Ulrike Leonhardt: Das Geheimnis des Edwin Drood, fortgeschrieben und zu Ende geführt

Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.03.2002, S. 54

Das Fragment hat seine eigene Ästhetik; das gilt sowohl für die historisch beschädigte wie für die künstlich angelegte Ruine. Ein Sonderfall ist das Fragment durch Stockung: das unvollendete Haus. Nicht abgeschlossene Romane gibt es viele; wenige enthalten den Kitzel eines ungelösten Rätsels. Das klassische Beispiel in der deutschen Literatur dürfte Schillers "Geisterseher" sein: der schauerromantische Entwurf eines Verschwörungsromans, liegengelassen, weil dem Autor die plausible Auflösung nicht recht gelingen wollte und weil auch sein Interesse rasch erlahmte. Man wird nicht unbedingt bedauern, daß er die Geschichte nicht vollendet hat; vielleicht hätte er das auch gar nicht viel besser gekonnt als Hanns Heinz Ewers, der geschickte Kitschier und "commis voyageur ins Transzendente" (Karl Kraus), der 1922 einen Schluß erfand. Die englische Literatur aber kennt einen Fall, in dem nicht Lustlosigkeit oder Unvermögen den Spannungsroman eines großen Autors zum Fragment gemacht haben, sondern der Tod.

Am 9. Juni 1870 starb Charles Dickens, in gewisser Weise Opfer seiner histrionischen Leidenschaft: Er hatte seine Gesundheit durch die melodramatischen Lesungen, bei denen er unter anderem Nancys Ermordung durch Bill Silkes ("Oliver Twist") zum besten gab, gefährlich strapaziert. Unvollendet blieb sein fünfzehnter Roman, "The Mystery of Edwin Drood". Wie alle Romane des Autors war er in Lieferungen erschienen; wie bei kaum einem anderen breitete Dickens den Schleier des Geheimnisses über den Ausgang. Denn es handelte sich um einen Kriminalroman. In stärkerem Maße noch als in "Bleak House" (1853), wo immerhin der erste richtiggehende Detektiv der englischen Literatur erscheint, Inspektor Bucket, wird im "Edwin Drood" die Frage nach dem "Geheimnis" des Titels zum eigentlichen Motor der Erzählung. Im "Edwin Drood" fallen Kriminalrätsel und zentrales Interesse des Romans vollkommen zusammen. Und wir wissen nicht in allen Einzelheiten und vielleicht nicht einmal grundsätzlich, worauf Dickens hinauswollte.

Seitdem sitzen Philologie und Amateurscharfsinn da, gebeugt über die eigentlich nicht sehr zahlreichen und doch verblüffende Kombinationen gestattenden Indizien — Mitteilungen von Zeitgenossen, unter anderen von Dickens' Freund und Biographen John Forster; die schon im voraus geplanten Illustrationen (der hier anzuzeigenden Ausgabe beigefügt); die dem Text selbst ablesbaren Planungsspuren. Man hat mit dieser Beschäftigung fast sofort nach Dickens' Tod begonnen und im Lauf der Zeit nicht nur die erstaunlichsten Theorien entwickelt, sondern eine beträchtliche Anzahl von Schlüssen als ausgeführte Erzählungen niedergeschrieben, um unbedingt eine vollständige Version zu erstellen.

Mit dem "Edwin Drood" tritt Dickens in eine direkte Konkurrenz zu seinem Kollegen und Rivalen Wilkie Collins. Die Beziehung der beiden war anfänglich recht harmonisch. Dickens hatte den Jüngeren gefördert; Collins' sensationelle "Woman in White" war 1860 in Dickens' Periodikum "All the Year Round" erschienen. Doch dann war ein Punkt erreicht, wo Dickens in dem jüngeren Mann, der mit solcher Verve komplizierte schauerromantisch-detektivische Handlungen zu ersinnen vermochte, einen Rivalen erblickte: Ihn auf seinem ureigensten Feld auszustechen, mit der ingeniösen Konstruktion eines spannenden und unheimlichen Rätsels, war nun sein Ehrgeiz.

Und Dickens, dieser Liebhaber des Theaters und Connaisseur der Verstellung, hat hier höchst ambitionierte Täuschungsversuche unternommen, um den Leser in die Irre zu führen. Es gibt Passagen, ja ganze Dialoge, die offensichtlich daraufhin konstruiert sind, daß man sie doppelsinnig lesen kann und daß der Leser sanft in die Richtung eines falschen Verdachts gelenkt wird. Aber welcher Verdacht ist der jeweils falsche? Hat John Jasper, der Leiter des Kathedralchores in dem stillen kleinen Städtchen Cloisterham, seinen verschwundenen Neffen Edwin Drood aus Eifersucht ermordet? Ist der Verschwundene überhaupt tot? Wer ist der merkwürdige Datchery, der in der Stadt auftaucht und Nachforschungen anstellt? Wer hat hier wen beeinflußt in dieser Atmosphäre voll bannender Blicke? Dickens spielt mit der Hypnose und dem Mesmerismus, er macht — um auch hier Collins auszustechen — Andeutungen, die in einen mysteriösen Orient führen. Entsprechen die rekonstruierbaren Details des Mordes genau jenen, welche die rituelle Praxis den indischen Thugs vorschreibt?

Der Mann, der mit "A Christmas Carol" 1843 das Genre der Weihnachtserzählung erfunden und herzhaft praktiziert hat, schreibt hier ein Buch, das den Heiligabend zum Zeitpunkt eines minutiös geplanten Mordes macht. Die Interpreten haben überhaupt feststellen wollen, daß in diesem Roman Dickens sich über das im Spätwerk Erreichte hinaus noch einmal radikalisiert: daß er zu einer ungeahnt "schwarzen", abgründigen Sicht auf die zeitgenössische Gesellschaft vordringt. Edmund Wilson hat diese These als einer der ersten in seinem großen Dickens-Aufsatz vertreten. Die Pathologie der viktorianischen Gesellschaft wäre demnach Gestalt geworden in dem in sich gespaltenen Jasper, dem aus Wohlanständigkeit und Mordgier zusammengesetzten Täter des Falles Drood. Aberwissen wir wirklich, daß Jasper der Täter war?

Es spricht vieles dafür, aber beileibe nicht alles. 1964 hat Felix Aylmer in "The Drood Case" ingeniös darzulegen versucht, daß Jasper im Gegenteil der Retter Droods ist. 1989 haben sich Carlo Fruttero und Franco Lucentini das Vergnügen gemacht, unter dem Titel "La verità sul caso D." das Fragment auf einer Phantom-Tagung in Rom durch die meisten der großen Detektive der Literatur, von Holmes bis Poirot und von Father Brown bis Nero Wolfe, analysieren zu lassen. Ihr "Fall D." ist ein Fall Drood — der nicht lösbar ist: sie spielen mit der Multiplizität der Lösungsmöglichkeiten — und gleichzeitig ein Fall Dickens; diesen erfinden und lösen sie, indem sie das Rätsel des Romanfragments mit Dickens' Biographie in ihren Rivalitäts-Zügen verknüpfen und Dickens von Wilkie Collins ermorden lassen. Burkhart Kroeber hat das Buch der beiden Turiner Autoren dann 1991 übersetzt — es besteht in einer a-b-a-b-Sequenz aus Dickens' Romankapiteln und den Interventionen der versammelten Detektive. Die Manesse-Ausgabe des "Edwin Drood" bietet nun Kroebers überarbeitete Übersetzung von Dickens' zweiundzwanzig Kapiteln sowie eine "Fortschreibung" des Fragments von Ulrike Leonhardt, die Dickens' Text Kapitel 23 bis 38 hinzufügt.

Also ist dem rätselvollen Fragment wieder einmal ein Schluß geschrieben worden. Ist er befriedigend? "Das Geheimnis des Edwin Drood" ist zweifellos mehr als ein Kriminalroman, aber es ist eben auch ein Kriminalroman — im Sinne von Genrekonventionen. Für die Aficionados sei nur angemerkt: Die Zweitautorin wählt ohne Umschweife die Forstersche Lösung.

Folgt der Rezensent der Logik des Spiels und will nichts verraten, so klingt sein Urteil über das Gelingen der Fortsetzung leider sehr apodiktisch. Es lautet: Ulrike Leonhardts Schluß mag als Simulation von Dickens' Stil zur Not durchgehen (und mehr als dieses "zur Not" wird man ja, noch dazu im Deutschen, kaum erwarten dürfen — Dickens' Prosa überzeugend nachzuschaffen bedürfte der Genialität eines Max Beerbohm). Von der Romankonstruktion her bleibt der neue Schluß unbefriedigend. Details sind hier nicht tunlich; zu einer vergleichsweise winzigen und doch entscheidenden Einzelheit allerdings sei bemerkt: Aylmers Erklärung für den unheimlichen Schrei in der Weihnachtsnacht 1841, genau ein Jahr vor dem Mord, ist ungleich überzeugender als die von Ulrike Leonhardt, die dem Steinmetzen Durdles — ausgerechnet — das zweite Gesicht schenken muß. Das ist gewissenhaft entworfen, aber grotesk unwahrscheinlich. In ihrer Nachbemerkung schreibt die Autorin der Fortsetzung, der Leser möge entscheiden, ob ihre Lösung die einzig schlüssige sei. "Ich jedenfalls glaube es — sonst hätte ich mit dem Schreiben gar nicht erst angefangen."

Auch dieser Ergänzung gelingt es nicht, den Reiz des Fragmentarischen durch die conclusio zu überspielen. Weshalb auch? Eines ist das Bedürfnis, das Rätsel zu Ende zu konstruieren, seine Fäden zu verknüpfen; es aber Satz um Satz mit Worten auszumalen, die an denen von Dickens gemessen notwendigerweise unendlich dürftig klingen, das ist ein anderes: ein Überflüssiges. Doch enthält die neue Ausgabe auch alles Notwendige in schöner Gestalt.

Charles Dickens: "Das Geheimnis des Edwin Drood". Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Burkhart Kroeber. Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt. Manesse Verlag, Zürich 2001. 765 S., geb., 25,- €.

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