Leo Trotzki: Was wird aus der Sowjetrepublik? [Nach Schriften 1.1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936. Hamburg 1988, S. 39-52. Dort mit zahlreichen Fußnoten] Konstantinopel, 25. Februar 1929 Seit der Oktoberrevolution ist diese Frage nie aus den Spalten der Weltpresse verschwunden. Im Augenblick wird sie im Zusammenhang mit meiner Vertreibung aus der UdSSR diskutiert, in der die Feinde des Bolschewismus das Zeichen einer von ihnen längst erwarteten Wendung sehen. Natürlich liegt die Bedeutung meiner Vertreibung auf politischer, nicht auf persönlicher Ebene; gleichwohl möchte ich davor warnen, von diesem Ereignis vorschnell auf den »Anfang vom Ende« zu schließen. Man muss nicht erst daran erinnern, dass historische, im Unterschied zu astronomischen Prognosen nur unter ganz bestimmten Bedingungen gelten, Raum für Entscheidungen und Alternativen lassen. Wo es sich um einen Kampf zwischen lebendigen Kräften handelt, wird der Anspruch, den Ausgang exakt vorherzusagen, lächerlich. Die Aufgabe der historischen Prognose ist es, das Mögliche vom Unmöglichen zu unterscheiden und unter den theoretisch denkbaren die wahrscheinlichsten Entwicklungsvarianten auszumachen. Eine fundierte Antwort auf die Frage nach den Entwicklungstendenzen der sowjetischen Revolution lässt sich nur geben, wenn man ihre immanenten Triebkräfte und den internationalen Kontext der Revolution analysiert. Dafür braucht man ein ganzes Buch. In Alma Ata habe ich daran gearbeitet, und ich hoffe, es bald abschließen zu können. Hier kann ich nur grob die Richtung bezeichnen, in der man die Antwort auf die folgenden Fragen suchen muss: Steht die russische Revolution kurz vor ihrem Untergang? Haben sich ihre inneren Kräfte erschöpft? Was könnte aus der Liquidierung der Revolution resultieren – eine Demokratie? Eine Diktatur? Eine monarchistische Restauration? Der Verlauf eines revolutionären Prozesses ist bei weitem komplizierter als der eines Gebirgsbaches. Aber in beiden Fällen erweisen sich auch auf den ersten Blick hin paradox anmutende Richtungsänderungen schließlich als ganz normal, stehen ins Einklang mit den Naturgesetzen. Freilich darf man keine schematische Übereinstimmung mit solchen Gesetzen erwarten, muss vielmehr von den real gegebenen Bedingungen ausgehen, der Wassermenge, dem Bodenrelief, Stärke und Richtung der Winde, usw. In der Politik heißt das, nach den stärksten Aufschwüngen der Revolution die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit abrupter und andauernder Rückschläge vorherzusehen und, andererseits, in den Zeiten des größten Niedergangs – etwa in der Phase der Stolypinschen Konterrevolution (1907- 1910) – die Anzeichen eines neuen Aufschwungs zu erkennen. Zwei Hauptetappen der Revolution Die drei Revolutionen, die Russland in den vergangenen 25 Jahren durchgemacht hat, sind eigentlich nur Etappen eines einzigen revolutionären Prozesses. Zwischen den ersten beiden Revolutionen lagen 12 Jahre, zwischen der zweiten und dritten nur neun Monate. Die elf Jahre der sowjetischen Revolution lassen sich ebenfalls in eine Reihe von Phasen unterteilen, die zwei große Perioden bilden. Lenins Erkrankung und der Beginn des Kampfes gegen den »Trotzkismus« markieren die Grenzlinie zwischen diesen beiden Perioden. In der ersten spielten die Massen die entscheidende Rolle. Die Geschichte kennt kein Beispiel einer anderen Revolution, die solche Massen in Bewegung gesetzt hätte wie die Oktoberrevolution. Noch immer freilich gibt es Käuze, die die Oktoberrevolution für ein Abenteuer halten. Damit entwerten sie freilich die Sache, die sie verteidigen wollen; denn was soll man von einer Gesellschaftsordnung halten, die durch ein »Abenteuer« beseitigt werden kann? In Wahrheit beruht der Erfolg der Oktoberrevolution – die Tatsache, dass sie sich in den kritischsten Jahren gegen ein Heer von Feinden zu behaupten vermochte – auf der Aktivität und der Initiative der Massen in Stadt und Land. Nur auf dieser Basis konnten sich der improvisierte Regierungsapparat und die Rote Armee entwickeln. Das ist jedenfalls die wichtigste Schlussfolgerung, die ich aus meiner Erfahrung mit diesen Angelegenheiten ziehen kann. Die zweite Periode, die einen radikalen Wechsel der Staatsführung mit sich brachte, ist durch das offensichtliche Abflauen der Massenaktivität charakterisiert. Der Fluss kehrt in sein altes Bett zurück. Über die Massen erhebt sich höher und höher der zentralisierte Leitungsapparat; Sowjetstaat und Armee verbürokratisieren. Der Abstand zwischen der führenden Schicht und den Massen wächst. Mehr und mehr wird der Apparat zum Selbstzweck. Mehr und mehr ist der Funktionär davon überzeugt, dass die Oktoberrevolution gemacht wurde, um ihm die Macht in die Hände zu legen und ihm eine privilegierte Position zu verschaffen. Ich glaube, ich muss hier nicht betonen, dass das Aufzeigen der Widersprüche in der Entwicklung des Sowjetstaats nicht auf der Linie der abstrakten anarchistischen Negation des Staates überhaupt liegt. Mein alter Freund Rakowski hat in einem bemerkenswerten Brief, der die Entartung des Regierungsapparats und der Partei zum Thema hat, schlagend dargetan, dass sich nach der Machteroberung im Schoße der Arbeiterklasse eine von ihr unabhängige Bürokratie bildete, und dass diese Differenzierung zuerst funktionellen Charakter hatte, dann aber zu einer sozialen wurde. Die internen Veränderungen dieser Bürokratie entwickelten sich natürlich im Zusammenhang mit den Veränderungen der Gesamtgesellschaft. Im Zuge der »Neuen Ökonomischen Politik« lebte in den Städten eine breite kleinbürgerliche Schicht wieder auf. Die freien Berufe entstanden wieder. Auf dem Lande kam der reiche Bauer, der Kulak, hoch. Große Teile des Funktionärskörpers rückten, nachdem sie sich über die Massen erhoben hatten, dicht an die bürgerlichen Schichten heran und traten in familiäre Beziehungen zu ihnen. Mehr und mehr wurden Initiative und Kritik der Massen von Seiten der Bürokratie als unzulässige Einmischung betrachtet. Je geringer die politische Aktivität der Massen selbst wurde, desto leichter fiel es dem Staatsapparat, auf sie Druck auszuüben. In den letzten Jahren bekamen die Arbeiter von den Bürokraten und neuen Privateigentümern oft genug zu hören: »Ihr seid nicht mehr im Jahre 1918!« Das Kräfteverhältnis änderte sich zuungunsten des Proletariats. Dem korrespondierten Veränderungen in der Partei selbst. Keinen Augenblick darf man vergessen, dass die überwiegende Mehrheit der Partei, die jetzt mehr als eine Million Mitglieder zählt, nur eine sehr unklare Vorstellung davon besitzt, was die Partei in der ersten Phase der Revolution oder gar in der vorrevolutionären Phase der Illegalität gewesen ist. Es genügt, sich zu vergegenwärtigen, dass 75 - 80 % der heutigen Parteimitglieder nach 1923 in die Partei eingetreten sind. Die Zahl der Mitglieder aus der Zeit vor der Revolution liegt unter 10%. Seit 1923 wurde die Partei künstlich durch eine Masse halbgarer Neulinge aufgeschwemmt – Wachs in den Händen der Berufsapparatschiks. Diese Verwässerung des revolutionären Kerns der Partei schuf die Voraussetzung für den Sieg des Apparats über den »Trotzkismus«. Die Bürokratisierung von Staat und Partei zog Korruption und Willkür nach sich. Unsere Gegner sehen das natürlich voll Vergnügen. Sollten sie diese Erscheinungen indessen mit dem Fehlen einer parlamentarischen Demokratie erklären, so genügt es, auf die lange Reihe von Panama-Skandalen hinzuweisen, wobei man mit dieser Affäre selbst, die keineswegs die erste ihrer Art war, beginnen und vorläufig mit der Affäre um die Pariser Gazette du Franc und die um den ehemaligen Minister Klotz abschließen kann. Würde dann aber jemand einwenden, Frankreich sei eine Ausnahme und in den Vereinigten Staaten beispielsweise sei die politische Korruption unbekannt, so würden wir uns alle Mühe geben, ihm zu glauben … Aber kommen wir auf unser Problem zurück. Die Funktionäre, die sich über die Massen erhoben haben, sind in ihrer Mehrheit zutiefst konservativ. Sie glauben, dass für die menschliche Wohlfahrt schon alles Entscheidende getan worden ist, und hassen die Opposition aus ganzer Seele. Sie klagen die Opposition an, durch ihre Kritik Unzufriedenheit unter den Massen zu säen, die Stabilität des Regimes zu untergraben und die Errungenschaften des Oktobers durch die Perspektive einer »permanenten Revolution« zu gefährden. Diese konservative Schicht, Stalins Hauptstütze bei seinem Kampf gegen die Opposition, ist bereit, noch viel weiter als Stalin selbst oder der Kern seiner Fraktion nach rechts zu gehen, zu den neuen Eigentümerschichten. Daher rührt der aktuelle Konflikt Stalins mit dem rechten Flügel. Darum geht die Partei einer neuen »Säuberung entgegen«, nicht nur von »Trotzkisten«, deren Zahl seit den Ausschlüssen und Deportationen beträchtlich gewachsen ist, sondern auch von den verkommensten Elementen der Bürokratie selbst. Stalins halbherzige Politik hat sich auf diese Weise zu einem ständigen Hin und Her entwickelt, mit dem Ergebnis, dass die beiden Flügel der Partei, dass die Linke und die Rechte stärker geworden sind – auf Kosten der regierenden Fraktion der Mitte. Thermidor Obwohl der Kampf gegen die Rechten noch auf der Tagesordnung steht, bleibt Stalins Hauptfeind, wie eh und je, die Linke. Dieser Sachverhalt, über den sich die Linke seit langem im Klaren war, ist heute offenkundig. Bereits in den ersten Wochen der Kampagne gegen den rechten Flügel schrieb ich aus Alma Ata in einem Brief (vom 10.11.1928) an meine Gesinnungsgenossen, es sei Stalins taktisches Ziel, in einem günstigen Augenblick, »wenn der rechte Flügel genügend eingeschüchtert ist, sein Feuer jäh auf die Linke zu richten … Der Kampf gegen die Rechte dient nur der Vorbereitung einer neuen Attacke auf die Linke. Wer das nicht versteht, hat nichts verstanden.« Diese Prognose wurde rascher und gründlicher bestätigt, als man erwarten konnte. Wenn jemand in einer Revolution deren Zielen abtrünnig wird, ohne doch mit seiner alten sozialen Basis zu brechen, so ist er genötigt, seinen Niedergang als seinen Fortschritt, seine rechte Hand für seine linke auszugeben. Aus diesem Grund nennen die Stalinanhänger die Opposition »konterrevolutionär« und versuchen verzweifelt, ihre Gegner auf der Rechten und auf der Linken über einen Leisten zu schlagen. Dem gleichen Zweck dient von nun an die Bezeichnung »Emigranten«. In Wirklichkeit gibt es jetzt zwei Sorten von Emigranten: die einen wurden von der revolutionären Massenbewegung außer Landes getrieben, die anderen indizieren das Anwachsen von Kräften, die der Revolution feindlich sind. Wenn die Opposition in Analogie zu der klassischen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts von »Thermidor« spricht, so tut sie das, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Kampf der Stalinisten gegen die Linke (unter den eben skizzierten Bedingungen) den Ausgangspunkt einer schleichenden Veränderungen des sozialen Charakters der Sowjetmacht bezeichnen könnte. Die Frage des Thermidors, die im Kampf zwischen Opposition und regierender Fraktion eine so bedeutende Rolle spielt, bedarf näherer Erläuterung. Der ehemalige französische Ministerpräsident Herriot hat kürzlich erklärt, das Sowjetregime stütze sich seit zehn Jahren auf die Gewalt und habe sich schon damit selbst das Urteil gesprochen. Während seines Besuches in Moskau im Jahre 1924 stand Herriot, wie ich ihn damals verstand, dem Sowjetregime wohlwollender gegenüber, obgleich seine Haltung nicht eindeutig war. Jetzt aber, nachdem die Revolution mehr als zehn Jahre überdauert hat, glaubt er, der Zeitpunkt sei gekommen, der Oktoberrevolution den Kredit aufzukündigen. Ich gestehe, dass ich die Politik dieses Führers der französischen »Radikalen« nicht recht verstehen kann. Die Revolutionen haben niemals kurzfristige Wechsel ausgestellt. Die große Französische Revolution brauchte zehn Jahre, nicht, um die Demokratie, sondern um den Bonapartismus hervorzubringen. Gleichwohl steht außer Frage, dass, wenn die Jakobiner mit den Girondisten nicht fertig geworden wären und nicht gezeigt hätten, wie man mit der alten Ordnung radikal aufräumt, die ganze Menschheit heute einen Kopf kürzer wäre. Jede Revolution hat Konsequenzen für die ganze Menschheit gehabt. Aber die Revolutionen konnten nicht alle Errungenschaften, die auf ihren Höhepunkten erkämpft wurden, bewahren. Nachdem eine Klasse, eine Partei, bestimmte Individuen die Revolution gemacht haben, beginnen andere, davon zu profitieren. Nur ein unverbesserlicher Verteidiger des Ancien régime wird die allgemeine historische Bedeutung der großen Französischen Revolution leugnen; und doch war die ihr folgende Reaktion so stark, dass die Herrschaft der Bourbonen restauriert wurde. Der Thermidor war die erste Etappe auf dem Weg der Reaktion. Die neuen Beamten und Eigentümer wollten in Frieden die Früchte der Revolution genießen. Die alten, unversöhnlichen Jakobiner bedeuteten für sie ein Hindernis. Die neuen besitzenden Schichten wagten noch nicht, unter eigener Flagge aufzutreten; sie mussten sich hinter den Jakobinern verstecken. Für eine Übergangszeit fanden sie Führer im zweiten und dritten Glied der Jakobiner selbst. Diese Jakobiner schwammen mit dem Strom und bereiteten dem General Bonaparte den Weg, der mit seinen Bajonetten und dem Code Napoleon das neue Eigentum sicherte. Elemente eines thermidorianischen Prozesses sui generis finden sich auch im Lande der Sowjets. In den letzten Jahren treten sie deutlicher hervor. Die heutigen Machthaber haben bei den entscheidenden Ereignissen der ersten Revolutionsperiode entweder nur eine zweitrangige Rolle gespielt oder waren gar ausgesprochene Gegner der Revolution, die erst, als sie gesiegt hatte, zu ihr stießen. Sie dienen jetzt jenen Schichten und Gruppen zur Tarnung, die – Feinde des Sozialismus – zu schwach sind, um einen konterrevolutionären Umsturz ins Werk zu setzen, und darum einen friedlich-thermidorianischen Übergang auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft wünschen, »mit angezogenen Bremsen bergab rollen möchten«, wie einer ihrer Ideologen es ausdrückte. Es wäre jedoch ein großer Fehler, diesen Prozess als schon abgeschlossen zu betrachten. Zum Glück der einen, zum Pech der anderen sind wir von einer Entscheidung noch weit entfernt. Das Denken in historischen Analogien ist verführerisch, darum gefährlich. Die Annahme, Revolutionen unterlägen einem besonderen Ablaufgesetz und müssten von Bourbonen ausgehen, um – durch eine bonapartistische Phase hindurch – wieder bei Bourbonen anzukommen, wäre allzu oberflächlich. Der besondere Verlauf einer jeden Revolution wird bedingt durch eine spezifische Konstellation der sozialen Kräfte im nationalen Maßstab und durch die jeweilige internationale Situation. Gleichwohl gibt es gewisse Gemeinsamkeiten der Revolutionen, und diese ermöglichen und fordern die Bildung von Analogien, sofern wir aus der Geschichte lernen und sie nicht immer wieder von vorn anfangen wollen. Soziologisch lässt sich zeigen, warum jede siegreiche Revolution, die diesen Namen verdient, Tendenzen zum Thermidor, zum Bonapartismus und zur Restauration in sich birgt. Die reale Entwicklung hängt von der Stärke dieser Tendenzen, ihrer Kombination und den Bedingungen ihrer Entwicklung ab. Wenn wir von der Gefahr des Bonapartismus sprechen, glauben wir keineswegs, dass irgendein historisches Gesetz dessen Kommen determiniert. Das künftige Schicksal der Revolution hängt vom Verlauf der Kämpfe zwischen gesellschaftlichen Kräften ab. Ebbe und Flut werden dabei aufeinander folgen, und deren Dauer wird in starkem Maße von der europäischen und der Weltsituation abhängen. In einer Epoche wie der unseren geht eine politische Tendenz nur dann zugrunde, wenn sie die objektiven Ursachen ihrer Niederlage nicht versteht und sich wie ein Strohhalm fühlt, der auf den Fluten dahintreibt – falls man von einem Strohhalm sagen kann, er habe Gefühle. |
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