldscheine bzw. der folgenden neuen Drachme würde die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. So argumentieren alle, die unter der Obzession der Wettbewerbsfähigkeit leiden. Hat er recht? Natürlich nicht. Nehmen wir an, dass die griechische Regierung demnächst als Vorstufe der neuen Drachme die Zahlungen an die Rentner mit einem Schuldschein leistet, auf dem steht, "Ich schulde Dir 1 Euro". Die Durchschnittsrente, sagen wir, beträgt 800 Euro, also erhält der Renter 800 Schuldscheine. Mit denen geht er in den nächsten Supermarkt, um seine täglichen Einkäufe zu machen; die Preise sind in Euro (was keine wichtige Annahme ist). An der Kasse steht allerdings ein Schild: "Wir akzeptieren nur 2 Schuldscheine für 1 Euro". Das bedeutet, die Kaufkraft der Rentner hat sich mit einem Schlag um 50 % verringert. Dieses Verarmungsprogramm ist viel, viel größer als alle Sparprogramme bisher. Und auch die letzte Reformforderung der EU-Finanzminister beinhaltete keine allgemeine Rentenkürzung mehr, sondern die Abschaffung der Frühpensionen. Eine Reduzierung der realen Renten um 20 bis 50 %, was ja erwartet werden kann bei einem Grexit, würde massiv Produktion und Beschäftigung vernichten. Das ist doch mal Verarmungspolitik, die es in sich hat - der Ausstieg aus dem Euro.

Unerträgliche Vorstellung

24. Jun 2015 - Wirtschaftlich ist Griechenland eine Katastrophe, und es könnte doch tatsächlich sein, dass das Land aus der EU ausscheiden muss, allein schon um den Euro loszuwerden. Aber die Griechen teilen die zivilisatorischen Werte, die der EU zugrundeliegen. Andere Länder und Nationen tun das offensichtlich nicht. Es ist ein unerträglicher Gedanke, dass Griechenland die EU verlässt, aber Ungarn mit seiner immer stärker fremdenfeindlich und antisemitisch eingestellten Bevölkerung und sein Premierminister Orban, der das alles bedient, in der EU verbleiben.

Zwischen Skylla und Charybdis - Herrn Tsipras Stunde der Entscheidung

22. Juni 2015. -Die Skylla war ein Meeresungeheuer aus der griechischen Mythologie mit dem Oberkörper einer jungen Frau und einem Unterleib, der aus sechs Hunden bestand. Die Skylla lebte gegenüber einem anderen Ungeheuer namens Charybdis auf einem Felsen an einer Meeresenge. Zusammen sind sie zwei unvermeidliche, gleich große Übel. Die Skylla fraß alles, was lebte und in ihre Reichweite kam, und ergriff mit ihren Fangarmen vor allem unvorsichtige Seefahrer, die ihr deshalb zu nahe kamen, weil sie Charybdis entgehen wollten. Als Odysseus durch die Enge fuhr, fraß sie sechs seiner Gefährten. Nach diesem Abenteuer des Odysseus ist in der Logik ein bestimmtes Dilemma benannt: Das Dilemma, zwischen zwei Übeln, die man gern vermeiden möchte, dennoch wählen zu müssen und dafür unvermeidlich einen Verlust hinzunehmen. Insofern ist das aktuelle griechische Drama tatsächlich eine Tragödie, denn welche Alternative Herr Tsipras auch wählt - jeder Ausgang ist mit hohen Kosten und Verlusten verbunden. Entweder akzeptiert die griechische Regierung das letzte Angebot der EU und muss deshalb wegen der damit verbundenen Härten den Zorn ihrer Wähler (Skylla) fürchten oder sie lehnt dieses Angebot ab und versinkt in wirtschaftlichem und politischen Chaos (Charybdis). Es scheint, dass Herr Tsipras den Mut des Odysseus benötigt und vor allem die Charybdis fürchten sollte.

Der große Irrtum von Herr Tsipras et al.

20. Juni 2015. -Auf dieser Website und in vielen Publikationen habe ich meine grundlegende Kritik an der Krisenpolitik der EU, insbesondere an ihrem Prinzip Wachstum durch Verarmung, ausgedrückt. Dass Griechenland sich dagegen wehrt, dass sich auch andere Nationen (Spanien) anfangen zu wehren, ist gerechtfertigt. Aber ich bin zunehmend fassungslos über die Laiendarsteller der griechischen Regierung. Gestern las ich ein Interview mit Herrn Tsipras, der doch tatsächlich behauptete, der Grexit würde die Eurozone zerstören. Dieses Argument ist die letzte Hoffnung der griechischen Regierung, die EU zum Einlenken zu zwingen. Aber es basiert auf einem fatalen Irrtum. Wenn der Grexit absehbar zu einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Katastrophe führt, wird die Lust der anderen Nationen und auch von Parteien wie Podemos drastisch sinken, das griechische Beispiel nachzuahmen. Im Gegenteil: Die Folgen des Grexit werden die EU zusammenschweißen.

Griechenland - Ende der Illusionen

18. Juni 2015. - Die griechische Regierung wäre gut beraten, das Angebot der EU anzunehmen, welches sich bekanntlich sehr stark den ursprünglichen Forderungen der Syriza-Regierung angenähert hat. Dies allein ist doch schon ein Erfolg! In die Katastrophe würde dagegen die Ablehnung führen, die ausschließlich auf Rechthaberei oder wirtschaftstheoretischen Prinzipien basierte. Nicht ein Streit unter Ökonomen sollte relevant sein, sondern unter Politikern. Ob 0,85 % Haushaltsüberschuss oder 1 %: Mit einem Federstrich, der den zweithächsten Militärhaushalt in der NATO halbiert, kann leicht ein noch höherer Überschuss erzielt werden, wenn dieser Federstrich auchdie unmittelbar budgetwirksamen Waffenkäufe der Regierung im Ausland beträfe. Derartige Kürzungen würden Produktion und Beschäftigung überhaupt nicht berühren. Es ist bedauerlich, dass die Syriza-geführte Regierung seit Beginn ihrer Amtszeit nicht politikfähig ist. Sie hat weder die Steuerhinterziehung vor allem bei den Reichen bekämpft noch die gesamte Finanzverfassung reformiert. Eigentlich hat sie gar nichts getan, sondern sich auf Deklarationen und theoretische Erklärungen beschränkt. Die Katastrophe muss dann folgen: Ein langwieriger Verhandlungs- und Vertragsmarathon über den Ausstieg Griechenlands aus dem Euro und höchstwahrscheinlich auch der EU mit Hyperinflation und Depression, sozialen Unruhen als Begleiterscheinungen und am Ende möglicherweise einem Eingreifen des Militärs - das Szenario ist aus dem Jahr 1967 bekannt.

The distributive fiscal effects of Quantitative Easing

Today, the European Central Bank started its Quantitative Easing program, which will involve the purchase of roughly 1,000 bn Euros until September 2016 – a sum intended to raise the base money share in total money supply. In an earlier post (6th January), I expressed my concerns about the effectiveness of the program; my arguments were based on the liquidity preference theory.

In this post, I will argue that the program means a redistribution of interest revenue from the private to the budget sector and more, redistribution among Euro area governments, of which the German finance ministry will gain the most, while Southern fiscal budgets will transfer revenues to Germany. The first effect is obvious, since the ECB will purchase sovereign securities (T-bills and bonds) on the secondary markets from the private sector, mainly from the financial sector. The second effect is less obvious and has to do with the ECB’s obligation to channel all profits to its owners – via the national central banks to the national governments. The mechanism is properly explained by De Grauwe and Ji (click this link: http://www.voxeu.org/article/quantitative-easing-eurozone-its-possible-without-fiscal-transfers).

My argument is based on the ECB’s earlier determination to realize the securities purchases accordingly to the shares of member national banks in the ECB equity. Exactly the same shares are valid in the distribution of profits among the national central banks. In the table below you find the national shares in the second column. The crucial point is that the ECB will earn from interests on the securities, and here, according to the coupon rates, that is, the fixed nominal interest rate. Each year, the ECB will provide its net profits to its owners, the national central banks, among the Bundesbank according to their equity shares; hence, the German Bundesbank will receive exactly 27 % of net interest revenue. The national central banks will transfer the money to its owner, the treasury. Seemingly, there will be no fiscal redistribution among members in case of a unique coupon rate. However, as a matter of fact, Euro governments pay different coupon rates to the holders – the lowest rates pay the German budget, the highest the Greek.

Unfortunately, the average fixed nominal interest rate is not available. Therefore, my example below is a demonstration that can be repeated with different assumptions on interest rates, and that will end will similar results. Let us simply assume that the German’s Mr. Schäuble will pay only a 1 % coupon rate, the treasury has issued – similar with a group of other, mainly creditor countries. Assume further that the Greek government will have to pay 5 % (according to recent issuance reports), and a group of other crisis countries are in between Greece and Germany. The second column reports the amounts in bn Euros in case of the Euro 1,000 bn program of the ECB. The third column shows the different coupon rates in this calculation. The next column includes the interest paid by the government to the ECB. The total amount of interest earnings is Euro 15.9 bn. This amount is to distribute among the national central banks according to their equity share in column2. The amounts are shown in column six. The difference between the interest paid by the government (column 5) and the interest the government receives back (column six) is the net fiscal transfer, shown in column seven. A negative value means that the government pays less than it will receive back later from the ECB via the national central bank.

We see: when Germany’s Schäuble formerly paid Euro 2.7 bn to the private sector, he now pays the same amount to the ECB. But he will get back 2.6 bn from the ECB, so instead of 2.7 bn to the private sector, he finally gets back 5.3 bn from the ECB via the Bundesbank – a net income transfer of 2.6 bn! This net income transfer to the German fiscal budget is assembled from all net payers: Ireland, Greece (!), Spain (!), Italy, and Portugal. The net fiscal transfer from Greece to Germany’s public budget has a specific taste. Actually, Greece would be better of not included into ECB’s program!

Posted: 9 March 2015.

Im Euroraum bleiben ohne den Euro zu haben

Alle Spekulationen sind sinnlos. Wenn die griechische Regierung es nicht will, wird sie niemand zum Verlassen des Eurogebiets bringen können.

Zunächst: Es ist ja bekannt, dass ein Land nicht aus dem Euro austreten dar. Dafür gibt es keine Grundlage im EU-Vertrag. Ein Land kann den Euro nur aufgeben, wenn es auch die EU verlässt. Das will niemand, auch die hartgesottensten Befürworter eines Austritts in der übrigen Währungsunion nicht. Selbst, wenn die Griechen dies wollten, würde dies nicht über Nacht geschehen können. Es sind Verträge einzuhalten, die mit der Währungsunion ja nichts gemeinsam haben.

Nun gibt es die schöne Idee, den Griechen die weitere Mitgliedschaft im Euro so sauer werden zu lassen, dass sie auf irgendeine Weise ihren Austritt erklären, beispielsweise indem die Europäische Zentralbank den griechischen Banken keine Euro-Kredite mehr gibt. Dann würde, so heißt es, der Zusammenbruch der griechischen Banken schon die Lust am weiteren Gebrauch des Euro verleiden. Das ist der sog. Grexit. Dies ist möglich, aber unwahrscheinlich. Mario Draghi würde sich zum Handlanger derartiger politischer Ambitionen machen, wo er doch oft genug die Aufrechterhaltung des Euroraums als das Ziel der EZB deklariert hat.Wie sich heute (5. Februar) abzeichnet, wird die EZB wohl ihre Sonderkonditionen für den Ankauf griechischer Staatspapiere aufheben, aber Krediten der griechischen Notenbank an die Geschäftsbanken zu schlechteren Konditionen nicht im Weg stehen (das ELA-Programm für Griechenland ist um 10 Mrd. Euro aufgestockt worden).

Aber selbst, wenn es soweit käme: Auch dann wird die griechische Regierung nicht die Mitgliedschaft in der Währungsunion aufgeben müssen. Denn sie besitzt weitere Optionen. Die beste ist, im Euroraum zu bleiben, ohne den Euro in Griechenland weiter zu verwenden. Wie das geht? Durch die temporäre Einführung einer Parallelwährung, die in einem freien Verhältnis zum Euro steht.

Wir stellen uns einfach vor, dass die griechische Regierung entscheidet, alle ihren Zahlungsverpflichtungen an Inländer durch sogenannte IOUs nachzukommen, aber alle Inländer müssen ihre Zahlungen an den griechischen Staat in Euro leisten. Die technischen Einzelheiten können den Gegebenheiten entsprechend gestaltet werden, aber das Prinzip gilt: Ein IOU (I Owe You) ist ein Schuldschein, den die griechische Regierung ausgibt für Gehaltszahlungen. Sozialleistungen oder Steuerrückerstattungen, und deren Nennwert sie garantiert. Die Steuerzahlungen der Bürger können durchaus differenziert erfolgen: Niedriglohnbezieher zahlen mit IOUs, aber ab einem bestimmten Steuersatz ist in Euro zu zahlen. Mit diesen Euroeinnahmen kommt die Regierung ihren ausländischen Zahlungsverpflichtungen nach.

Ist das neu? Nein, keinesfalls. Kalifornien hat es mehrmals praktiziert, zuletzt 2009, als der US-Bundesstaat praktisch bankrott war. Oder Argentinien mit den bonos 2009. Eine Garantie, dass dies auch funktioniert, gibt es freilich nicht; vieles kommt auf die Ausgangslage und die Gestaltung der Schuldscheine an.

Die Konsequenz wäre eine interne Abwertung von Löhnen gegenüber dem Euro, denn die IOUs würden aller Voraussicht nach an Wert verlieren. Eine Inflation wäre die Folge, insbesondere bei importierten Gütern. Damit könnte die Importnachfrage drastisch reduziert werden, während andererseits die Exporte günstiger würden. Die lang ersehnte Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit würde eintreten.

Schuldscheine würden eine Laufzeit von ein bis zwei Jahren haben; das verhindert eine zu starke Spekulation. Derjenige Halter, der es durchsteht, erhält nach Ablauf der Frist den ursprünglichen Betrag in Euro zurück.

Zweifelsohne wäre dies eine Parallelwährung, die nicht nach EU-Vertrag verboten wäre. Griechenland bliebe also Mitglied es Eurosystems. Auch wäre die griechische Notenbank als Teil des Eurosystems nur soweit involviert, als sie den Wechselkurs zwischen den Schuldscheinen und dem Euro managed und so weit wie möglich stabilisiert (bei einer gewünschten Abwertung von z.B. 25 %). Kommt es nach einiger Zeit zu einer Stabilisierung der griechischen Wirtschaft und zu einer Neuregelung der Verschuldung, kann die Parallelwährung wieder abgeschafft werden.

Posted: 26 January 2015; revised 5 February.

Die EZB vor dem Ankauf von langfristigen Anleihen

Posted: 6 January 2015

Aller Voraussicht nach wird die EZB im Januar 2015 zum Ankauf von längerfristigen Wertpapieren – privater wie auch staatlicher Herkunft – auf dem Sekundärmarkt übergehen, dem sog. Quantitative Easing. Dies ist ihre Reaktion auf die Wirkungslosigkeit ihrer Niedrigzinspolitik, über die sie in den vergangenen Jahren, insbesondere 2011 und 2012 Milliarden von Euro in das Bankensystem pumpte, ohne dass dadurch die Wirtschaftstätigkeit angekurbelt und der Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert wurde. Stattdessen haben die maroden EU-Banken ihre Bilanzen saniert. Zwar ist die Basisgeldmenge gestiegen, nicht aber die gesamte Geldmenge, die auch das von den Banken gehaltenen Reserven bei der EZB umfasst. Die Unwilligkeit der Banken, trotz gestiegener Refinanzierungsmöglichkeiten bei der Zentralbank langfristige Kredite auszugeben oder auf dem Sekundärmarkt für zinstragende Anleihen des Unternehmenssektors tätig zu werden, weist auf eine extrem hohe Liquiditätspräferenz hin. Weitere Senkungen des Leitzinses führen offenbar zu keiner spürbaren Reaktion der Wirtschaftssubjekte Liquidität zugunsten illiquider Forderungen aufzugeben. Und da der Zinssatz der Zentralbank die Nullgrenze nahezu erreicht hat, sieht sie keine Möglichkeit mehr, das Zinsinstrument weiter einzusetzen.

Beim Ankauf von langfristigen Anleihen des privaten und des öffentlichen Sektors versucht die Zentralbank, den langfristigen Zinssatz in der Wirtschaft über die Kurse von Wertpapieren auf dem Sekundärmarkt zu senken und damit die Investitionstätigkeit anzuregen. Der Unterschied zur bisherigen Zinspolitik besteht darin, dass diese den kurzfristigen Zinssatz auf dem Markt für Basisgeld beeinflusst, und zwar mit der Hoffnung verbunden, damit auch „irgendwie“ – nämlich über die Zinskurve – auch den langfristigen Zins. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.

Beim An- und Verkauf von Wertpapieren handelt es sich um jene Offenmarktpolitik (OMP), die zu den klassischen Instrumenten einer Zentralbank gehört, um den Zinssatz auf langfristige Sicherheiten und damit auch Kredite zu drücken. Während die amerikanische Fed das sog. Quantitative Easing bereits frühzeitig nach Ausbruch der Finanzkrise einsetzte, war dies in der Europäischen Währungsunion bisher verpönt. Zum einen lehnt die herrschende Geldtheorie OMP ab, weil damit angeblich die Kapitalallokation über die Märkte verzerrt würde. Zum anderen umfasst OMP auch den Aufkauf von Staatspapieren, was nichts anderes als indirekte, aber unerlaubte Staatsfinanzierung durch die EZB sei. Dies sind umstrittene Positionen: Zum einen wird das Problem einer Fehlallokation der Märkte in dann den Hintergrund geldpolitischer Erwärungen treten, wenn die Stabilität und Funktionsweise der Finanzmärkte und damit des Euro bedroht ist. Zum anderen ist umstritten, ob es sich dabei wirklich um unerlaubte Staatsfinanzierung handelt, da die EZB ja nicht auf den Primärmärkten tätig wird. Aber dies sind nicht die entscheidenden Punkte aus ökonomischer Sicht. Viel wichtiger ist doch die Frage, ob der EZB mit dem Ankauf von langfristigen Wertpapieren das gelingt, was ihr mit der Niedrigzinspolitik nicht gelungen ist, nämlich über eine Senkung der langfristigen Zinsen die Belebung der Investitions- und Finanzierungsbereitschaft. Und hier habe ich Zweifel.

Zunächst etwas Theorie: Die Liquditätspräferenz des privaten Sektors, also seine Neigung Geld zu halten statt es für Konsum oder Investitionen auszugeben, speist sich aus drei Quellen: dem Transaktionsmotiv, dem Vorsichtsmotiv und dem Spekulationsmotiv. Die Transaktionskasse wird in Abhängigkeit vom verfügbaren Einkommen gehalten, die Vorsichtskasse aus psychologischen Gründen – beide sollen uns hier nicht weiter interessieren. Veränderungen in der Liquiditätspräferenz gehen vor allem vom Spekulationsmotiv aus. Das Halten von Liquidität aus spekulativen Motiven heraus wird von den Zinserwartungen bestimmt oder, was dasselbe besagt, von der erwarteten Höhe der Kurse der zinstragenden Forderungen. Der Zinssatz entschädigt für das Risiko des Haltens von Illiquidität. Je höher der Kurswert einer Forderung, also ihr Preis ist, desto niedriger ist der Zins und umgekehrt: Je niedriger der Zinssatz, d.h. je höher der Kurs der Forderungen ist, um so weniger werden rational spekulierende private Haushalte, Unternehmen und Banken geneigt sein, zinstragende Forderungen zu kaufen, d.h. aus spekulativen Gründen gehaltene Kasse gegen Wertpapiere umzutauschen; sie erwarten einen Kursverfall. Die Liquiditätsfalle entsteht dann, wenn der Zinssatz unter dem langfristig als sicher erachteten Zins liegt. Wenn der Preis einer zinstragenden Forderung einen als sicher erachteten Wert überstiegen hat, steigt für den Investor das Ausfallsrisiko. Da gleichzeitig aber der Marktzinssatz sinkt, öffnet sich die Schere zwischen Ausfallrisiko (Kapitalverlust) und Kompensation für das Risiko (Zinsertrag). Es ist also nicht sicher, ob die Offenmarktpolitik der EZB die Präferenz für Liquidität verringert und die Bereitschaft der Unternehmen, Investitionen einzugehen und der Banken und anderen Finanzinstitute, diese auch langfristig zu finanzieren, steigert. Es könnte auch sein, dass das Ankaufsprogramm der EZB die Kurse der Wertpapiers so weit steigert, dass ihre Verzinsung, die die Risikoprämie darstellt, unter den oder noch stärker unter den als sicher angesehen Zins fällt, so dass die Präferenz für das Halten sicherer Liquidität eher noch zunimmt.

Der volkswirtschaftlich als sicher anzusehende langfristige Zins auf eine Finanzanlage dürfte von der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals bestimmt werden, d.h. dem Ertrag einer Investition in Realkapital. Liegt der Zinssatz darüber, werden die Unternehmen nicht investieren; liegt er darunter, werden die Banken nicht finanzieren. Ich vermute mit Verweis auf die folgende Graphik, dass eine derartige Situation in der Währungsunion bereits seit einigen Jahren herrscht:

Umlaufrenditen 10jähriger Staatstitel für Deutschland und die Währungsunion (Quartalsdaten)

Quelle: auf Basis der Daten von Eurostat.

Die Abbildung zeigt die Entwicklung der Umlaufrenditen für 10jährige Staatstitel Deutschlands und aller Mitgliedsstaaten der Währungsunion seit ihrem Bestehen.Die Niedrigzinspolitik der EZB hat zu keiner Belebung der Investitionstätigkeit geführt, wohl aber zu einem Anstieg des Kurses 10jährige Staatstitel und - in einigen Ländern - der Preise für Immobilien. Banken haben nicht nur ihre Reseverhaltung bei der EZB verstärkt, sondern auch sichere Staatstitel, insbesondere deutsche. Dementsprechend sind die langfristigen Hypothekenzinsen und die Umlaufrenditen für 10jährige Staatstitel enorm gesunken. Und diese Zinsen sind mit den Zinsen auf langfristige Sicherheiten enger verbunden als die Leitzinsen der Zentralbank. Eine Anregung der Investitionstätigkeit im Unternehmenssektor ist jedoch nicht zu spüren. Die gestrichelte horizontale Linie ist die Durchschnittsrendite, die sich bis zum Ausbruch der Finanzkrise im vierten Quartal 2008 mit ungefähr 4.4 % ergab. Bei einer Inflationsrate von 2 % bis 3 % belief sich der langfristige reale Zinssatz in dieser Phase der Stabilität des Eurosystems auf etwa 1,5 % bis 2 %. Die zweite, durchzogene Linie, steht für den Zinssatz auf deutsche 10jährige Staatstitel; man sieht eine fast konvergente Entwicklung bis zum Ausbruch der Finanzkrise, danach jedoch eine stark divergente Entwicklung zwischen Deutschland und der Währungsunion. Das Bild vermittelt eine Vorstellung davon, welchen Vorteil zwar der deutsche Finanzminister aus dem Fall der langfristigen Zinsen unter ihr langfristiges und wahrscheinlich als „sicher“ angesehene Niveau gezogen hat, dies aber zum Nachteil der realen Wirtschaft nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Eurozone. Nehmen wir an, dass die „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“, die nur eine reale Größe sein kann, bei ungefähr 1 % bis 2 % jährlich liegt, dann sehen wir das Problem einer weiteren Absenkung der langfristigen Zinsen über die OMP. Es könnte sein, dass rückläufige Zinsen die Risiken eines Verfalls des Kurses einer langfristigen Forderung auf dem Anleihemarkt erhöhen, so dass aus spekulativen Gründen heraus die Präferenz für das Halten von Geld weiter steigt statt zu sinken.

Was wären die Alternativen? Eigentlich gibt es nur zwei Optionen, die die EZB in dieser Situation verfolgen könnte. Die erste Option besteht darin, die Vorteile einer Haltung von Geld vollständig zu beseitigen. Die EZB hat diesen Weg bereits durch die Einführung von Strafzinsen auf freiwillige Reserven der Geschäftsbanken beschritten. Die Effektivität dieses Weges ist aber beschränkt, weil die Banken negative Zinsen an die Halter von Depositen weitergeben. Die zweite Option besteht darin, die OMP diskriminierend zu gestalten: Wenn Staatsanleihen angekauft werden, dann sollten es nicht die deutschen sein, deren Zinssatz bereits zu niedrig ist, sondern es sollten die Staatsanleihen von Ländern sein, in denen der Zinssatz noch immer über dem Durchschnittsniveau der gesamten Eurozone liegt – dazu würden übrigens auch die griechischen gehören. Damit würde die EZB allerdings gegen eine weitere Vorschrift verstoßen, die da besagt, dass nur wertsichere Anleihen angekauft werden dürfen, also eben nicht Anleihen aus Ländern mit drohendem Staatsbankrott.

Es liegt also auf der Hand, dass die EZB weiterhin in ihren Möglichkeiten, über Geldpolitik das schädliche Halten von Geld abzubauen, extrem beschränkt ist. Sie kann die privaten Haushalte, die Unternehmen, die Banken und die Regierungen nicht zwingen, sich zu verschulden statt zu sparen. In dieser Situation fällt die gesamte Verantwortung auf die Fiskalpolitik. Insbesondere die deutsche Haltung, die Vorteile niedriger Zinsen für die Haushaltskonsolidierung in Anspruch zu nehmen, dabei aber unbeabsichtigt die Bereitschaft des privaten Sektors, zu investieren und langfristig zu finanzieren, zu unterminieren, erweist sich als die eigentliche Axt an den Wurzeln der Währungsunion.

.

Was es mit der „heiligen Krim“ auf sich hat: Panslawismus pur!

Wir erleben die Wiedergeburt längst überwunden geglaubter Konzepte totaler Herrschaft, denen nur sehr schwer mit den Mitteln der Außenpolitik, d.h. der Diplomatie, beizukommen ist. Außenpolitik vertritt die Interessen eines Nationalstaats und nimmt rationales Verhalten der anderen Nationalstaaten an. Die modernen Panbewegungen jedoch hassen den Nationalstaat, respektieren keine Staaten und sind totalitär in dem Sinne, dass sie keine individuellen Rechte respektieren. An erster Stelle fällt uns vielleicht der moderne Panislamismus ein, wie er vom IS verkörpert wird und der sein Vorbild in den frühen Expansionsbestrebungen des Islam sieht, also in einer Zeit, als Nationalstaaten noch gar nicht existiert haben. Dazu gehören aber auch panslawistische Ideen, die die antiwestliche Haltung der russischen Separatisten in der Ukraine prägen. Mehr noch, hinter ihnen scheint die derzeitige russische Politik zu stehen. Der moderne Panslawismus ist das Thema dieser Überlegungen.

Die Annexion der Krim, die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine sind die ersten deutlichen Anzeichen einer Wiedergeburt der panslawistischen Bewegung, die historisch nicht nur, aber doch auch deutlich Russland bzw. dem russischen Volk eine messianische Sendung zuschreibt. Den panslawistischen Elementen im derzeitigen geopolitischen Handeln Russlands ist bisher wenig Beachtung geschenkt worden. Dies hat zu dem Missverständnis geführt, Russlands derzeitiges Handeln sei eine ins Chauvinistische verzerrte normale außenpolitische Vertretung nationaler Interessen. Dem wäre nicht so, wenn die gegenwärtige russische Führung sich dem Panslawismus verschrieben hätte. Ob es so ist, wäre zu überprüfen. In der Tat gibt es dafür einige Hinweise.

Der Panslawismus ist wie jede Panbewegung staatsfeindlich ist und kann deswegen auch nicht mit den Kategorien von Außenpolitik, die immer staatliche Interessen unterstellt, erfasst werden. Die offiziellen außenpolitischen Botschaften Russlands an die anderen Staaten Europas könnten verschleiern, was die verdeckten Botschaften an eine gänzlich andere Klientel, nämlich die Vertreter und Sympathisanten einer gefühlten slawischen Einheit in Europa, vermitteln. Zunächst einige Bemerkungen zum Charakter des Panslawismus.

Die Vorsilbe „Pan“ entstammt dem Griechischen und bedeutet „alles“; daher ist es ein Synonym für den Begriff „total“. Hannah Ahrendt hat in ihrem vielleicht berühmtesten Buch aus dem Jahre 1955 herausgearbeitet,[1] dass der Panslawismus wie auch alle anderen Panbewegungen, und dazu gehören historisch bauch die pangermanischen, zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft gehören, wenn sie einmal, auf welchem Weg auch immer, die Macht in einem Staat ergriffen haben. Hannah Arendts Buch war über viele Jahre hinweg an den politikwissenschaftlichen Fakultäten unserer Universitäten Grundlage des Studiums. Es verwundert, dass in der gegenwärtig aufgeregten Diskussion über Putins Begrifflichkeit von der Krim als „heiligem“ Ort für Russland noch niemand auf den Bezug zum Panslawismus verwiesen hat. Für jemanden wie mich, der seit 1999 den Weg Putins in den autoritären Staat verfolgt hat, trägt das heutige Russland immer stärkere Züge totaler Herrschaft und ist nicht einfach der Reflex der KGB-Vergangenheit des russischen Präsidenten. Dies mag zunächst ein übertriebenes Vorurteil sein, wenn da nicht zunehmend Indizien auftreten würde – im Handeln und im Reden Putins.

Zunächst: Woran erkennt man eine „Panbewegung“? Die folgende Zusammenstellung entstammt Hannah Arendts Buch: Panbewegungen entstehen vor dem Hintergrund eines Verlustes an Identität in einer sich atomisierenden und zerfallenden Gesellschaft und stellen die Suche nach Sinn jenseits rationaler Überlegungen dar. Dabei entsteht schnell das Gefühl, dass das eigene Volk ist von einer Welt von Feinden umgeben ist. Eine Panbewegung propagiert einen völkischen Nationalismus. Er beruht auf der Annahme von Stammeseigenschaften, die Zusammenhalt fördern und den eigenen Stamm von anderen unterscheiden; insofern enthalten Panbewegungen auch eine große Portion Antisemitismus. Der „Stamm“ ist natürlich überstaatlich. Im aktuellen Fall des russischen Panslawismus sei an die Bemerkung Putins erinnert, wonach Russland dort sei, wo Russen leben. Ein weiteres typisches Merkmal der Panbewegungen ist, dass ihre Vertreter eher durch gleichartige Mentalität eine politische Stimmung erzeugen statt konkrete Ziele benennen. Rhetorisch verbleiben sie häufig in einem schwülstigen Pseudo-Mystizismus. Alle Panbewegungen verachten den Nationalstaat und sind grundsätzlich staatsfeindlich eingestellt. Insofern respektieren sie auch keine Staatsgrenzen. Schließlich streben sie die Herrschaft über kleinere Völker in der unmittelbaren Nachbarschaft an und ergehen sich in Welteroberungsphantasien. Arendt: „Psychologisch gesprochen ist der Unterschied zwischen dem verrücktesten Chauvinismus und diesem völkischen Nationalismus immer noch der, daß der eine sich immerhin mit der Welt und ihren greifbaren Realitäten beschäftigt, mit den faktisch vorliegenden Leistungen der Nation auf allen Gebieten, während das Völkische selbst in seiner harmlosesten Form (…) sich nach innen richtet und anfängt, die menschliche Seele als die „Verkörperung“ allgemeiner Stammeseigenschaften anzusehen“ (S. 343). Völkische Politik nimmt somit auch keine Rücksicht auf ökonomische Kalküle – was zu dem Missverständnis bei Beobachtern führt, das „Volk“ sei bereit, bei einem Angriff zu leiden. Es handelt sich dabei insofern um ein Missverständnis, weil man diese Leidensfähigkeit als völkische Eigenart versteht, aber nicht als Ausdruck einer bestimmten irrationalen Politik.

Der Panslawismus entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Seine Quellen lagen zwar auch, aber nicht hauptsächlich in Russland, sondern im heutigen Tschechien und in Serbien, obwohl Panslawisten Russland im 19. Jahrhundert aufforderten, Tschehen, Slowaken von der Herrschaft Österreich-Ungarns und die Südslawen von der Herrschaft der Osmanen zu befreien. Sowohl die Gründung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens 1918 gehen auf die Feindschaft des frühen Panslawismus gegenüber dem österreichisch-ungarischen Staat zurück, indem sich die Slawen nicht nur ausgegrenzt fühlten und dies angesichts erstarkender pangermanischer Ideen (die „Alldeutschen“ in Österreich) vielleicht sogar waren.

Die Orientierung auf Russland als stärkster slawischen Nation war bei Tschechen, Slowaken und Südslawen weit verbreitet. Tschechische Freiwilligenverbände kämpften in der Endphase des ersten Weltkriegs auf russischer Seite gegen die Habsburgermonarchie. Stalin weckte den völkischen Nationalismus im russischen Volk mit dem Begriff des „Großen Vaterländischen Krieges“, der keineswegs mit der beanspruchten Ratio des „wissenschaftlichen Sozialismus“ zu erklären war. Die Mobilisierung der Opferbereitschaft eines sich als Einheit fühlenden großen „Stammes“ war mitentscheidend für den Sieg über eine andere Panbewegung, nämlich den deutschen Nationalsozialismus. Auch in der Nachkriegszeit – d.h. im Kalten Krieg – wurden panslawistische Ideen zumindest als politische Waffe gegen den Westen eingesetzt. Bekannt sind nicht nur Bestrebungen unmittelbar nach 1945, Siedlungsgebiete Lausitzer Sorben in die Tschechoslowakei einzugliedern – ein Streben, das mit der Schaffung der DDR und ihrer Kontrolle durch die Sowjetunion ein Ende fand. Auch in Polen begründete der Panslawismus im Kalten Krieg eine Propaganda, wonach sich Polen eigentlich bis zur Elbe ausbreiten müsste, weil es sich dabei historisch um slawische Siedlungsgebiete handeln würde.

Mit dem Zerfall der Tschechoslowakei und Jugoslawiens Anfang der 1990er Jahre galt der Panslawismus gescheitert. Aber seine moderne Form erlebt derzeit nicht nur in Russland eine Wiedergeburt, so wie auch in Serbien der Verlust des Hegemonie über die Südslawen und insbesondere nach dem Verlust des Kosovo zu einer Wiedergeburt des Serbentums geführt hat. Es ist auch nicht zufällig, dass Putins Russland vor allem in Serbien, Ansatzpunkte für eine Destabilisierung Westeuropas sieht, denn viele Serbien schieben einer vom Westen dominierten Weltgemeinschaft die Schuld für ihre nationale Demütigung zu und suchen einen starken Verbündeten mit ähnlicher Erfahrung. In allen anderen slawisch geprägten Staaten – Polen, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien – aber ist Russland der Dreh- und Angelpunkt panslawischer Ideen.

Sprache transportiert implizite Botschaften. Dazu benutzt sie Codewörter, die harmlos daherkommen, aber von ihren Adressaten als Aufmunterung und Aufforderung verstanden werden. Stalins Mobilisierung für den „Großen Vaterländischen Krieg“ ist so ein Code. Die Codes des völkischen Nationalismus hat Putin schon länger in seinen Reden benutzt. So wies er mehrmals auf die besonderen charakterlichen Eigenschaften des russischen Volkes in Abgrenzung zu denen des Westens hin. Insbesondere mobilisiert er Unterstützung durch seine Attacken auf Homosexuelle und liberale Ideen. Zu einiger Berühmtheit ist sein bereits oben erwähnter Satz „Russland ist dort, wo Russen wohnen“ gekommen. Und Russen wohnen in Transnistrien, in Lettland und Estland und auch in Ostpreußen.

Putin hat aber mit nur einer Phrase die politische und intellektuelle Welt Europas in Aufruhr gebracht: Die Annexion der Krim sei legitim, weil die Krim für Russland ein heiliger Ort sei so wie Jerusalwem für Juden, Christen und Moslems. Wieso gerade die Krim, die historisch kaum als Kernort oder Herkunftsort Russlands gelten kann? Kolonisiert von Griechen, beherrscht von Römern, Skythen, Mongolen, Tartaren, Osmanen und Türken, also kaum ausgezeichnet durch die Anwesenheit von Russen oder wenigstens Slawen, kam die Krim erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft (ab 1774). Warum also die Krim und nicht der Kiewer Rus, der der Vorläufer Russlands ist.

Die Antwort liegt in den typischen Eigenschaften einer Panbewegung: Mythen werden erfunden, unabhängig von ihrer historischen Wahrheit, wenn ein Volk in einem zerfallenden Staat nach einer neuen Identität sucht – so wie dies in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion geschehen ist. Rationale Überlegungen, wie etwa die ökonomische Kosten von Eroberungen, spielen keine Rolle. Es überwiegt der gemeinsam gefühlte Verlust an Identität, der eine gewisse Mentalität schafft, die von autoritäten Politikern genutzt werden kann.

Auch Serbien hat noch während des Zerfalls Jugoslawiens den Mythos eines für das Serbentum „heiligen“ Ortes geschaffen – das Amselfeld, ein Ort, der als Kosovo nunmehr außerhalb des eigenen Territoriums liegt, so wie die Krim Seit 1993. Die Exterritorialität seines sinnstiftenden Ortes kann immerhin ertragen werden, wenn dessen Staat im eigenen Einflußbereich liegt – was für die Serben im Falle des Kosovo derzeit noch schwer erträglich ist und offensichtlich auch für die Russen im Falle der Krim nach dem Zusammenbruch der Vasallenbeziehung des neuen ukrainischen Staates zu Russland ebenfalls nur schwer zu ertragen ist. Insofern ist der „heilige“ Kiewer Rus eine für Russen tragfähige Grundlage für eine weitere Expansion nach Westen und eine entsprechende Eroberung der Ukraine.

Ein anderes Kodewort ist „Geopolitik“. Panslawisten (wie auch Pangermanen) haben immer auf die gemeinsamen geopolitischen Bedingungen Russlands und Deutschlands verwiesen, die sie dazu zwängen, nicht in Übersee, sondern auf dem europäischen Kontinent zu expandieren, um Lebensraum für den eigenen Stamm zu gewinnen. In der Tat ist die Geschichte Russlands auch eine der völkischen Kolonisation, die mit der Errichtung der Sowjetunion einen zweiten Frühling erlebte; der erste war die Kolonisierung der eroberten Gebiete im Kaukasus, aber auch der Krim. Anders wären die russischen Minderheiten im Baltikum, aber auch in Moldawien und der Ukraine nicht entstanden, was den Satz Putins „Russland ist dort, wo Russen leben“ so bedrohlich macht, aber eben auch eindeutig in die panslawische Ecke weist.

Der frühe Panslawismus nahm seinen Ausgang in den slawischen Nationen Österreich-Ungarns und des osmanischen Reiches, und hier in den sich unterdrückt fühlenden intellektuellen Mittelschichten, und er gewann breite Sympathien in Russland. Der moderne Panslawismus nimmt seinen Ausgang in der russischen Nation selbst, die sich vom Westen gedemütigt fühlt, und stößt mittlerweise auf eine enorme Attraktivität bei den Panslawisten in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa. Sowohl auf der Krim wie auch in ostukrainischen Gebieten hat es von den Separatisten organisierte „Volksabstimmungen“ gegeben, deren Abhaltung aus prinzipiellen Gründen aber auch aus Gründen ihrer Unvereinbarkeit mit den Werten freier, gleicher und geheimer Abstimmungen abgelehnt werden müssen. Deshalb gab es keine Wahlbeobachter anerkannter demokratischer Institutionen. Eine Reihe von sog. freiwilligen Wahlbeobachter stammte allerdings aus dem rechtspopulistischen Millieu Westeuropas (FPÖ Österreichs, Front National Frankreich, Lega Nord Italien und Flaams Belang Belgien) und Polens. Einige dieser Parteien hegten Sympathien für die Abspaltung der Krim, weil sie selbst separatistische Ziele (Südtirol, Norditalien, Flamen) hegen. Einige Wahlbeobachter stammten aber auch aus panslawistischen Netzwerken Mittel- und Südosteuropas. Ein Beispiel dafür ist der polnische Politiker Mateusz Piskorski, der Verbindungen zu französischen Rechtsextremisten hat. Seine Gesellschaft für Geopolitik (sic!) findet übrigens ein Pedant in Mecklenburg-Vorpommern.Ein Großteil der bulgarischen Parlamentsabgeordneten ist in der bulgarisch-russischen Freundschaftsgesellschaft organisiert, und diese Gesellschaft hat Putin zur Annexion der Krim gratuliert. Bulgarien zählt neben Serbien zu den wichtigsten Ansatzpunkten Putins für Zwietracht in der EU.

Wir wissen nicht, ob Putin Panslawist ist oder über die entsprechenden Codewörter den Panslawismus nur als politisches Instrument einsetzt, um EU und NATO zu spalten und zu schwächen. Die europäische Politik muss daher in erster Linie eine Übertragung panslawistischer Bestrebungen in die eigenen Länder verhindern. Dabei gilt es, den Bevölkerungen der slawischen Staaten das Gefühl zu vermitteln, in der Europäischen Union willkommen zu sein und gleichberechtigt mitwirken zu können. Dazu gehört auch, Wachstum und Entwicklung armer Regionen vorrangig zu fördern.

posted: 8th December 2014.

[1] Hannah Arendt: Ursprünge und Elemente totaler Herrscht, Kapitel 8.