Ulrike Leonhardt: Mein Weg zu Edwin Drood

Ungelöste Rätsel haben etwas Beunruhigendes. Wenn es sich dabei um eine nicht zu Ende geschriebene Geschichte handelt, deren Titel ein «Geheimnis» ankündigt, ist die Verlockung groß, sich an einer Lösung zu versuchen.

Immerhin hatte Charles Dickens, als er am 9. Juni 1870 starb, die Hälfte seines Romans zu Papier gebracht, zum Druck gegeben und auch schon mit Illustrationen versehen lassen: sechs der geplanten zwölf monatlichen Lieferungen. Wir kennen nicht nur die beiden Schauplätze der Handlung, Cloisterham/Rochester und London, sondern auch so gut wie alle Personen, die mittelbar oder unmittelbar in das mystery verwickelt sind. Und wir ahnen, wer der Schuldige ist, der den jungen Edwin Drood in der Weihnachtsnacht hat verschwinden lassen: sein nicht viel älterer «Onkel», der leidenschaftliche und opiumsüchtige Kirchenkantor Jasper. Doch im letzten Kapitel läßt der Autor seine Leser ratlos zurück: Wer ist der seltsame «Neuankömmling in Cloisterham», der geheime Ermittlungen anstellt und der Lösung des Falles nahe zu sein scheint?

Als Dickens' riesige Lesergemeinde begriff, dass es nach der mit Spannung erwarteten letzten Nummer kein tröstliches «Fortsetzung folgt» geben würde, redete man sich in den viktorianischen Salons die Köpfe heiß. Komplettierungsversuche, Bearbeitungen, Bühnenfassungen jagten einander, in spiritistischen Sitzungen wurde sogar die «Geist-Feder» des dahingeschiedenen Autors bemüht — die erstaunliche, inzwischen mehr als einhundertzwanzig Jahre währende Rezeptionsgeschichte des Romanfragments hat Burkhart Kroeber im Vorstehenden beschrieben. Der bisher letzte Beitrag war die 1989 erschienene, geistreich-ironisch aufbereitete Wahrheit über den Fall D. des italienischen Autoren-Duos Fruttero & Lucentini.

Als ich vor vielen Jahren Dickens' Unvollendete zum ersten Mal las, dachte ich nur: wie schade, dass die Geschichte kein Ende hat! Doch Edwin Drood ließ mir keine Ruhe. Ich malte mir genußvoll-schaurig die Umstände seines gewaltsamen Todes aus, dann wieder sah ich ihn quicklebendig als Ingenieur in Ägypten unter Palmen wandeln. Seltsamerweise stellte sich die Lektüre der Sekundärliteratur als wenig hilfreich heraus. Ich merkte bald, dass es leichter ist, das Für und Wider einer Theorie abzuwägen, als die Geschichte Wort für Wort, Kapitel für Kapitel zu Ende zu erzählen. Ob eine bestimmte Romanfigur in einer bestimmten Situation so reden und handeln konnte, wie ich es mir vorstellte, konnte ich nur herausfinden, indem ich sie reden und handeln ließ. Also stürzte ich mich in das Abenteuer und begann zu schreiben.

Für den Anfang meines ersten eigenen Kapitels holte ich mir Anregungen aus dem so genannten Sapsea-Fragment: fünf handgeschriebene Seiten von Dickens, die keinen Anfang und kein Ende haben und in der Ich-Form beschreiben, wie Mr. Sapsea, der Bürgermeister von Cloisterham, seine Mitgliedschaft im «Achter-Club» aufkündigt und einen geheimnisvollen Fremden namens Poker kennen lernt. Außer diesen fünf Seiten fanden sich in Dickens' Nachlass keinerlei Aufzeichnungen für die weiteren Folgen. Zwar hatte er einige Andeutungen gegenüber seinem Freund und späteren Biographen John Forster, seiner Tochter Kate und seinen Illustratoren gemacht. Doch deren Aussagen sind Berichte aus zweiter Hand, zum Teil erst Jahrzehnte später aus der Erinnerung hervorgekramt, zudem vage und widersprüchlich. Fest steht allein, dass Dickens die Lösung des mystery niemandem verraten wollte, bevor nicht das letzte Wort auf dem Papier stand.

Selbst in seinen Notizen für die ersten fünf Lieferungen (die für die sechste vorgesehene Seite blieb leer) hat sich Dickens so kryptisch-knapp ausgedrückt, als wollte er noch an seinem eigenen Schreibtisch das Geheimnis vor fremden Augen bewahren. Trotzdem fand ich dort einige Hinweise, die, zusammen mit den zahlreichen «Indizien» im Roman selber, Aufschluss über Einzelheiten der geplanten Fortsetzung geben. Gleich am Anfang seiner Notizen bezeichnet Dickens die Bibelworte «Wenn aber der Gottlose» als die key-note der Geschichte, also den Grundton, den Hauptgedanken. Ich habe versucht, diesen Grundton gegen Ende des Romans

neu anzuschlagen (im Kapitel 36). Die Idee zum 30. Kapitel kam mir beim Lesen der Varianten, die Dickens für den Titel seines Romans hingeschrieben und wieder durchgestrichen hatte. Eine von ihnen lautet: The Mystery in the Drood Family — es muss also wohl ein Geheimnis in der Familiengeschichte seines Titelhelden gegeben haben. Das brachte mich dazu, die Biographie jener Frau zu erfinden, die Dickens gleich im ersten Kapitel auftreten lässt: Sally, die «Prinzessin Pafferin», erhielt in meiner Fortsetzung mehr als nur eine Nebenrolle.

Wichtige Hinweise finden sich auf dem Deckblatt der Erstausgabe. Der Autor hat seinem Illustrator zwar sicher nicht das Ende des Romans verraten, aber er musste ihm doch Anweisungen für die Vignetten rund um den Titel geben. Neben Szenen aus dem vorhandenen Text hat Charles Collins kleine Bilder gezeichnet, die sich nicht ohne weiteres zuordnen lassen: Ist das ein Brautpaar, das oben links Arm in Arm vor der Kathedrale steht? Wer ist der Mann, der unten rechts die Wendeltreppe im Turm hinaufhastet? Was machen die beiden Männer in dem dunklen Raum unten, der eine mit heller Laterne, noch in der Tür, und der andere, der ihn offenbar erwartet hat? Ich habe die Miniaturen zu deuten versucht und sie an passender Stelle in meinen Text eingesetzt.

Eine große Hilfe fand ich dort, wo ich sie nicht erwartet hatte. «Aus triftigen Gründen, die sich im Laufe dieser Erzählung von selbst ergeben werden», beginnt der Autor das dritte Kapitel, «müssen wir der kleinen Stadt mit der alten Kathedrale einen fiktiven Namen geben. Nennen wir sie hier Cloisterham.» In einem anderen seiner Romane, den Pickwickiern, nennt er sie bei ihrem richtigen Namen: Rochester. Hier in Kent hatte Dickens glückliche Kindeljahre verlebt, hierher ist er in älteren Jahren zurückgekehrt. Er starb in seinem nicht weit von Rochester gelegenen Haus Gad's Hill Place und wollte auf dem alten Friedhof neben der Kathedrale begraben werden, nicht ahnend, dass ihm ein Ehrenplatz in der Westminster Abbey als letzte Ruhestatt zuerkannt werden würde.

Dass Cloisterham tatsächlich Rochester ist, bezeugt auf indirekte Weise das Frontispiz der Erstausgabe (hier ebenfalls links neben dem Titelblatt abgedruckt): im Hintergrund die Kathedrale, vorn am Fluss Medway die normannische Burg, stolz und mächtig, heute noch das beherrschende Bauwerk im mittelalterlichen Stadtbild. Doch ebendiese Burg hat Dickens in seiner Topographie der Stadt ausgespart — offenbar um den klerikalen Charakter seiner Geschichte zu betonen.

Ich glaubte zu träumen, als ich in Rochester wirklich sah, was ich bis dahin nur als Leserin vor dem inneren Auge gesehen hatte: die high street mit Miss Twinkletons Nonnenhaus, den Hilfskanonikuswinkel, Mr. Topes Dienstwohnung, Jaspers Torhaus, den alten Friedhof, den «Blauen Bullen», in dem Mr. Tartar übernachtete (ich übrigens auch), und vor allem die Kathedrale, allerdings mit einem neuen spitzen Dach auf dem Turm, einer Rekonstruktion des mittelalterlichen Turmprofils. Rochester kann sich rühmen, dass von den vielen Gebäuden, die Dickens in seinen Romanen beschreibt, noch fünfzehn erhalten sind, alle schön beschriftet, so dass der Besucher weiß, in welchem Roman er sich gerade befindet. Meist wandelt er auf den Spuren Edwin Droods.

In London, dem zweiten Schauplatz des Romans, ist die Spurensuche schwieriger. Freundliche Hinweisschilder («Hier stand das Haus mit der Kanzlei von Grewgious») waren in der Weltstadt kaum zu erwarten. Ich hatte gelesen, dass ein Haus mit der Inschrift «P. J. T. 1747» tatsächlich existiert hatte, aber gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von einer deutschen V2-Rakete zerstört worden war, und so erwartete ich mir nicht viel von einem Besuch in Staple Inn. Ich glaubte ein zweites Mal zu träumen, als ich an einem schönen Sommerabend vor dem liebevoll restaurierten Haus stand und die Spatzen wie zu Dickens' Zeiten im staubigen Grün des stillen Innenhofs zwitschern hörte. Im Haus schräg gegenüber, erbaut von einem T. L. P. im Jahr 1753, entdeckte ich drei Dachfenster, auf deren breitem Sims zweifellos Mr. Tartar seine Feuerbohnen zog und hinter denen ein blasser Neville über seinen Büchern brütete. Meine letzten Zweifel, ob ich es wagen dürfte, Mr. Grewgious, Mr. Tartar, Rosa und all die anderen weiterleben und weiter agieren zu lassen, verschwanden mit den Strahlen der über Staple Inn untergehenden Sonne.

Eine Hilfe für meine Arbeit habe ich noch nicht erwähnt. Ohne sie hätte ich nur ein Gedankenkonstrukt errichten, aber keine Geschichte schreiben können. Mit Dickens' Erzählweise, seiner Sprache und seinem Stil war ich seit vielen Jahren vertraut, in der Sprache seiner bisherigen deutschen Übersetzer hätte ich jedoch nicht weiterschreiben können, sie kam mir steif und farblos vor. Als ich Burkhart Kroebers neue Übersetzung entdeckte, merkte ich gleich auf der ersten Seite: Ja, so geht es, so haben sie gesprochen, Jasper und Rosa, Neville und Helena und Vize, der Lausejunge. In dieser Sprache konnte ich die Geschichte weiterführen bis zu ihrem Ende.

G. K. Chesterton, der geistige Vater des unsterblichen Pater Brown, schrieb in seinem Vorwort zum Mystery of Edwin Drood: «Der einzige von Dickens' Romanen, den er nicht vollendet hat, war der einzige, der wirklich ein Ende brauchte.» Während alle anderen nur aus mehr oder minder lose verknüpften Episoden bestünden, so sein Argument, habe allein Dickens' letzter Roman eine straff gespannte Handlung und einen Plot — «too much plot», klagt Chesterton, zu viele offene Fragen und Verwicklungen in dieser Mordgeschichte, die er «a detective story first and last» nannte. Ob «mein» Ende die einzig schlüssige Lösung dieses mystery bringt, mögen die Leser entscheiden. Ich jedenfalls glaube es — sonst hätte ich mit dem Schreiben gar nicht erst angefangen.