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Leo Trotzki 19400214 Die Zukunft der Vereinigten Staaten

Leo Trotzki: Die Zukunft der Vereinigten Staaten

[Auszug, Nach Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der Revolution, Frankfurt am Main 1981, S. 259-262]

Frage: Bedeutet die Diktatur des Proletariats notwendigerweise die Preisgabe der bürgerlichen Rechte, die in der Verfassung der Vereinigten Staaten verankert sind und zu denen natürlich auch Rede-, Presse-, Versammlungs- und Bekenntnisfreiheit gehören? Glauben Sie, dass es zwischen dem Kapitalismus, wie wir ihn in den Vereinigten Staaten kennen, und dem Kommunismus, wie Sie ihn sich in den Vereinigten Staaten vorstellen, einen Mittelweg gibt?

Frage: Sie sagten, dass der Kreml einen Krieg fürchtet, weil auf einen solchen Krieg eine neue Revolution der Massen folgen könnte. Würden Sie das näher ausführen?

Antwort: Erlauben Sie mir, beide Fragen zusammen zu beantworten. Werden die Vereinigten Staaten den revolutionären Weg beschreiten? Wann und wie? Um das Thema methodisch korrekt zu behandeln, möchte ich mit einer Vorfrage beginnen: Werden die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten?

In seiner jüngsten prophetischen Rede, in der er die Sprache der Wall Street mit der der Apokalypse verband, sagte Herr Hoover voraus, auf den blutigen Schlachtfeldern Europas würden am Ende zwei Reiter triumphieren: Hunger und Pest. Der ehemalige Präsident empfahl, die Vereinigten Staaten sollten sich dem europäischen Wahnsinn fernhalten, um im letzten Augenblick dank ihrer wirtschaftlichen Macht das Zünglein an der Waage zu bilden. Die Empfehlung ist nicht originell. Alle großen Mächte, die noch nicht in den Krieg verwickelt sind, würden gern ihre unerschöpften Hilfsmittel einsetzen, wenn die Rechnung aufgemacht wird. Das ist die Politik Italiens. Das ist die Politik der Sowjetunion, trotz ihres Krieges mit Finnland. Das ist die Politik Japans trotz seines Kriegs gegen China ohne Kriegserklärung. Das ist in der Tat die gegenwärtige Politik der Vereinigten Staaten. Aber wird diese Politik sich lange aufrechterhalten lassen?

Wenn sich der Krieg bis zu Ende entwickelt; wenn die deutsche Armee Erfolge aufweisen kann – und sie wird wirklich große Erfolge buchen –, wenn sich das Gespenst einer deutschen Herrschaft über Europa zu einer realen Gefahr wird, dann wird sich die Regierung der Vereinigten Staaten entscheiden müssen: ob sie abseits stehen will, Hitler gestattet, sich neue Eroberungen einzuverleiben, die deutsche Technik mit den Rohstoffen aus den eroberten Kolonien zu füttern und die Herrschaft Deutschlands über den ganzen Erdball vorzubereiten, – oder ob sie in den Verlauf des Krieges eingreift, um mitzuhelfen, dem deutschen Imperialismus die Flügel zu stutzen. Ich bin der letzte, der den gegenwärtigen Regierungen Ratschläge erteilen könnte; ich versuche nur, die objektive Lage zu analysieren und aus dieser Analyse Schlüsse zu ziehen. Ich glaube, dass angesichts der aufgezeigten Alternative selbst der frühere Chef [Hoover] der American Relief Administration [Hungerhilfe] das eigene Neutralitätsprogramm ablehnen wird: Man hat nicht ungestraft die mächtigste Industrie, über zwei Drittel der Goldreserven der Welt und zehn Millionen Arbeitslose.

Wenn einmal die Vereinigten Staaten, wie ich glaube, vielleicht noch in diesem Jahr, in den Krieg eintreten, dann werden sie alle seine Folgen tragen müssen. Besonders bedrohlich wird für sie der explosive Charakter der weiteren politischen Entwicklung sein.

Frage: Was verstehen Sie darunter?

Antwort: Am 10. Februar warnte Präsident Roosevelt den Amerikanischen Jugendkongress vor dem Radikalismus und riet ihm, die bestehenden Einrichtungen Schritt für Schritt, Jahr um Jahr zu verbessern. Ein solches Verfahren würde zweifellos das beste, vorteilhafteste, wirtschaftlichste sein, wenn … es sich verwirklichen ließe. Leider werden die »bestehenden Einrichtungen« auf der ganzen Welt von Jahr zu Jahr nicht besser, sondern schlechter. Die demokratischen Einrichtungen werden nicht vollkommener, sondern zerfallen und machen dem Faschismus Platz. Und das ist keine Folge des Zufalls oder der Leichtfertigkeit der Jugend. Die kapitalistischen Monopole, die die Mittelklassen zerstört haben, verschlingen die Demokratien. Die Monopole selbst waren eine Folge des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Das Privateigentum, das einst die Quelle des Fortschritts war, geriet mit der modernen Technik in Widerspruch und ist nun die Ursache von Krisen, Kriegen, nationalen Verfolgungen und reaktionären Diktaturen. Die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist die zentrale geschichtliche Aufgabe unserer Epoche und wird die Geburt einer neuen, harmonischeren Gesellschaft gewährleisten. Der Geburtsakt ist aber, wie tägliche Beobachtung lehrt, niemals ein »allmählicher« Prozess, sondern eine biologische Revolution.

Sie fragen, ob eine vermittelnde Organisation zwischen Kapitalismus und Kommunismus möglich ist. Der deutsche und der italienische Faschismus waren Versuche zu einer solchen Organisation. Aber in Wirklichkeit brachte der Faschismus die abstoßendsten Eigenschaften des Kapitalismus auf bestialische Weise zum Ausdruck. Ein anderes Beispiel eines Zwischensystems war der New Deal. War dieses Experiment erfolgreich? Ich glaube nicht. Die Zahl der Arbeitslosen ist achtstellig; die Sechzig Familien sind mächtiger als je zuvor. Und das Wichtigste: Es gibt nicht die leiseste Hoffnung, dass auf diesem Weg eine organische Verbesserung möglich ist. Der Markt, die Banken, die Börse, die Trusts entscheiden, und die Regierung passt sich ihnen nur mit Hilfe verspäteter Linderungsmittel an. Die Geschichte lehrt uns, dass auf diesem Weg eine Revolution vorbereitet wird.

Es wäre ein großer Fehler zu glauben, die sozialistische Revolution in Europa oder Amerika werde sich nach dem Muster des rückständigen Russlands vollziehen. Die Grundtendenzen werden natürlich ähnlich sein. Aber die Formen, Methoden, die »Temperatur« des Kampfes, all das trägt in jedem Fall nationalen Charakter. Vorab lässt sich folgendes Gesetz aufstellen: Je größer die Zahl der Länder ist, in denen die Herrschaft des Kapitalismus gebrochen wird, desto schwächer wird der Widerstand sein, den die herrschenden Klassen in anderen Ländern leisten werden, desto weniger heftig wird die sozialistische Revolution ausfallen, desto weniger gewalttätige Formen wird die proletarische Diktatur annehmen, desto kürzer wird sie dauern und desto eher wird die Gesellschaft auf der Grundlage einer neuen, vollständigeren, perfekteren und humaneren Demokratie sich reorganisieren. Auf keinem Fall kann eine Revolution so gegen die amerikanische Verfassung verstoßen wie ein imperialistischer Krieg und der Faschismus, den der Krieg erzeugen wird.

Der Sozialismus wäre wertlos, wenn er nur die rechtliche Unverletzlichkeit und nicht auch die volle Garantie aller Interessen der menschlichen Persönlichkeit mit sich brächte. Die Menschheit würde totalitäre Gräuel im Kremlstil nicht dulden. Das politische Regime der UdSSR ist nicht das einer neuen Gesellschaft, sondern die schlechteste Karikatur des politischen Regimes der alten. Kraft der technischen und organisatorischen Methoden der Vereinigten Staaten, dank dem hohen Wohlstand, den eine Planwirtschaft dort allen Bürgern sichern könnte, würde das sozialistische Regime in Ihrem Land von Anbeginn den Aufstieg der Unabhängigkeit, der Initiative und der schöpferischen Kraft der Menschen bedeuten.

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