Joan Jonas

Irgendwo auf der Documenta 11 lese ich: "… die einzige Chance für Subversion liegt darin, die Tradition von Ideen zu studieren … " Zeichnungen. Fotografien. Videos. Texte. Gedichte. Leucht-Reklame. Stimmen. Geräusche. Musik. Skulpturen. Ready Mades. Theater. Tanz. Performance. Eine vieldimensionale Collage aus all dem sehe ich in Joan Jonas Installation "Lines in the Sand". Eine Installation, bei der ich mehr erahne als verstehe. Aber es lohnt, hier Zeit zu verbringen.

Ich habe aber einige Orientierungsprobleme: Nicht alle Verweise kann ich deuten. Ich kenne Hilda Dolittle (H.D.) nicht - ihr buchlanges Gedicht "Helen in Egypt" ebenso wenig wie ihren Aufsatz "A Tribut to Freud".

Es geht um Troja, Paris, Achilles, die schöne Helena, soviel ist mir klar …

Kurzfassung der Story

Priamus, der König der Stadt Troja hatte viele Kinder. Kurz bevor sein Sohn Paris geboren wurde, träumte seine Frau Hekuba, Paris werde einst Troja ruinieren. Priamus befahl daraufhin, das verdächtige Kind zu töten. Man ließ es aber ohne sein Wissen leben. Paris wuchs als Hirte auf, der den Göttern bald durch sein unbestechliches Urteil, seine Schönheit und Klugheit auffiel.

Deshalb machte ihn Zeus zum Preisrichter bei einem Schönheitswettbewerb zwischen Athene, Hera und Aphrodite. Der schönsten sollte er einen Apfel überreichen. Alle drei versuchten Paris zu bestechen, doch nur Aphrodites Angebot, ihn mit der schönen Helena verkuppeln, konnte Paris nicht widerstehen. Also sprach er ihr den Apfel zu. Enttäuscht beschlossen Athene und Hera, Troja zu vernichten.

Die griechische Expedition nach Troja

Paris outet sich bei Wettspielen, die er überlegen gewinnt, als Priamus‘ Sohn und wird von seinem Vater – auch gegen die Warnungen der Seher- aufgenommen. Unter einem Vorwand erschleicht sich Paris ein Heer und zieht nach Sparta. Er entführte Helena, die ihm ja von Aphrodite "versprochen" war, und bringt sie nach Troja. Alle griechischen Fürsten beschlossen daraufhin eine Strafexpedition nach Troja. Nur eine Minderheit wollte sich vor dem Kampf drücken: Odysseus spielte den Wahnsinnigen, Achilles wurde von seiner Mutter Thetis als Frau verkleidet. Doch sie wurden entlarvt und zur Teilnahme verpflichtet.

Durch eine Flaute wurde die Flotte zunächst am Auslaufen gehindert. Bis der Priester Kalchas, ein trojanischer Überläufer, Agamemnon riet, er solle seine Tochter Iphigenie opfern, um Artemis zu besänftigen. Als aber das Beil fiel, wurde Iphigenie von den Göttern nach Tauris entrückt, die Flotte konnte auslaufen …

Der Zorn des Achilles

Zehn Jahre belagerten die Griechen Troja. Wichtigster Kämpfer war Achilles mit seiner Truppe. Als aber Agamemnon ihm eine weibliche trojanische Geisel nimmt, zieht Achilles sich wütend von den Kämpfen zurück. Diese Gelegenheit nutzt Hektor von Troja zu einem Ausfall, bei dem er Achilles‘ Liebling Potroklus erschlägt. Achilles treibt daraufhin wutentbrannt die Trojaner in die Stadt zurück, erschlägt Hektor und schleift seine Leiche dreimal um die Stadt.

Achilles‘ Mutter hatte ihren Sohn nach seiner Geburt in den Styx, den Fluss der Unterwelt, getaucht, um ihn auf diese Weise unverwundbar zu machen. Doch an die Ferse, an der sie ihn gehalten hatte, konnte kein Wasser gelangen.

Genau dort trifft ihn im Kampf ein Pfeil des Paris und tötet ihn. Und die Mauern von Troja wollen und wollen nicht fallen.

Das trojanische Pferd

Da ersinnt Odysseus eine List: Die Griechen bauen ein großes hölzernes Pferd und verbreiten die Mär, das Pferd mache seinen Besitzer unbesiegbar …

Scheinbar geben sie Belagerung Trojas auf, während sich in Wahrheit ihre besten Kämpfer im Inneren des Pferdes verstecken. Der Priester Laokoon warnt zwar vor dem Pferd, doch Apollon sendet zwei Schlangen, die Laokoon samt seinen Zwillingssöhnen erwürgen. Priamus missachtet die Warnung und lässt das hölzerne Pferd in die Stadt schleppen.

Die Insassen warten die Nacht ab, steigen heimlich aus dem Pferd und öffnen die Stadttore. Es folgen Plünderungen, Massaker und Zerstörungen. Troja wird dem Erdboden gleichgemacht. Der Traum Paris Mutter hat sich erfüllt …

Helenas Entführung durch den Trojaner-Prinzen Paris als Ursache des Trojanischen Krieg ist nur die "offizielle" Version des Mythos. Eine andere Version, die des Lyrikers Stesichorus besagt, dass nur ein Phantom von Helena, in Troja war.

Die wahre Helena hingegen war in Ägypten. Auch Euripides Version "verlegt" Helenas Aufenthaltsort nach Ägypten. Warum? Helena ist nicht der Grund des Krieges. Es geht um Handelswege.

Man kann sie aus der Gleichung rauskürzen. Da sie nicht der reale Grund ist, erscheint sie auch bei Euripides nicht real, sondern als Phantom.


"The Greeks and the Trojans alike fought for an illusion."

Hilda Doolittle folgt diesen Versionen, Visionen. Aus dem gleichen Grund? Nicht ganz, vermute ich. Helena wird im "echten" Mythos zwar idealisiert, aber sie bleibt passiv, sie erleidet, erduldet Geschichte bloß. Die Helden sind andere. Es geht um die Rolle der Frau. Achilles und Paris "kämpfen um Helena" - H.D. kämpft um das Bild der Frau.

In dem1928 geschriebenen Gedicht "Helen" zeigt Hilda Doolittle, dass die "schöne Frau" von der Kultur, die vorgibt ihre Schönheit zu verehren, gehasst wird. Für patriarchalische Kulturen gilt: Nur eine tote Schöne ist eine gute Schöne. H.D.’s Helen ist passiv, reglos, eine bittere Parodie auf ihre statische Erscheinung in Gedichten von Homer bis Poe and Yeats. …

Drei Jahrzehnte später, in H.D.’s Nachkriegs-Meisterwerk "Helen in Egypt", Helen, von allen Griechen als Grund des Trojanischen Krieg gehasst, ist Helen wieder ihr Thema.

Diesmal verkündet das Gedicht, dass Helen von Troja, die für unsere Kultur archetypische Frau als erotisches Objekt, tatsächlich eine von Männer erzeugte Illusion, ein Phantom war und dass die Griechen und die Trojaner für eine Illusion kämpften. … (Susan Stanford Friedman, frei übersetzt)

Helen in Egypt "beschreibt" das Treffen von Helen und dem Geist Achilles nach dem trojanischen Krieg. Einer Version von Stesichoros folgend, erzählt Helen dem Geist, dass sie nie mit Paris nach Troja ging und dass eine Göttin sie für die Dauer des Krieges nach Ägypten brachte.

Ausgewählte und von mir (sehr) frei übersetzte Ausschnitte aus den Gedichten von Hilda Doolittle zu Helena:

Alle Griechen hassen

die unbewegten Augen in weißem Gesicht

den Glanz der Oliven,

wo sie stand

und die weiße Hand.

Alle Griechen beschimpfen

das fahle Gesicht, wenn sie lächelt,

hassen es noch mehr,

wenn es fahler und weißer wird,

erinnern vergangenen Zauber

und vergangene Leiden.

Griechische See unberührt,

Gottes Tochter, aus Liebe geboren.

Die Schönheit kalter Füße

und schlotternder Knie

könnte die alte Jungfer nur lieben

wenn sie flachgelegt würde,

weiße Asche unter dunklen Zypressen.

Zeit in ihrer Mond-Gestalt hier,

Zeit mit ihren ausufernden Sternen-Kreisen,

Zeit klein wie ein Kiesel,

Erinnerungen als wieder-verwertbare Dinge

aber was folgte zuvor, was danach?


eine Millionen vertraute Dinge,

Dinge erinnert, vergessen,

wiedererinnert, gesammelt

wiedergesammelt in anderer Folge


Ich erinnere mich nur an die Bewegung

einer griechischen Hand,

wie sie einen Schal bindet,

Ich erinnere mich nur an

das Schwanken des Schiffsmastes

das die Sterne zerteilt,


Ich erinnere mich nur an

den Kampf, meine Füße zu befreien

aus den verknoteten Schnüren

den Sprung ins Ungewisse;

Ich erinnere mich nur an

die Muscheln, weißer als Knochen

an das Riff eines wüsten Strandes;

Ich erinnere mich nur an

ein zerbrochenes Band

das Achill verlor

der Herrscher der Welt und Griechenlands

Ich erinnere mich nur

wie ich Befehle anzweifelte;


für diese Schwäche, dieses Wanken

wurde ich gejagt wie ein Untertan

wie der geringste Diener

den Gepäckwagen folgend

und den Lasttieren.


Neigten sich ihre Augen klassisch?

War sie Griechin oder Ägypterin?

Hat sie ein phönizischer Seemann gezimmert?

War sie Eiche oder Zeder?

War sie aus einem groben Stück geschnitten,

Aus Schiffsholz bei den Schiffbauern,

Und später dort gefesselt,

Oder war der Bug selbst

Nach ihrem Nixenkörper geformt,

Geneigt nach ihrem Nixenhaar?

War da ein Hauch von Farbe anfangs

In den Falten ihres Kleides,

Verwitterte das Blau später?

Haben sie ihre Arme, ihre Schultern retuschiert?

Hat sie jemals jemand tuschiert?

Gab es viele Liebhaber und Eiferer

Oder betete nur dieser eine sie an?

Trug sie einen Gürtel aus Seetang

Oder eine farbige Krone? Wie oft

Spürten ihre hohen Brüste die Gischt

Wie oft sind sie abgetaucht?


Helen | Achilles/Paris

Frau | Mann

Leben | Tod

Fiktion | Wahrheit

Passiv | Aktiv


"Past. Present. Future. She was never there."

Joan Jonas folgt H.D. … bis nach Las Vegas. Dort finden wir eine neuzeitliche Version des alten Ägypten, besser der Pyramiden. Schöner, leuchtender und authentischer noch als das Original. Eine 1:1 Kaufhausversion. Waren haben kein Gedächtnis. In einer Zeit ohne Geschichte betreibt Joan Jonas eine Archäologie der Bilder.

Es geht um verschüttete, verlorene und flüchtige Bilder, Schatten und Linien im Sand; Filme, Fotos, also Lichtbilder und Zeichnungen sind im Grunde nichts anderes.


In einer Szene sehen wir die Ausgrabung eines alten Bildgenerators …

Mit der gleichen Souveränität mit der sie Film, Zeichnung und "Tanz" mischt, vermengt sie auch Vergangenheit und Gegenwart und legt weit auseinander liegende Orte zusammen: Troja, Las Vegas, Ägypten, ihr Atelier. Reißt alles aus seiner zeitlichen und räumlichen, gewohnten Ordnung und ordnet es neu …


Mit der gleichen Souveränität mit der sie Film, Zeichnung und "Tanz" mischt, vermengt sie auch Vergangenheit und Gegenwart und legt weit auseinander liegende Orte zusammen: Troja, Las Vegas, Ägypten, ihr Atelier. Reißt alles aus seiner zeitlichen und räumlichen, gewohnten Ordnung und ordnet es neu …

"Teach me to remember.

Teach me not to remember."

… eine Millionen vertraute Dinge,

Dinge erinnert, vergessen,

wiedererinnert, gesammelt

wiedergesammelt in anderer Folge …



Vor Siegmund Freuds Arbeitszimmer, auf dem Weg zur berühmten Couch, hing ein Photo der Pyramiden, ähnlich dem in Joan Jonas Installation. Psychoanalyse und Archäologie sind verwandt. Natürlich. Geschichtsunbewußtsein freilegen.

Auch in Joan Jonas Installation finden wir eine Couch – aus Holz, wie das trojanische Pferd. Das eine zum ent-bergen. Das andere zum ver-bergen. Natürlich.