IRRITATION, Zur Eröffnung am 15.4.2016 (Karin Thielecke)

Wir machen es Ihnen heute nicht leicht: am Eingang versperrt Ihnen ein „schwarzer Balken“ die Sicht, dann erfüllt der Frühling akustisch den Raum, so dass Sie vor lauter Vogelgezwitscher Mühe haben werden, dem ritualisierten Eröffnungsreigen mit seinen Wortbeiträgen zu folgen. Wir hatten Sie vorgewarnt: wir eröffnen die Ausstellungssaison 2016 mit der Ausstellung IRRITATION. Deshalb muss das Spiel mit der Verwirrung zur Einstimmung erlaubt sein.

Überhaupt: Wenn man sich in der Welt umschaut, scheinen wir derzeit von einer allgemeinen Stimmungslage der Irritation umgeben zu sein. Dort, wo für die einen der Spaß aufhört, fängt für die anderen die Kunst erst an. (Anmerk. d. Red.: Satire-Streit um Jan Böhmermann)

IRRITATION: Nichts ist, wie es scheint. Die Sinneseindrücke und Wahrnehmungsmuster geraten ins Wanken – die vermeintliche Routine ist gestört. Ein zentrales Merkmal der Irritation ist das Erleben von Fremdheit, das sich in unterschiedlichen Gefühlszuständen zu erkennen gibt: als Erregung, Verunsicherung,Beunruhigung, Verärgerung, Provokation bis hin zur existenziellen Erschütterung. Die Diskrepanz zwischen dem Erwarteten, das uns unsere Ordnungssysteme suggerieren, und dem spontanen Sinneseindruck deuten auf eine Lücke im Bewusstsein hin.

Wie produktiv das Moment der Fremdheit im Zusammenhang mit der Kunst jedoch sein kann und welche Anwendung die Irritation als künstlerische Strategie findet, zeigen die Werke der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler auf exemplarische Weise. Und ich darf verraten, dass auch wir im positiven Sinne irritiert waren, weil sich aus der Kombination der Einzelpositionen im realen Ausstellungsraum unerwartete Wechselwirkungen ergaben. Es entstanden thematische Verdichtungen und Verbindungslinien, die auch vermeintlich bekannte Arbeiten in neuem Licht erscheinen lassen.

ANJA KÖHNE erzeugt mit ihren Fotografien spekulative Bilder und verwickelt uns dabei in ein Spiel zwischen Vorstellungskraft und Wahrnehmung. Dabei bleibt der fotografierte Gegenstand oder die Alltagssituation meist unklar und rätselhaft. So wie das Ausstellungsmotiv auf der Einladungskarte: Ein schneebedecktes Bergmassiv oder der Rücken eines Riesensäugetiers? Nicht einmal der Titel trägt zur Auflösung bei.Durch enorme Vergrößerung des Motivs, den gewählten Bildausschnitt oder die Perspektive entwickelt das Bild ein Eigenleben und stellt sich kontinuierlich im Kopf der Betrachter her. Wir scheinen nicht anders zu können, als das Gesehene mit dem uns Bekannten abzugleichen und übersehen dabei vielleicht das Naheliegende.

Ein anderes Beispiel: Das „Boot“, das auf festem Grund steht und keinen seetauglichen Eindruck macht. Die Bilder irritieren, weil sie sich entziehen und uns mit der Fremdheit konfrontieren.

Dem Boot gegenüber liegt das Floß, gebaut aus standardisierten Europaletten, von NINA JANSEN. Die Installation trägt den Titel „vom Horizont eingeschlossen“. Und auch hier geht es um unsere Konstrukte der Wirklichkeit. Bepackt ist es mit gebrauchten Transportkisten, Kartons und Schachteln aus dem Depot des Kasseler Naturkundemuseums, versehen mit Warnhinweisen, Transportempfehlungen und dem Hinweis auf deren Inhalt: naturkundliche Objekte in deutscher und lateinischer Sprache benannt. Können wir der Deklaration trauen? Wir sind irritiert, denn unsere Vorstellungen und Vorurteile von den Dingen lassen uns misstrauisch werden.

Passt ein Büffel in eine Umzugskiste? Die flache Schachtel mit der Bezeichnung „Equus germanicus, Kaufungen“ konterkariert unsere metaphorischen Freiheitsbilder, die wir an ein Wildpferd (so die Übersetzung) knüpfen. Und die „Seespinne“ wird angesichts der verhältnismäßig großen grünen Kiste für den Spinnenphobiker zum Riesenungeheuer. Dass Eisbär und Katze sich einen Container teilen, überrascht seit der Domestizierung des Raubtieres am Beispiel von „Knut“ und „Flocke“ keinen mehr. Die schwarze Monitor-Kiste mit dem Video, auf dem die Figur eines Forschers (übrigens die Künstlerin selbst) mit angedeutetem Fernglas in freier Natur zu sehen ist, öffnet einen weiteren Horizont dieser Arbeit. Ein Versuch, der Welt habhaft zu werden durch die wissenschaftliche Methode der Einteilung, Klassifizierung, Beobachtung und Benennung. Und sie beschreibt die Methode der Künstlerin, einen fremden Blick auf die scheinbar alltäglichen Dinge zu werfen und den „Horizont neu zu vermessen“ (Gila Kolb).

Eine andere Art der Erkenntnissuche betreibt JÖRN PETER BUDESHEIM in seinem unabgeschlossenen Werkkomplex von „Menschen und anderen Tieren“. Darin thematisiert er die existenzielle Erschütterung der Gattung Mensch angesichts ihrer wankenden Vormachtstellung gegenüber dem Tier. Für den Künstler kein Grund zur Verzweiflung, sondern der Ausgangspunkt einer umfangreichen Recherche zum Verhältnis von Philosophie und Tier in historischen und aktuellen philosophischen Positionen (und anderen Quellen). Im übertragenen Sinn könnte man sagen, die Philosophie ist auf den Hund gekommen, zumindest hat der Künstler ein ganzes Archiv philosophischer Tiere zusammengetragen und sich zeichnend und malend seinen Reim darauf gemacht: Wittgensteins Fliege, die Schildkröten der Altgriechen, Kant und das Schnabeltier, Buridans Esel, die Fledermaus des Thomas Nagels, die Katze von John Austin, die Maus von Donald Davidson – um nur einige zu nennen.

Für JÖRN PETER BUDESHEIM ist das alles Material für die eigene Denkarbeit – und die geschieht bei ihm mit Pinsel und Stift. Selbstironisch zeichnet er sich selbst, angesichts der Verwendung „uralter“ Techniken, als Saurier. Hoffen wir, dass die Gattung der zeichnenden Künstler nicht allzu schnell ausstirbt.

Vom „Aufstand der Tiere“ zur Versammlung wesensartiger Figuren von CHRISTINE ERMER. Über 60 Holzobjekte – es könnten im Laufe der Ausstellung noch einige dazu kommen – bilden einen Schwarm und scheinen einen gemeinsamen Weg vor sich zu haben. Irritierend, dass es einem kaum gelingt, die aus dem natürlichen Wuchs der Äste abgeleiteten Formen nicht als amorphe Figuren oder Gestalten wahrzunehmen. Aus dem vertikalen Aufstreben machen unsere Wahrnehmungsroutinen den aufrechten Gang, auskragende Äste werden zu erhobenen Gliedmaßen und bei anderen Objekten zögert man nicht, sie als auf dem Kopf stehend zu beschreiben. Im Wahrnehmungsprozess erleben die Objekte eine Transformation. Der Titel „Verwirklichung“ bleibt vieldeutig und unabgeschlossen.

Im Kontext der Ausstellung und der medialen Bilderflut bzw. der Berichterstattung schleichen sich unwillkürlich befremdliche Bilder ein, die irritieren. Verlassen sie ihren Sockel oder stürzen sie ab? Was ist ihr Ziel?

Sie werden vielleicht das vor mir liegende Objekt (Zunge) von ANNA HOLZHAUER – angesichts der vielen, bisher gesprochenen Worte – als ironische Zustandsbeschreibung wahrgenommen haben. Eierschalenfarben mit samtiger Oberfläche und doppeltem Schwung. Aber in seiner Ausdehnung auch sehr monströs. Ein Versatzstück aus der Erinnerung. Zwei schwarze Rohre ragen auf der einen Seite heraus, als sei das Objekt ein Fragment und hätte irgendwo auf der Welt sein Gegenstück. Bei ANNA HOLZHAUER hat die Irritation Methode und sie inspirierte uns indirekt zu Titel und Thema dieser Ausstellung.

Die Künstlerin schafft plastische Gefüge und gibt den Wahrnehmungen skulpturalen Ausdruck voller Rätselhaftigkeit. Den schwarzen Balken vor Ihren Augen, der Ihnen die Sicht auf den hinteren Teil der Ausstellung verwehrt, habe ich eingangs schon erwähnt. Negierendes Schwarz: ein Werbebanner, eine Demoplakat, ein digitales Schriftband oder ein Prellbock? Keine populistischen Parolen,nur ein leeres Versprechen. Träger ohne Inhalt und Apparaturen ohne Funktion. Die zwei überdimensionierten Kabinen rechts daneben wirken wie auf Stelzen stehend, fragil und zart wie eine dreidimensionale Zeichnung im Raum. Die Objekte fügen sich in den Raum ein und verändern unsere Wahrnehmung.

Auch MARGRIT GEHRHUS verfolgt einen konzeptionellen Ansatz in ihrer künstlerischen Arbeit. Deshalb arbeitet sie bevorzugt in Serien und größeren Werkkomplexen. So wie in der Serie der kleinformatigen Zeichnungen mit dem Titel „Dendrologische Untersuchungen“. Ein historisches Fachbuch mit schwarzweißen Wissenschaftsillustrationen zur Baum- und Strauchkunde hat sie zur Auseinandersetzung angeregt. Die Künstlerin bewegt sich im Grenzbereich zwischen naturwissenschaftlicher Objektivität und subjektiver zeichnerisch-malerischer Ästhetik. Die botanischen Abbildungen haben sich durch die Zeichnungen verselbstständigt und bilden eigene Formationen. Die Pflanzenteile irritieren in ihrer „Isoliertheit“ und bekommen eine erotische Aufladung. In der gewählten Präsentationsform hier vor Ort, verliert sich der enzyklopädische Charakter einer botanischen Sammlung, an seine Stelle tritt eine narrative Komponente: eine Bildergeschichte komischer Figuren und Formen. Aus ihrem ursprünglichen Kontext wissenschaftlicher Ordnungssysteme gelöst, verlieren sie ihre Eindeutigkeit und entziehen sich dem Versuch einer Einordnung. Die zweite Serie „Gewölk“ ist eine Untersuchung energiegeladener Formen in der Natur. Auch hier irritiert die Auflösung der Bezugssysteme.

Sehen wir ein Buschwerk oder eine Wolke, den dichten Schaum der Gischt oder den aufsteigenden Rauch einer Explosion? Die Verwendung der „niederländischen Farbpalette“ unterstreicht den konzeptionellen Charakter der Untersuchung ebenso, wie die flächigen Bildränder. Es sind eben keine Landschaftsbilder oder naturalistischen Darstellungen von Naturphänomenen. Vielmehr geht es um die organisch-physikalische Struktur, die energetische, von innen nach außen strebende und wuchernde Formbildung. Die rasterartige Anordnung deutet eine Fortsetzung der künstlerischen Forschungsarbeit an, worauf sich die Betrachter freuen können.

Und nun abschließend zum „Klangteppich“ des heutigen Abends, den wir dem Künstler MARKUS STEIN verdanken. Seine vierminütige Videoanimation mit dem Titel „Ping Pong Flight“, die Sie als „Hintergrundbild“ während der Einführung nun mehrfach gesehen haben, passt wunderbar in das assoziative Themenfeld dieser Ausstellung.

Strahlend blauer Himmel über einer urbanen Brache, ein verlassenes Gebäude. Die Natur hat sich den Raum zurückerobert, Vögel zwitschern munter vor sich hin. Eine moderne Idylle. Alles könnte so vorhersehbar schön sein. Aber: Nichts ist, wie es scheint. Das langsame Erzähltempo der Videoarbeit lullt den Betrachter ein und führt ihn in die Irre. Und wenn die weißen Kondensstreifen eines Flugzeuges am Himmel auftauchen, gerät die Wahrnehmung ins Wanken. Gehen wir der Bildmanipulation auf den Leim? Was sind wir bereit zu glauben? Ich gebe zu, man fühlt sich irgendwie ertappt – und das löst humoristische Irritationen aus.

Tappen Sie nicht in die Falle zu glauben, dass nun schon alles zu den gezeigten Arbeiten und den vorgestellten Künstlerinnen und Künstlern gesagt worden sei, und besuchen Sie die Ausstellung im Laufe der nächsten drei Wochen noch einmal oder nutzen Sie die Gelegenheit zum Gespräch mit den Künstlerinnen und Künstlern.

Vielen Dank an die Künstlerinnen und Künstler und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Karin Thielecke

Fotos: Jörn Budeheim, Gert Hausmann