Leo Trotzki: Priester der Halbwahrheit „Die Nation" und „Die New Republic" [eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzungen, Zwischenüberschriften nach der englischen Fassung] Die beklagenswerteste und unwürdigste Rolle in der amerikanischen Presse wird jetzt von „Nation" und „New Republic" gespielt. Diese Zeitungen geben vor, die Orakel der „liberalen" öffentlichen Meinung zu sein. Eigene Ideen haben sie nicht. Die soziale Krise, die 1929 begann und die „Liberalen" überraschte, zwang sie, zur Sowjetunion als Rettungsanker zu greifen. Indem die Herren die Erfolge des Planungsprinzips popularisierten und sich vorsichtig gegen ihre kapitalistische Anarchie stellten, fanden sie vorübergehend ihre Berufung. Sie hatten noch kein unabhängiges Aktionsprogramm für die Vereinigten Staaten; aber sie konnten jetzt ihre eigene Verwirrung idealisiert überdecken. In der Sache bedeutete „Freundschaft" mit Moskau die Versöhnung des bürgerlichen Liberalismus mit der Bürokratie, die die Oktoberrevolution erdrosselte. Je mehr die Privilegien der neuen herrschenden Schicht wuchsen und je konservativer sie ihre Privilegien zu schützen begann, desto mehr wuchs die Zahl ihrer Freunde unter bürgerlichen Intellektuellen und der Mode huldigenden liberalen Snobs. Die Inspiratoren dieser Stimmungen waren Walter Duranty und Louis Fischer, direkte Kriecher vor der sowjetischen Oligarchie. Unter ihrem Kommando begannen beschränkten Professoren, mittelmäßigen Dichter, Anwälte, die es nicht geschafft hatten, berühmt zu werden, ehrgeizige Witwen und gelangweilte Damen, ihre Freundschaft mit der sowjetischen Botschaft in Washington ernsthaft für Dienst an den Interessen der Oktoberrevolution zu halten. Viele von ihnen zeigten ihre Bereitschaft, die Sowjetunion bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen … natürlich nicht ihres eigenen, sondern des der „Trotzkisten". Reed … und Duranty Während der heroischen Periode der Revolution war John Reed der Vertreter der progressiven amerikanischen öffentlichen Meinung in Moskau. Zu dieser Zeit war Walter Duranty als professioneller Verleumder der Revolution und ihrer Führer in Riga. In den letzten Jahren wurde Duranty zur Hauptverbindung zwischen der sowjetischen Bürokratie und der „liberalen" öffentlichen Meinung der Vereinigten Staaten. Der moralische Gegensatz zwischen John Reed und Walter Duranty spiegelt den politischen Widerspruch zwischen Bolschewismus und Stalinismus wider. Wenn es den Leitern der „Nation" und der „New Republic" gelungen ist, diesen Widerspruch nicht zu verstehen, dann, weil Kleinhändler in Lügen wie Duranty oder Louis Fischer ihnen im Geiste unermesslich näher verwandt sind als der heroische John Reed.* Kann man überrascht sein, wenn die gegenwärtige Bürokratie des Kreml bei demokratischen Orakeln viel populärer geworden ist als die revolutionäre Partei Lenins? Wie sie zuvor die Gesetze der Revolution nicht verstanden, so verstehen sie jetzt die Gesetze der Reaktion nicht. Sie hofften, dass die Bürokratie, nicht ohne ihre positiven Mitwirkung, respektabler und „humaner" werden würde. Aus den Köpfen dieser Menschen ist der Glaube an kontinuierlichen und automatischen Fortschritt noch nicht verschwunden. Sie konnten keine Schlüsse ziehen, auch nicht aus der Tatsache, dass das demokratische Kleinbürgertum – sie sind Fleisch von seinem Fleische – seit einigen Jahren in Deutschland zur Armee des Faschismus geworden ist. Noch weniger konnten sie die bösartige Entwicklung der Sowjetbürokratie verstehen. Logik des Klassenkampfes Erbärmlich ist, wer sich bei großen historischen Wendungen auf empirische Vermutungen beschränkt, statt in die innere Logik des Klassenkampfes einzudringen. Im psychologischen Sinne sind die Angeklagten nur Werkzeuge in den Händen der GPU-Inquisition. Im historischen Sinne ist der Inquisitor Stalin nur ein Instrument in den Händen der Bürokratie, die eine Sackgasse erreicht hat. Die Bürokratie ist nur ein Instrument des weltimperialistischen Drucks. Die Sowjetmassen hassen die Bürokratie. Der Weltimperialismus betrachtet sie als ein veraltetes Stadium und bereitet sich darauf vor, sie zu stürzen. Die Bürokratie will die Massen täuschen. Sie will den Weltimperialismus täuschen. Sie lügt an zwei Fronten. Um die Wahrheit nicht nach außen gelangen und von außen nicht eindringen zu lassen, 1lässt sie niemanden außer Landes und lässt niemanden hinein. Sie umgibt die UdSSR mit einer beispiellosen Palisade als Grenzwache und einem unberechenbaren Rudel Grenzhunde. Die Zeit, in der der Weltimperialismus das Sowjetland einer Blockade unterwarf, gehört längst der Vergangenheit an. Jetzt organisiert die sowjetische Bürokratie selbst die Blockade um die UdSSR. Von der Revolution2 hat sie nur einen Kult der Polizeigewalt übernommen. Sie glaubt, dass man mit Hilfe von Polizeihunden den Lauf der Geschichte ändern kann. Sie kämpft mit so konzentrierter Tollwut um ihre Existenz, wie mit ihr noch keine der herrschenden Klassen der Geschichte gekämpft hat. Auf diesem Wege gelangte sie in kurzer Zeit zu Verbrechen, zu denen heranzuwachsen selbst der Faschismus noch keine Zeit hatte. Von dieser Dialektik des Thermidors haben die demokratischen Orakel nichts verstanden, verstehen sie nichts, und – wir werden uns keine Illusionen machen – werden sie nichts verstehen. Sonst müssten sie sofort „Nation" und „New Republic" schließen und damit das Gleichgewicht des Sonnensystems umstürzen! Gegensätze miteinander identifiziert Da die thermidorianische Reaktion aus der Revolution hervorging, versuchten die „Nation" und die „New Republic" stets zu beweisen, dass Revolution und Reaktion ein und dasselbe seien. Die Fakten sprangen in die Augen: die Orakel schlossen die Augen vor den Fakten.3 Sie haben die Fälschung, Lüge, Bestechung, die die stalinistische Bürokratie in der ganzen Welt begangen hat, systematisch gebilligt oder zumindest vertuscht. Sie verdeckten die seit 15 Jahren andauernde Gewalt gegen die Oppositionellen. Indessen gab es an Warnungen keinen Mangel. Die Literatur der linken Opposition ist in allen Sprachen reich genug daran. 15 Jahre lang zeigte sie Schritt für Schritt, wie die Methoden der Bürokratie den Bedürfnissen der neuen Gesellschaft zunehmend widersprachen; denn eine Bürokratie, die gezwungen war, ihre eigenen egoistischen Interessen zu verschleiern, übernahm nicht nur die Mechanik der Lügen aller herrschenden Klassen, sondern gab ihnen angesichts der Strenge der Lage in einem Land, das kaum der Revolution entsprungen war, einen beispiellos vergifteten Charakter. Wir haben anhand unbestreitbarer Tatsachen und Dokumente gezeigt, wie aus der thermidorianischen Reaktion eine ganze Fälschungsschule hervorging – die Stalin-Schule, die alle Bereiche der öffentlichen Ideologie vergiftete; wir erklärten, wie und warum Stalin (der „Koch der scharfen Gerichte", wie Lenin schon im März 1921 feststellte) zum Führer der gierigen und konservativen Kaste der Usurpatoren der Revolution wurde; wir haben die Moskauer Prozesse zehn Jahre, bevor sie entstanden, vorhergesagt und den Rückständigsten erklärt, dass der Justizbetrug nur ein Krampfanfall der thermidorianischen Agonie ist. Schließlich unterzog die Internationale Kommission in New York, die aus moralisch autoritativen und an kritisches Denken gewöhnten Menschen bestand, 1937 die Stalin-Wyschinski-Anklage einer geduldigen und gründlichen Analyse. Sie fand nichts in ihnen, außer Lügen, Falsifikationen, Fälschungen. Sie hat dies der ganzen Welt offen erklärt. Das Urteil der Kommission war eigentlich für den durchschnittlichen „Mann von der Straße", für den Bauern, den Kleinhändler, für den rückständigen Arbeiter gedacht, kurz gesagt, für die Mehrheit, deren Existenzbedingungen ihnen die notwendige Ausbildung und Horizonte verweigert haben. Von den Herausgebern der „Nation" und „New Republic", diesen patentierten Volkslehrern, könnte man, so scheint es, zumindest ein kleines Stück eines eigenen kritischen Sinnes erwarten. Sie könnten sich beispielsweise aus alten Schulbüchern4 erinnern, wie die thermidorianische Reaktion in Frankreich die Jakobiner als „Royalisten" und „Agenten Pitts" bezeichnete, um das blutige Massaker in den Augen der Massen zu rechtfertigen. Von professionellen Moralisten, so scheint es, konnte man zumindest ein wenig moralischen Sinn erwarten. Stieg ihnen nicht die moralische Degeneration der sowjetischen Bürokratie in die Nase? Leider hatten die Moralisten nicht einmal einen einfachen Geruchssinn! Panorama der Beschränktheit Die Moskauer Prozesse haben dieses Publikum nicht nur überrascht, sondern auch auf lange Zeit hinaus ihre Seelenfrieden zerstört. Eine Zusammenstellung aller Artikel der „Nation" und „New Republic" über die drei großen Prozesse – welch ein Panorama von Engstirnigkeit, Narzissmus, Heuchelei und vor allem Verwirrung. Nein, das haben sie nicht erwartet! Wie konnte das passieren? Wenn ihnen jedoch die Einsicht und der Riecher fehlen, wohnt ihnen doch das Gefühl der Selbsterhaltung als Priesterkaste in höchstem Maße inne. Fortan wurde all ihr Verhalten von der Sorge bestimmt, Spuren zu verwischen, das heißt, die Gläubigen nicht sehen lassen, dass sich im Orakel die ganze Zeit keine sehr weitsichtigen Priester befanden. Theoretisch lehnen diese Pharisäer empört das Prinzip ab, dass „der Zweck die Mittel heiligt", ohne zu erkennen, dass ein großes historisches Ziel automatisch unwürdige Mittel verwirft. Um jedoch die traditionellen kleinen Vorurteile und vor allem ihre eigene Autorität in den Augen der Einfaltspinsel zu bewahren, sind sie immer bereit, auf Ausflüchte und Fälschungen im kleinem Stil zurückzugreifen. Zuerst haben sie versucht, offen die Pflicht von „Freunden", d.h. Advokaten der GPU, zu erfüllen. Aber es war zu riskant. Sie begaben sich hastig in die Position des philosophischen Agnostizismus und der diplomatischen Nichteinmischung. Sie erklärten die Prozesse für „mysteriös". Sie nahmen von Urteilen Abstand. Sie warnten vor voreiligen Schlussfolgerungen. „Wir können nichts von außen lösen." „Die volle Wahrheit wird sich vielleicht in 100 Jahren offenbaren." „Wir dürfen uns nicht in die Angelegenheiten der sowjetischen Justiz einmischen." Mit einem Wort, in einer ausweichenden Form versuchten sie, die öffentliche Meinung der Welt mit diesen Gemeinheiten in Moskau zu versöhnen. Diese Leute wollten um jeden Preis Freundschaft mit den Henkern der Revolution halten, ohne jedoch direkte Verantwortung für die Fälschung der GPU zu übernehmen. Verpflichtet, sich wieder zu drehen Aber auch auf dieser zweiten Linie hielten sich die demokratischen Heuchler nicht lange. Unter den Schlägen der Enthüllungen haben sie den Ton noch weiter abgeschwächt: Natürlich sind die Anklagen eindeutig unglaublich, aber ... aber unter ihnen ist „etwas" verborgen. „Wir sind nicht bei den Stalinisten, aber wir glauben auch nicht den Trotzkisten." Die Wahrheit wird nur von den Rechtschaffenen der „Nation" und der „New Republic" vertreten. Wenn sie gestern und vorgestern blind waren, dann ist das die beste Garantie dafür, dass sie heute perfekt sehen. „Hinter den Moskauer Vorwürfen ist etwas verborgen." In der Tat. Wenn die herrschende Clique alles ausrottet, was von der bolschewistischen Partei übrig geblieben ist, dann gibt es zwingende Gründe dafür. Nach diesen Gründen muss man aber in den objektiven Interessen der Bürokratie und nicht in den Reden Wyschinskis und der Fälschung Jeschows suchen. Aber wir wissen es schon: Die Dialektik des Klassenkampfes bleibt für diese Empiristen ein Buch mit sieben Siegeln. Was kann man von Philosophen und Publizisten verlangen und erwarten, die nichts vorausgesehen und nichts gesehen haben und von den Prozessen völlig überrumpelt wurden? Den bankrotten Orakeln bleibt nichts anderes übrig, als die Schuld aufzuteilen: 50 Prozent dem Henker zuzuteilen, 50 Prozent seinem Opfer. Der Kleinbürger steht in der Mitte und argumentiert nach der Formel: „einerseits" und „andererseits“. Wenn die Kapitalisten zu unnachgiebig sind, sind die Arbeiter zu anspruchsvoll. Diese Linie der goldenen Mitte von „Nation" und „New Republic" wird erst dann zum logischen Ende gebracht, wenn die Hälfte ihrer moralischen Lymphe für die GPU verwendet wird, die andere Hälfte für die realen und imaginären „Trotzkisten". Infolgedessen erfährt der liberale Amerikaner von seinen Lehrern, dass Sinowjew und Kamenew nur halbe Terroristen waren; dass Pjatakow die Industrie nur sechs von zwölf Monaten sabotierte; dass Bucharin und Rykow Spione von nur zwei, nicht von vier Ländern waren; und dass Stalin nur ein Halbfälscher und ein Halbschurke ist. Kain? Vielleicht Kain, aber nicht zu mehr als 50 Prozent. Ihre Welt Ihre Philosophie spiegelt ihre Welt wider. Nach ihrem sozialen Wesen sind sie intelligente Halbbourgeois. Sie ernähren sich von Halbgedanken und Halbgefühlen. Sie wollen die Gesellschaft mit Halbheiten behandeln. Sie betrachten den historischen Prozess als zu instabil und engagieren sich nie zu mehr als 50%. Also sind diese Menschen, die in Halbwahrheit leben, d. h. der schlimmsten Form von Lügen, zu einer echten Bremse für wahrhaft fortschrittliche, d. h. revolutionäre Gedanken geworden. Eine „New Masses" ist nur eine Mülltonne, die durch ihren eigenen Geruch vor sich selbst warnt. „Nation" und „New Republic" sind viel „anständiger", „wohlgestalteter" und weniger ... aromatisch. Aber noch gefährlicher. Der beste Teil der neuen Generation der amerikanischen Intelligenz kann nur dann einen breiten historischen Weg erreichen, wenn es einen völligen Bruch mit den Orakeln der „demokratischen" Halbwahrheit gibt. L. Trotzki 19. März 1938 Coyoacán * Walter Duranty nimmt trotz der angelsächsischen „Seele" strikt geplant an den Moskauer Fälschungen teil, neben Richtern, Staatsanwälten, Staatsanwälten und allgemein Menschen mit „russischer Seele". Indessen war Duranty nicht einmal vor die Notwendigkeit gestellt, täglich zwischen Leben und Tod zu wählen. Sein Kollege Mr. Harold Denny, ein Mann mit einer bewusst amerikanischen Seele, wenn auch einer kleinen, passte sich sehr bald der Atmosphäre des totalitären Regimes an und schlug sich vor der Wahl zwischen einer mageren Wahrheit und einem fetten belegten Brot ohne zu zögern auf die Seite des belegten Brotes und Wyschinskis. Von Zeit zu Zeit reist Denny ins Ausland und schreibt von dort „unzensierte" Artikel über die UdSSR, die komplett von der GPU diktiert sind. Derartige Subjekte sind eine Quelle der Inspiration für die „liberale" öffentliche Meinung. - L.T. [Das „belegte Brot“, das bekanntlich im Russischen etwas irreführend „бутерброд“ (buterbrod) heißt, ist in der englischen und französischen Übersetzung mit „Sandwich“ wiedergegeben. Die Fußnote Trotzkis erscheint in der französischen Übersetzung als Teil des Textes] 1In der englischen Übersetzung lautet der Rest des Satzes: „erlaubt sie nur ,zuverlässigen' Menschen, das Land zu betreten oder zu verlassen.“ 2In der englischen und französischen Übersetzung ergänzt: „wie sie sie versteht“ 3Dieser Satz fehlt in der englischen und französischen Übersetzung 4In der englischen und französischen Übersetzung: von alten Schullehrern |
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