Leo Trotzki: Brief an die Arbeiter der Sowjet-Union [Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 9, Nr. 1 (102), April 1941, S. 3] Grüße an die Sowjetarbeiter, Kollektivfarmer, Soldaten der Roten Armee und Matrosen der Roten Flotte! Grüße vom fernen Mexiko, wo ich Zuflucht fand, nachdem die stalinistische Clique mich nach der Türkei verbannt und die Bourgeoisie mich von Land zu Land gehetzt hat! Werte Genossen! Die lügnerische stalinistische Presse hat euch seit langem böswillig in allen Fragen, einschließlich derer, die sich auf mich und meine politischen Gesinnungsgenossen beziehen, getäuscht. Ihr habt keine Arbeiterpresse; ihr lest nur die Presse der Bürokratie, die systematisch lügt, um euch in der Finsternis zu erhalten und so die Herrschaft einer privilegierten Parasitenkaste zu sichern. Wer seine Stimme gegen die allgemein verhasste Bürokratie zu erheben wagt, wird Trotzkist genannt, Agent einer ausländischen Macht; wird als Spion gebrandmarkt – gestern Spion Deutschlands, heute Spion Englands und Frankreichs – und dann an die Wand gestellt. Zehntausende revolutionäre Kämpfer sind vor den Mündungen der OGPU-Mauser in der Sowjet-Union und im Ausland, besonders in Spanien, gefallen. Sie alle wurden als Agenten des Faschismus geschildert. Glaubt diese niederträchtige Verleumdung nicht! Ihr einziges Verbrechen bestand darin, dass sie die Arbeiter und Bauern gegen die Brutalität und Raubsucht der Bürokratie verteidigt haben. Die ganze alte Garde des Bolschewismus, alle Mitarbeiter und Helfer Lenins, alle Kämpfer der Oktoberrevolution, alle Helden des Bürgerkrieges sind von Stalin ermordet. In die Annalen der Geschichte wird Stalins Name als der eines Kain für immer eingehen! Die Revolution wurde nicht für die Bürokraten gemacht. Die Oktoberrevolution wurde um der Werktätigen und nicht um der neuen Parasiten willen durchgeführt. Aber infolge des Nachbleibens der Weltrevolution, infolge der Müdigkeit und zum großen Teil der Rückständigkeit der russischen Arbeiter und besonders der russischen Bauern erhob sich über die Räterepublik und gegen ihre Völker eine neue unterdrückerische und parasitäre Kaste, deren Führer Stalin ist. Die frühere bolschewistische Partei wurde in einen Apparat dieser Kaste verwandelt. Die Weltorganisation, welche die kommunistische Internationale einst war, ist heute ein geschmeidiges Werkzeug der Moskauer Oligarchie. Die Räte der Arbeiter und Bauern sind längst untergegangen. Sie sind von entarteten Kommissaren, Sekretären und Agenten der GPU ersetzt worden. Aber unter den überlebenden Eroberungen der Oktoberrevolution sind glücklicherweise die nationalisierte Industrie und die kollektivierte Sowjetwirtschaft. Auf dieser Grundlage können Arbeiterräte eine neue und glücklichere Gesellschaft aufbauen. Diese Grundlage können wir unter keinen Umständen der Weltbourgeoisie übergeben. Es ist die Pflicht von Revolutionären, jede Position, die die Arbeiterklasse errungen hat bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, sei es, dass es sich um demokratische Rechte, um Lohnstufen handelt oder um einen so gigantischen Sieg der Menschheit wie die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Planwirtschaft. Wer nicht verteidigen kann, was bereits erobert wurde, wird nie neue Eroberungen machen. Gegen den imperialistischen Feind werden wir die Sowjet-Union mit aller unserer Kraft verteidigen. Aber die Eroberungen der Oktoberrevolution werden dem Volke nur dienen, wenn es sich fähig zeigt, der stalinistischen Bürokratie Herr zu werden, wie es seinerzeit der zaristischen Bürokratie und der Bourgeoisie Herr wurde. Der Stalinismus gefährdet die Sowjet-Union. Wenn das Sowjet-Wirtschaftsleben im Interesse des Volkes geleitet würde; wenn die Bürokratie nicht den größeren Teil des Volkseinkommens verschlänge und verschwendete; wenn die Bürokratie nicht auf den Lebensinteressen der Bevölkerung herum trampelte, dann wäre die Sowjet-Union ein großer Magnetpol der Anziehung für die Werktätigen der Welt und die Unverletzlichkeit der Sowjet-Union wäre gesichert. Aber das berüchtigte Unterdrückerregime Stalins hat die Sowjet-Union ihrer Anziehungskraft beraubt. Während des Krieges mit Finnland erwies es sich, dass nicht nur die Mehrheit der finnischen Bauern, sondern auch die der finnischen Arbeiter, auf der Seite ihrer Bourgeoisie war. Dies kann kaum überraschen, da sie ja von der unerhörten Unterdrückung wussten, der die Arbeiter des nahegelegenen Leningrad und der ganzen Sowjet-Union von der stalinistischen Bürokratie unterworfen werden. So ist diese, blutdürstig und erbarmungslos daheim und feige vor den imperialistischen Feinden, die Hauptquelle der Kriegsgefahr für die Sowjet-Union. Die alte bolschewistische Partei und die Dritte Internationale sind auseinandergefallen und haben sich zersetzt. Die ehrlichen und fortgeschrittenen Revolutionäre haben im Ausland die Vierte Internationale organisiert, die bereits in den meisten Ländern der Welt Sektionen errichtet hat. Ich bin ein Mitglied dieser neuen Internationale. Indem ich an diesem Werk teilnehme, bleibe ich unter demselben Banner, dem ich mit euch oder euren Vätern und älteren Brüdern im Jahre 1917 und durch die Jahre des Bürgerkriegs hindurch diente – demselben Banner, unter welchem wir mit Lenin zusammen den Rätestaat und die Rote Armee aufbauten. Das Ziel der Vierten Internationale. Das Ziel der Vierten Internationale ist, die Oktoberrevolution über die ganze Welt auszubreiten und gleichzeitig die Sowjet-Union zu regenerieren, indem sie von der parasitären Bürokratie gereinigt wird. Dies kann nur auf eine Art erreicht werden: dadurch, dass die Arbeiter, Bauern, Soldaten der Roten Armee und Matrosen der Roten Flotte sich gegen die neue Kaste der Unterdrücker und Parasiten erheben. Um diese Erhebung vorzubereiten, ist eine neue Partei nötig – eine kühne und ehrliche revolutionäre Organisation der fortgeschrittenen Arbeiter. Die Vierte Internationale stellt sich den Aufbau einer solchen Partei in der Sowjet-Union zur Aufgabe. Fortgeschrittene Arbeiter! Seid die ersten, die sich um das Banner von Marx und Lenin scharen, welches jetzt das Banner der Vierten Internationale ist! Lernt, in den Bedingungen der stalinistischen Illegalität fest verschmolzene, zuverlässige revolutionäre Zirkel zu schaffen! Errichtet Verbindungen zwischen diesen Zirkeln! Lernt, durch ergebene und zuverlässige Leute, besonders Matrosen, Verbindungen mit euren revolutionären Gesinnungsgenossen in den bürgerlichen Ländern herzustellen! Es ist schwierig, aber es kann gemacht werden. Der gegenwärtige Krieg wird sich immer mehr ausbreiten, Trümmer auf Trümmer häufen, immer mehr Kummer und Verzweiflung und Protest hervorrufen, die ganze Welt zu neuen revolutionären Ausbrüchen treiben. Die Weltrevolution wird die Sowjetarbeitermassen mit neuem Mut und mit neuer Entschlossenheit erfüllen und die bürokratischen Stützen von Stalins Kaste unterwühlen. Für diese Stunde müssen wir uns durch hartnäckige, systematische, revolutionäre Arbeit rüsten. Das Schicksal unseres Landes, die Zukunft unseres Volkes, unserer Kinder und Enkel steht auf dem Spiel. Nieder mit Kain Stalin und seiner Kamarilla! Nieder mit der räuberischen Bürokratie! Es lebe die Sowjet-Union, die Festung der Arbeiter! Es lebe die sozialistische Weltrevolution! Mit Genossengruß! Leo Trotzki Mai 1940. Warnung! Stalins Presse wird natürlich erklären, dass dieser Brief durch „Agenten" des Imperialismus nach der Sowjet-Union übermittelt wurde. Seid im Voraus versichert, dass auch dies eine Lüge ist. Dieser Brief wird die Sowjet-Union durch zuverlässige Revolutionäre erreichen, die bereit sind, ihr Leben für die Sache des Sozialismus aufs Spiel zu setzen. Macht Abschriften von diesem Brief und verbreitet ihn so weit als möglich. – L. T. |
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