Leo Trotzki: Verstaatlichte Industrie und Arbeiterverwaltung Juni 1938 [eigene Übersetzung nach dem französischen Text, verglichen mit der englischen Übersetzung] In den industriell rückständigen Ländern spielt das Auslandskapital eine entscheidende Rolle. Daher die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Vergleich zum nationalen Proletariat. Dies schafft besondere Bedingungen für die Staatsmacht. Die Regierung schwankt zwischen ausländischem Kapital und einheimischem Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem relativ mächtigen Proletariat. Dies verleiht der Regierung einen besonderen bonapartistischen Charakter sui generis [eigener Art]1. Sie erhebt sich sozusagen über die Klassen. In Wirklichkeit kann sie regieren, entweder indem sie sich selbst zum Instrument des ausländischen Kapitals2 macht und das Proletariat in den Ketten einer Polizeidiktatur hält, oder indem sie mit dem Proletariat manövriert und sogar so weit geht, ihm Zugeständnisse zu machen und so die Möglichkeit zu erobern, eine gewisse Freiheit gegenüber ausländischen Kapitalisten zu genießen. Die derzeitige Politik der Regierung befindet sich in der zweiten Phase: Ihre größten Erfolge sind die Enteignungen der Eisenbahnen und der Ölindustrie. Diese Maßnahmen liegen vollständig im Bereich des Staatskapitalismus. In einem halbkolonialen Land steht der Staatskapitalismus jedoch unter starkem Druck des ausländischen Privatkapitals und seiner Regierungen, und kann sich nicht ohne die aktive Unterstützung der Arbeiter aufrechterhalten. Deshalb ist er bestrebt, ohne dabei die tatsächliche Macht aus den Händen zu verlieren, den Arbeiterorganisationen einen wichtigen Teil der Verantwortung für das Funktionieren der Produktion in den verstaatlichten Industriezweigen zu übertragen. Wie sollte die Politik der Arbeiterpartei in diesem Fall aussehen? Es wäre natürlich ein katastrophaler Fehler, ein perfekter Betrug, wenn man behaupten würde, dass der Weg zum Sozialismus nicht durch eine proletarische Revolution führe, sondern durch die Verstaatlichung verschiedener Industriezweige durch den bürgerlichen Staat und deren Übergabe in die Hände von Arbeiterorganisationen. Aber darum geht es nicht. Die bürgerliche Regierung selbst führte eine Verstaatlichung durch und war gezwungen, die Beteiligung der Arbeiter an der Verwaltung der verstaatlichten Industrie zu fordern. Man kann das Problem selbstverständlich vermeiden, indem man sich darauf beruft, dass, wenn das Proletariat nicht die Macht übernimmt, die Beteiligung der Gewerkschaften an der Verwaltung staatskapitalistischer Unternehmen keine sozialistischen Ergebnisse bringen kann. Eine solche negative Politik des revolutionären Flügels würde jedoch von den Massen nicht verstanden und würde nur zur Stärkung opportunistischer Positionen beitragen. Für Marxisten geht es nicht darum, den Sozialismus mit den Händen der Bourgeoisie aufzubauen, sondern die Situationen zu nutzen, die im Kontext des Staatskapitalismus entstehen, und die revolutionäre Bewegung der Arbeiter voranzutreiben. Die Teilnahme an bürgerlichen Parlamenten kann keine nennenswerten positiven Ergebnisse mehr bringen; unter bestimmten Bedingungen führt sie sogar zur Demoralisierung der Arbeitervertreter. Aber für die Revolutionäre ist dies keineswegs ein Argument für den Antiparlamentarismus. Es wäre nicht exakt, die Politik der Arbeiterbeteiligung an der Verwaltung der verstaatlichten Industrie und der Beteiligung der Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung (was wir Ministerialismus nannten) gleichzusetzen. Alle Regierungsmitglieder sind durch Solidaritätsbande miteinander verbunden. Eine Partei, die in der Regierung vertreten ist, ist für die gesamte Regierungspolitik als Ganzes verantwortlich. Die Beteiligung an der Verwaltung eines bestimmten Industriezweiges lässt die volle Möglichkeit der politischen Opposition zu. Für den Fall, dass die Arbeitervertreter in der Unternehmensleitung in der Minderheit sind, haben sie die uneingeschränkte Möglichkeit, dies zu sagen und ihre Vorschläge, die von der Mehrheit abgelehnt wurden, zu veröffentlichen, um sie den Werktätigen3 zur Kenntnis zu bringen usw. Man kann die gewerkschaftliche Beteiligung an der Verwaltung der verstaatlichten Industrie mit der Beteiligung von Sozialisten an Gemeindeverwaltungen vergleichen, wo Sozialisten manchmal die Mehrheit gewinnen und so dazu gebracht werden, eine wichtige Kommunalwirtschaft zu leiten, während die Bourgeoisie immer noch den Staat dominiert und die bürgerlichen Eigentumsrechte in Kraft bleiben. In der Gemeindeverwaltung passten sich die Reformisten passiv an das bürgerliche Regime an. Auf diesem Feld tun die Revolutionäre alles Mögliche im Interesse der Arbeiter und lehren die Arbeiter gleichzeitig in jeder Phase, dass eine Gemeindepolitik ohne die Eroberung des Staatsapparates machtlos ist. Der Unterschied besteht selbstverständlich darin, dass die Arbeiter im Bereich der Gemeinden bestimmte Positionen durch demokratische Wahlen übernehmen, während es im Bereich der verstaatlichten Industrie die Regierung selbst ist, die sie einlädt, bestimmte Positionen einzunehmen. Aber dieser Unterschied ist rein formal. Im einen wie im anderen Fall ist die Bourgeoisie gezwungen, den Arbeitern bestimmte Tätigkeitsbereiche zu überlassen. Und die Arbeiter nutzen sie in ihrem eigenen Interesse. Es wäre leichtfertig, die Augen vor den Gefahren zu verschließen, die sich aus einer Lage ergeben, in der die Gewerkschaften eine führende Rolle in der nationalisierten Industrie spielen. Die Grundlage ist die Verbindung zwischen den Spitzen der Gewerkschaftsführer und dem Apparat des Staatskapitalismus, die Verwandlung der mit Mandaten versehenen Vertreter des Proletariats in Geiseln des bürgerlichen Staates. Aber so groß diese Gefahr auch sein mag, sie stellt nur einen Teil einer 4Gefahr dar, genauer gesagt, einer allgemeinen Erkrankung, nämlich der bürgerlichen Degeneration von Gewerkschaftsapparaten in der imperialistischen Ära, nicht nur in den alten Zentren der Metropolen, sondern auch in Kolonialländern. Die Gewerkschaftsführer sind in der überwiegenden Mehrheit der Fälle politische Agenten der Bourgeoisie und ihres Staates. In der verstaatlichten Industrie können und werden sie bereits zu ihren direkten Verwaltungsagenten. Dagegen gibt es nur den Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiterbewegung im Allgemeinen und insbesondere für die Bildung solider revolutionärer Kerne in den Gewerkschaften, die unter Wahrung der Einheit der Gewerkschaftsbewegung in der Lage sind, für eine Klassenpolitik zu kämpfen und dafür, dass die Leitungsorgane aus Revolutionären zusammengesetzt sind. Eine Gefahr anderer Art besteht in dem Faktum, dass Banken und andere kapitalistische Unternehmen, von denen ein Zweig der verstaatlichten Industrie im wirtschaftlichen Sinne des Wortes abhängt, mit besonderen Sabotagemethoden die Arbeiterverwaltung behindern, diskreditieren und in eine Katastrophe stürzen können und werden. Die reformistischen Führer werden versuchen, diese Gefahr abzuwenden, indem sie sich sklavisch an die Bedürfnisse ihrer kapitalistischen Zulieferer und insbesondere der Banken anpassen. Die revolutionären Führer werden, im Gegenteil, aus der Sabotage der Banken die Notwendigkeit ableiten, sie zu enteignen und eine einheitliche Nationalbank als Rechenzentrum für die gesamte Wirtschaft zu etablieren. Natürlich muss diese Frage untrennbar mit der Frage der Machteroberung durch die Arbeiterklasse verbunden sein. Die verschiedenen kapitalistischen Unternehmen, sowohl inländische als auch ausländische, werden sich unweigerlich mit staatlichen Institutionen verschwören, um die Arbeiterverwaltung der verstaatlichten Industrie zu behindern. Außerdem5 müssen sich die Arbeiterorganisationen, die an der Verwaltung der verschiedenen Industriezweige der verstaatlichten Industrie beteiligt sind, zusammenschließen, um Erfahrungen auszutauschen, einander wirtschaftlich zu unterstützen, mit vereinten Kräfte auf die Regierungsebene, Kreditbedingungen usw. einzuwirken. Ein solches Zentralbüro für die Arbeiterverwaltung der verstaatlichten Wirtschaftszweige muss natürlich in engem Kontakt mit den Gewerkschaften stehen. Um zusammenzufassen, kann man sagen, dass dieses neue Arbeitsfeld sowohl die größten Chancen als auch die größten Gefahren birgt. Die Gefahr besteht darin, dass der Staatskapitalismus durch kontrollierte Gewerkschaften die Arbeiter in Schach halten, sie grausam ausbeuten und ihren Widerstand lähmen kann. Die revolutionären Möglichkeiten bestehen darin, dass die Arbeiter, indem sie sich auf ihre Positionen in außergewöhnlich wichtigen Industriezweigen stützen, mit aller Kraft ihren Angriff auf die Kräfte des Kapitals und auf den bürgerlichen Staat starten können. Welche dieser Möglichkeiten wird sich durchsetzen? In welcher Zeit? Es ist natürlich unmöglich, das vorherzusagen. Es hängt ganz vom Kampf zwischen den verschiedenen Tendenzen innerhalb der Arbeiterklasse, der Erfahrung der Arbeiter selbst, der Weltlage ab. Um diese neue Form der Aktivität im Interesse der Arbeiterklasse und nicht der Arbeiteraristokratie und -bourgeoisie6 zu nutzen, gibt es nur eine Bedingung, die notwendig ist: die Existenz einer revolutionären marxistischen Partei, die jede Form von Arbeiteraktivität sorgfältig untersucht, jede Abweichung kritisiert, die Arbeiter schult und organisiert, Einfluss auf die Gewerkschaften gewinnt und die revolutionäre Arbeitervertretung in der verstaatlichten Industrie sicherstellt. 1In der englischen Übersetzung: „einen bonapartistischen Charakter von besonderem Charakter“ 2 In der englischen Übersetzung: „Kapitalismus“ 3 In der englischen Übersetzung: „Arbeitern“ 4 In der englischen Übersetzung ergänzt: „allgemeinen“ 5 In der englischen Übersetzung: „Auf der anderen Seite“ 6 In der englischen Übersetzung: „-bürokratie“ |
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