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Leo Trotzki 19380601 Revolutionäre Kunst und Vierte Internationale

Leo Trotzki: Revolutionäre Kunst und Vierte Internationale

Internationale Konferenz der Vierten Internationale

[eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzungen]

Liebe Genossen! Ich bedaure sehr, dass ungünstige Umstände es mir nicht erlauben, an der Konferenz teilzunehmen, von der die fortgeschrittenen Arbeiter der ganzen Welt Antwort auf die brennendsten Fragen ihres Befreiungskampfes erwarten.

Ich bin jedoch mit der Diskussion, die in verschiedenen Ländern über die Hauptthemen der Arbeiterbewegung stattgefunden hat, und mit den Dokumenten, die Ihnen zur Prüfung vorgelegt werden, genügend vertraut, um das Recht zu haben, meine volle Solidarität mit der Arbeit zu bekunden, zu deren Erfüllung Sie aufgerufen sind.

Noch nie in seiner Geschichte wurde das Proletariat von seinen führenden Organisationen so betrügerisch verraten und betrogen wie heute, 25 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs und wenige Jahre, vielleicht sogar Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Damit die Menschheit nicht zugrunde geht und nicht verrottet, braucht das Proletariat eine scharfsichtige, ehrliche und kaltblütige revolutionäre Führung. Niemand kann ihm diese Führung geben außer der Vierten Internationale, die sich auf die gesamte Erfahrung früherer Siege und Niederlagen stützt.

Lassen Sie mich jedoch die historische Mission der Vierten Internationale nicht nur mit den Augen des proletarischen Revolutionärs, sondern auch mit den Augen des Künstlers betrachten, der ich in meinem Beruf bin. Ich habe diese beiden Tätigkeitsbereiche jedoch nie getrennt. Der Pinsel diente mir nie als Spielzeug zu meinem eigenen Zeitvertreib oder zum Zeitvertreib der besitzenden Klassen. Ich habe mich immer bemüht, den Schmerzen, Hoffnungen und Kämpfen der arbeitenden Massen Ausdruck zu verleihen, denn unter diesem Gesichtspunkt gelange ich zum Leben, und folglich auch zur Kunst, die dessen integraler Bestandteil ist. Die gegenwärtige hoffnungslose Krise des Kapitalismus bedeutet eine Krise der gesamten menschlichen Kultur, einschließlich der Kunst. Die Rettung der Kultur liegt in der Erneuerung der Gesellschaft. Die ganze Weltlage treibt einige begabte und sensible Künstler auf den Weg des revolutionären Schöpfertums. Aber leider wird dieser Weg durch die sich zersetzenden Leichen des Reformismus und Stalinismus blockiert.

Wenn die Avantgarde des Weltproletariats Führung sucht1, dann sucht die fortgeschrittene2 Kunst eine neue Perspektive und neue Hoffnung. Die so genannte Kommunistische Internationale, die dem Proletariat nichts anderes als Niederlagen und Demütigungen beschert, beherrscht nach wie vor das geistige Leben und das künstlerische Schöpfertum des linken Flügels der internationalen Intelligenz.

Die Früchte dieses Kommandos3 haben in der UdSSR einen besonders abstoßenden Charakter; das heißt dort, wo das revolutionäre Schöpfertum seinen Höhepunkt hätte erreichen sollen. Die Diktatur der reaktionären Bürokratie erwürgte oder prostituierte das geistige Schöpfertum einer ganzen Generation. Man kann nicht ohne physischen Ekel die Bilder sowjetischer Gemälde und Skulpturen anschauen, in denen mit einem Pinsel bewaffnete Beamte unter der Aufsicht von mit einer Mauserpistole bewaffneten Beamten die „großen" und „genialen" Führer verherrlichen, die in Wirklichkeit nicht einen Funken von Genie oder Größe haben. Die Kunst der Stalinepoche wird als der anschaulichste Ausdruck des tiefgreifenden Niedergangs der proletarischen Revolution in die Geschichte eingehen.

Zur Bereicherung der Kunst mit neuen Perspektiven und neuen Möglichkeiten ist nur ein neuer Aufschwung der revolutionären Bewegung fähig. Die Vierte Internationale kann sich natürlich nicht die Aufgabe stellen, die Kunst zu „lenken", d.h. ihr Befehle zu erteilen oder Methoden vorzuschreiben. An eine solche Einstellung zur Kunst konnte nur die Moskauer Bürokratie denken, die vor Selbstherrschaft4 trunken war. Kunst, wie Wissenschaft, sucht nicht nur nicht das Kommando5, sondern erträgt es von Natur aus nicht. Künstlerisches Schaffen6 hat seine eigenen inneren Gesetze – auch wenn es bewusst der sozialen Bewegung dient. Revolutionäre Kunst ist unvereinbar mit Lügen, Falschheit und dem Geist der Anpassung. Dichter, Künstler, Bildhauer, Musiker werden ihre Wege und Methoden finden, wenn die revolutionäre Bewegung der Massen die Wolken der Skepsis und des Pessimismus auflöst, die den Horizont der Menschheit umhüllen. Die neue schöpferische Generation muss sich durch die Tatsachen überzeugen, dass in Gestalt der alten Internationalen nur die Menschheit des gestrigen Tages verrottet, nicht aber ihr morgiger Tag7.

8Die Sozialdemokratische Internationale bleibt, wie die frische und beschämende Erfahrung der Regierung von Leon Blum in Frankreich zeigt, ein Hilfsapparat der Bourgeoisie, der aufgerufen ist, in den schwierigsten Momenten der schmutzigsten Arbeit zu dienen, insbesondere der Vorbereitung eines neuen imperialistischen Gemetzels.

Die Rolle der Dritten Internationale ist, wenn möglich, noch krimineller und bösartiger, weil sie ihren Dienst für den Imperialismus mit der gestohlenen Autorität der Oktoberrevolution und des Bolschewismus deckt. Auf dem Boden Spaniens zeigte der Stalinismus insbesondere, dass er im Hinblick auf die proletarische Revolution die Rolle eines internationalen Gendarmes übernahm, den der Zarismus im Hinblick auf bürgerliche Revolutionen spielte.

Wie die Bürokratie der beiden pseudomarxistischer Internationale schaffte es die anarchistische Bürokratie, Fleisch vom Fleisch9 der bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Mit seiner beschämenden Politik in Spanien hat der offizielle Anarchismus den arbeitenden Massen der Welt überzeugend gezeigt, dass sie kein Recht mehr haben, auf ihn zu hoffen.10

11Revolutionäre Kunst ist ohne Wahrheit und Freiheit undenkbar. Aber ohne die gleichen Bedingungen ist die revolutionäre Bewegung des Proletariats undenkbar. Die Vierte Internationale begann mit gnadenloser Kritik an aller Konventionalität, Falschheit, Routine und aufgeblasenen Autoritäten. Sie vereinigt in sich immer mehr Farben die Weltarbeiterklasse und hat bereits begonnen, die Sympathie der besten Vertreter der schöpferischen Intelligenz anzuziehen. Der Niedergang der Weltwirtschaft sowie der Verfall der Kultur kann nur durch die internationale proletarische Revolution gestoppt werden. Im Fokus der Vorbereitung dieser Revolution steht bereits die Vierte Internationale. Die richtige Führung, die sie dem Proletariat bringt, ist die Garantie für künftige Siege. Im Namen der Revolution, aber auch im Namen der untrennbar mit ihr verbundenen Kultur, begrüße ich Ihre Konferenz sehr herzlich.

L. D. Trotzki im Namen von D. Rivera

1. Juni 1938

1In der englischen Übersetzung zwei Mal: „findet“

2In der englischen und französischen Übersetzung: „avantgardistische“

3In der englischen und französischen Übersetzung: „Hegemonie“

4In der englischen und französischen Übersetzung: „Allmacht“

5In der englischen und französischen Übersetzung: „Patrone“

6In der englischen und französischen Übersetzung: „kreative revolutionäre Aktivität“

7In der englischen und französischen Übersetzung: „dass die Gesichter der alten Internationalen die Vergangenheit der Menschheit, aber nicht ihre Zukunft vertreten“

8In der englischen und französischen Übersetzung stehen die folgenden drei Absätze nach dem dritten Absatz („… vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.“)

9In der englischen und französischen Übersetzung: „eins mit“

10In der englischen und französischen Übersetzung sind die beiden Sätze des Absatzes vertauscht

11In der englischen und französischen Übersetzung fehlt dieser letzte Absatz

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