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Leo Trotzki 19371022 Über den revolutionären Kalender

Leo Trotzki: Über den revolutionären Kalender

22. Oktober 1937

[Brief an Jean Rous. Veröffentlicht im Internal Bulletin der SWP, Nr. 5, vom August 1938. Gezeichnet „Crux". Das Datum des Briefes von Rous konnte augenscheinlich nicht der 5. Mai gewesen sein. Nach Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, S. 289-294]

Teurer Freund,

In Ihrem Brief vom 5. Mai machen Sie mich auf einen angeblichen Widerspruch in der Einschätzung der Maitage in Barcelona zwischen dem Brief von Lund ("Der Aufstand in Katalonien – einige vorläufige Bemerkungen") vom 12. Mai 1937 und meinem Artikel („Erprobung der Ideen und Individuen durch die Erfahrung der spanischen Revolution") vom 24. August 1937 aufmerksam.

Dieser angebliche Widerspruch betrifft die Analogie mit den Julitagen in Petrograd. Sie sagen ebenfalls voraus, dieser „Widerspruch" würde den Pro-POUMisten nützen. Ich glaube nicht, denn das wäre wirklich zu unvorsichtig. Ich habe den Text der beiden Artikel noch einmal gelesen, und ich finde nicht den geringsten Widerspruch. Im Gegenteil – sie ergänzen einander.

Die historische Analogie

Jedes konkrete Geschichtsereignis ist von einer Vielzahl grundsätzlicher und zweitrangiger Faktoren bestimmt. Die Dialektik gewährt Faktoren zweiten, dritten und zehnten Grades entscheidenden Einfluss bei bestimmten Ereignissen. So kann man mit Gewissheit sagen, dass die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse nicht durch den sehr niedrigen Stand der Produktivkräfte, nicht durch die ungenügende Entwicklung der Klassengegensätze, sondern direkt und sogar ausschließlich durch den Bankrott der Partei der Arbeiterklassen bestimmt war. Daher wissen wir, dass die Partei den entscheidenden Platz in der Hierarchie historischer Faktoren besitzt.

Analysiert man die Julitage in Russland gründlich, dann findet man sämtliche Faktoren, welche die vorangegangene Geschichte des Landes festlegten: das Produktionsniveau, das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse, die Rolle der Bauern, den Platz, den Petrograd im nationalen Leben einnimmt, die Rolle der verschiedenen Parteien – ganz zu schweigen vom Einfluss des Krieges und dem enormen Gewicht der Armee. Es ist dann absolut klar, dass die Julitage sich niemals irgendwo wiederholen können. Welchen Sinn hat dann die Analogie? Nur um ein neues Ereignis von dem Gesichtspunkt aus zu beleuchten, der für uns im Augenblick für die Praxis vom größten Interesse ist. In diesem Sinne habe ich oft die Julitage als Beispiel für eine schwere Niederlage herangezogen, die indessen nicht entscheidend war und auch als eine unvermeidbare Etappe auf dem Weg zum Sieg betrachtet werden kann. Man muss jedoch hinzufügen, dass dieser Sieg keineswegs durch die Niederlage „gesichert" war, sondern dass er nur unter gewissen zusätzlichen Bedingungen, darunter einer richtigen revolutionären Politik, möglich wurde.

Worauf es vor allem ankommt"

Lunds Artikel, der aufgrund von „nicht nur unvollständigen, sondern auch vorsätzlich entstellten" Depeschen am 12. Mai 1937 geschrieben wurde, sagt: „Die Analogie zu den Ereignissen vom Juli 1917 ist zu augenfällig, um dabei zu verweilen. Worauf es vor allem ankommt, ist die Betonung, der Unterschiede." Der Verfasser ist somit durchaus nicht einverstanden mit dern Analogie. Er warnt im Gegenteil die Leser vor ihrer Unzulänglichkeit für eine Analyse und Prognose. „Worauf es vor allem ankommt," schreibt er, „ist die Betonung der Unterschiede. „ Die Analogie mit den Julitagen wurde unter Bedingungen herangezogen, die vor allem den Zwecken der unmittelbaren Propaganda dienten. Der Hauptzweck lag darin, die Besiegten zu ermutigen. „Die Russen erlitten im Juli ebenfalls ihre Niederlage, und waren imstande, die Macht zu ergreifen." Darauf beschränkte sich in diesem Falle die Analogie.

Darum sagte Lund, der sich nicht direkt an die Massen, sondern eher an die Führer wandte, in seinen Briefen im Wesentlichen: „Ihr benutzt natürlich das Beispiel des russischen Juli, um die Arbeiter zu ermutigen. Das ist so selbstverständlich, dass man dabei nicht verweilen muss. Aber vergesst nicht, dass unabhängig von dieser sehr allgemeinen Analogie, die für die unmittelbare Propaganda von Bedeutung ist, die Situationen absolut unterschiedlich sind, und dass unsere Analyse und unsere Prognose nicht so sehr auf den gemeinsamen Zügen als auf den Unterschieden basieren müssen." Lund bezeichnet die Maibewegung als „,spontan', d.h. sie brach für die Führer, die POUM-Führung eingeschlossen, unerwartet aus." (Wieder eine gewisse Analogie mit den Julitagen in Russland.) Aber in dem gleichen Brief kennzeichnet Lund die Maibewegung mit ihrem richtigen Namen – als einen Aufstand. Er ist weit davon entfernt, diesen Aufstand als „verfrüht" anzusehen. Er ist beunruhigt von den Meldungen über einen „Waffenstillstand" in Barcelona, während in Petrograd im Juli 1917 die Bolschewiki selbst nach einem Waffenstillstand trachteten.

Zu dieser Frage sagte Lund: „Was bedeutet der Waffenstillstand in Barcelona, von dem die Meldungen berichten: die Niederlage der Aufständischen, der in erster Linie auf die Inkonsequenz der Führung zurückgeht, oder die direkte Kapitulation der Führer, die der Druck der Massen in Furcht versetzt hat? Noch wissen wir es nicht. Für den Moment scheint der Kampf außerhalb Barcelona möglich?" Kurz zusammengefasst: für Lund steht die Frage einer aufständischen Bewegung, die – gleichgültig, wovon sie ausgegangen ist – durch die gesamte objektive Situation, die gesamte vorangegangene Geschichte der Revolution auf die Eroberung der Macht ausgerichtet ist. Die einzige Frage in dieser Situation bestand in der Haltung der Organisationen der Linken, der POUM und der Anarchisten. Das war die „vorläufige" Einschätzung Lunds, zur gleichen Zeit, als die Ereignisse sich abspielten.

Mein Artikel vom 24. August war in erster Linie gegen den Genossen Vereecken gerichtet. Worin besteht sein Fehler, oder besser einer seiner sehr zahlreichen Fehler? Er hat seine Einschätzung der Maitage auf die rein formale Analogie mit den Julitagen gegründet. Statt die Situation zu untersuchen, wie sie sich im Monat Mai 1937, nach mehr als sechs Jahren revolutionärer Entwicklung, ergab, findet Vereecken in dem schematisch angewandten Kalender den Schlüssel zur Lösung aller historischen und politischen Rätsel. Mit anderen Worten: Vereecken begeht genau den Fehler, vor dem uns Lund zu warnen versuchte, als er schrieb: „Worauf es vor allem ankommt, ist die Betonung der Unterschiede."

Die Machteroberung war im Mai möglich

Auf eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern, ohne im Besitz von Informationen zu sein, die man allein am Ort der Handlung finden würde, konnte man sich im Monat Mai noch fragen, ob die Machteroberung von der Situation her möglich war oder nicht. Seit damals jedoch sind Dokumente, Berichte, zahllose Artikel in der Presse aller Richtungen erschienen. Alle Tatsachen, alle Einzelheiten, alle Unterlagen führen zur gleichen Schlussfolgerung: die Machteroberung war möglich, war gesichert, soweit der Ausgang des Kampfes überhaupt im Voraus gesichert sein kann. Der wichtigste Beweis wird von den Anarchisten geliefert. Seit dem Maiaufstand hat Solidaridad obrera unaufhörlich das gleiche Klagelied gesungen: „Man beschuldigt uns, der Anstifter der Mairebellion gewesen zu sein. Aber wir waren völlig dagegen. Der Beweis? Unsere Gegner wissen es genau so gut wie wir: hätten wir die Macht ergreifen wollen, dann hätten wir das im Mai ganz gewiss tun können. Aber wir sind gegen die Diktatur, usw., usw."

Das Unglück ist eben, dass die CNT nicht die Macht wollte. Das Unglück besteht darin, dass die POUM-Führung sich passiv der CNT-Führung anpasste. Das Unglück (von sehr bescheidenem Ausmaß) will es, dass Vereecken, Sneevliet und Victor Serge sich passiv der Haltung der POUM anpassen. Schlimmer noch – im entscheidenden Moment, als wir die fatale Selbstgenügsamkeit der POUM zu erschüttern suchten („ihr eigenes" Gebäude, „ihr eigener" Rundfunksender, „ihre eigene" Druckerei, „ihre eigene" Miliz), als wir den Führern der POUM verständlich zu machen suchten, dass die Revolution ihre eigene unerbittliche Logik besitzt, die keine Halbheiten duldet (genau deswegen übrigens haben die Stalinisten die Sozialisten und Anarchisten verdrängt), genau in diesem kritischen Moment haben die Vereecken, Sneevliet und Victor Serge Knüppel zwischen die Beine geworfen.

Sie haben es vorteilhaft gefunden, die Führung der POUM gegen uns zu unterstützen, d.h. ihr Zaudern, ihre Inkonsequenz, ihren Opportunismus zu unterstützen. Die letzten Ereignisse haben die erbarmungslose Bestätigung all dieser Eigenschaften erbracht. Seit den sogenannten Julitagen ist die POUM nicht nur nicht gestärkt, sondern so gut wie vernichtet worden. Die CNT, der die POUM wie ein Schatten folgte, verliert jetzt eine Position nach der anderen. Wir wissen nicht, ob die spanische Revolution noch durch einen neuen Ausbruch von unten gerettet werden kann. Aber die CNT und die POUM haben wirklich alles getan, um den Sieg der Stalinisten, das heißt der Konterrevolution, zu sichern. Und Vereecken, Sneevliet und Victor Serge haben alles getan, um der POUM auf diesem Wege zum Abgrund zu helfen.

Die entscheidende Frage

Alle unsere Sektionen haben mit der größten Aufmerksamkeit die Entwicklung der Situation in Spanien verfolgt. Sieht man jetzt unsere internationale Presse und alle internen Bulletins durch, dann kann man mit Befriedigung feststellen, dass die große Mehrheit der Organisation verstanden hat, wie man die leninistische Methode auf die spanischen Ereignisse anwendet. Wir haben Berichte von Clart, von Moulin, von Braun erhalten, die zweifellos marxistisch wertvolle Beiträge darstellen. Unsere Organisation hat damit ihre theoretische Prüfung in einer Frage von historischer Bedeutung bestanden. Und in jedem Stadium haben die Genossen Sneevliet und Vereecken, mit der Unterstützung von Victor Serge, gegenüber unserer Position – und der Position der erdrückenden Mehrheit der Vierten Internationale – eine zentristische Haltung eingenommen, die ebenso scharf gegen das Internationale Sekretariat gerichtet war, wie ihre Perspektiven und Losungen unklar waren.

Als Genosse Sneevliet alle normalen Beziehungen zu unserer internationalen Organisation abbrach, als er mit unseren unversöhnlichen Gegnern gegen uns zusammenarbeitete, benutzte er dauernd das „schlechte Regime", „die Unfähigkeit" des Internationalen Sekretariats usw. als Vorwand. Genosse Vereecken tat das gleiche mit ein paar für ihn charakteristischen individuellen Variationen. Über die Frage des „Regimes" werden wir unserem Genossen Sneevliet noch einiges zu sagen haben, um nachzuweisen, dass der Bürokratismus, der das Parteileben erstickt, und Willkür eines Führers, der weder Programm, noch Thesen oder Diskussion mag, nicht die Norm in der Weltpartei der sozialen Revolution sein können. Aber heutzutage steht nicht die Frage des „Regimes", sondern wie man sich gegenüber der spanischen Revolution verhält. Die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten sind aufgedeckt worden. Die Politik der POUM war und bleibt (so weit die POUM überhaupt noch existiert) die Politik der Menschewiki. Die Vierte Internationale setzt die bolschewistische Tradition fort und entwickelt sie.

Unsere Methoden

Die Vierte Internationale steht erst am Anfang. Sie hat eine gewaltige Erziehungsaufgabe vor sich. Man muss Geduld haben. Wirft man einen Blick auf unsere Geschichte der letzten zehn Jahre zurück, dann kann man uns nicht mangelnde Geduld und Ausdauer vorwerfen. Ausschlüsse waren außerordentlich selten; man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen. Unsere Organisation hat immer die Methoden der Diskussion, der Überzeugung angewandt, und hat es der Zeit und den Ereignissen überlassen, den Beweis bei den strittigen Gesichtspunkten anzutreten. Die Spaltungen und Austritte waren das Produkt von Elementen und Gruppen, die trotz unseres besten Willens und pädagogischer Geduld von sich aus die Unvereinbarkeit ihrer „Tendenz" mit der bolschewistischen Organisation erkannten. Diejenigen, die sich angeblich wegen des „schlechten Regimes" der Vierten Internationale von uns trennten, sind einer nach dem andern in der Versenkung verschwunden. Jeder einzelne von ihnen, Landau, Witte, R. Molinier, Oehler, Weisbord, Field und andere, haben durch ihre eigene klägliche Erfahrung den Beweis angetreten, dass es nicht so einfach ist, aus dem Stegreif eine Tendenz zu schaffen, die außerhalb der Linie steht, die historisch durch eine über zehn Jahre währende Entwicklung, eine große historische Tradition und die ununterbrochene Kollektivarbeit marxistischen Denkens gebildet wird.

Genosse Sneevliet dachte schon lange daran, seine Partei von der internationalen Organisation zu trennen. Sicherlich hat er immer die Zahl „vier" benutzt, um seine Position zu bezeichnen. Aber außerhalb der Grundprinzipien, das heißt des bolschewistisch-leninistischen Programms, außerhalb unserer kollektiven Arbeit auf dieser Basis, wird die Formel der Vierten Internationale zu einer leeren, untauglichen Phrase. Diese immer zweideutigere Situation hat bereits fast drei Jahre lang angedauert, das heißt ein wenig zu lang für einen „revolutionären Kalender". Selbstverständlich wollen wir nicht die Trennung von unserer holländischen Sektion, ganz im Gegenteil. Woran uns wirklich liegt, ist ihre effektive Mitwirkung in unserem internationalen Rahmen, ihre wirkliche Teilnahme an unserem kollektiven Leben. Keine internationale Organisation kann es dulden, dass eine ihrer Sektionen durch eine Schallmauer getrennt bleibt, noch kann sie es hinnehmen, immer schärfere und unverantwortlichere „Anklagen" seitens des Genossen Sneevliet gegen unser „Regime", gegen unsere „Umgangsformen" zu vernehmen, um auf diese Weise seine grundsätzlichen Differenzen mit den Bolschewiki-Leninisten zu verbergen. Und natürlich versäumt Vereecken niemals eine Gelegenheit, um eine verkehrte Politik zu unterstützen; wobei es ihm gleichgültig ist, ob sie nach rechts oder nach links abweicht.

Wir müssen mit unserer Schwesterpartei in Holland eine gründliche Diskussion führen. Darin besteht die einzige Möglichkeit, eine Spaltung im Trüben zu verhindern, die bürokratisch vorbereitet und bürokratisch durchgeführt wird. Unsere belgische Sektion wird selbstverständlich an dieser Diskussion teilnehmen, die als Vorbereitung für die nächste internationale Konferenz dienen sollte. Wir werden dann wissen, wie man die Spaltung vermeiden kann. Wir werden gleichzeitig wissen, wie man diejenigen, die die Spaltung vorbereiten, davon abhalten kann. Wir werden aus der Diskussion reifer und einiger hervorgehen. Große Ereignisse kommen auf uns zu. Wir haben nicht das Recht, die gleichen Fehler zwei- oder dreimal zu wiederholen. Die spanische Revolution, so groß ihre Bedeutung auch sein mag, ist nur eine „Probe" weit größerer Ereignisse. Man muss aus dieser von der neuen Generation durchlebten Erfahrung alle Lehren ziehen. Nicht durch spitzfindige Interpretationen dieser oder jener Einzelfrage wird uns irgendjemand von unserem Weg abbringen können. Die Ereignisse haben gesprochen. Die internationale Konferenz wird ihren Sinn zu deuten wissen.

Crux

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