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Leo Trotzki 19380821 Pressefreiheit und Arbeiterklasse

Leo Trotzki: Pressefreiheit und Arbeiterklasse

Stellungnahme der Redaktion von Clave

[eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung]

In Mexiko wurde eine Kampagne gegen die reaktionäre Presse eröffnet. An der Spitze der Kampagne steht der Vorstand der CTM, oder besser gesagt, Herr Lombardo Toledano persönlich. Die Aufgabe der Kampagne besteht darin, die reaktionäre Presse zu „bändigen", sie unter demokratische Zensur zu stellen oder ganz zu verbieten. Für die Durchführung wird die Armee gewerkschaftlich organisierter Arbeiter aufgeboten. Kraftlose1 Demokraten, korrumpiert durch die Erfahrung von Stalins Moskau, angeführt von den „Freunden" der GPU, applaudieren dieser Kampagne, die nicht anders als selbstmörderisch bezeichnet werden kann. Es ist in der Tat nicht schwer vorauszusehen, dass, wenn die Kampagne zu praktischen Ergebnissen im Geiste von Lombardo Toledano führen würde, die Folgen mit ganzem Gewicht auf die Schultern der Arbeiterklasse fallen würden. Die Theorie und die historische Erfahrung zeigen gleichermaßen, dass alle und jede Beschränkungen der Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft letztlich gegen das Proletariat gehen, wie alle und jede Steuern auf die Schultern der Werktätigen umgelegt werden. Die Demokratie hat nur diesen Wert für das Proletariat, dass sie Freiheit für die Entfaltung seines Klassenkampfs ermöglicht. Ein direkter Verräter ist also ein Arbeiter„führer", der den bürgerlichen Staat mit außerordentlichen Mitteln ausstattet, um die öffentliche Meinung und insbesondere die Presse zu kontrollieren. Mit der Verschärfung des Klassenkampfes wird die Bourgeoisie verschiedener Schattierungen schließlich alle Ausnahmegesetze, alle restriktiven Regeln, alle Arten von „demokratischer" Zensur gegen die Arbeiterklasse untereinander vereinbaren und einführen. Wer das bisher nicht verstanden hat, sollte sich aus den Reihen der Arbeiter fort scheren!

Aber die Diktatur der Arbeiterklasse ist gezwungen, außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere gegen die reaktionäre Presse, wird jemand von den „Freunden" der UdSSR einwenden.

Ein solcher Einwand bedeutet in erster Linie die Gleichsetzung eines Arbeiter- und bürgerlichen Staates: Als halbkoloniales Land ist Mexiko dennoch ein bürgerlicher, keineswegs ein Arbeiterstaat. Auch aus der Sicht der Interessen der Diktatur des Proletariats ist das Verbot bürgerlicher Zeitungen oder die Zensur über sie jedoch keineswegs ein „Programm", ein „Prinzip", ein ideales Regime. Eine solche Maßnahme kann nur ein unvermeidliches vorübergehendes Übel sein. An die Macht gelangt, kann das Proletariat in einer gewissen Zeit gezwungen sein, auf außergewöhnliche Maßnahmen gegen die Bourgeoisie zurückzugreifen, wenn sie sich in einem Zustand des Aufruhrs gegen den Arbeiterstaat befindet. In diesem Fall geht die Beschränkung der Arbeiterpresse Hand in Hand mit allen anderen Methoden des offenen Bürgerkriegs. Wenn Artillerie und Luftwaffe gegen den Klassenfeind gerichtet werden sollen, dann ist es unmöglich, dem selben Feind im Heerlager des Proletariats seine eigenen Herde der Information und Agitation zu lassen.

Doch selbst in diesem Fall bergen außergewöhnliche Maßnahmen, wenn sie zu einem langfristigen Regime werden, die Gefahr eines völligen Mangels an Kontrolle und eines politischen Monopols für die Arbeiterbürokratie und können zu einer der Quellen ihres Degenerierens werden. Ein lebendiges Beispiel ist offensichtlich. Die widerliche Unterdrückung der Rede- und Pressefreiheit, die jetzt in der Sowjetunion betrieben wird, hat nichts mit den Interessen der Diktatur des Proletariats zu tun.2 Im Gegenteil, sie zielt darauf ab, die Interessen der neuen herrschenden Kaste gegen die Opposition der Arbeiter und Bauern zu schützen. Es ist die Moskauer Bürokratie, die die Lombardo Toledano nachahmen wollen, die ihren Karrierismus mit den Interessen des Sozialismus gleichsetzen.

Die wirkliche Aufgabe des proletarischen Staates besteht nicht darin, die öffentliche Meinung in die Hände der Polizei zu nehmen, sondern die öffentliche Meinung vom Joch des Kapitals zu befreien. Dies kann nur erreicht werden durch die Übergabe des Eigentums an den Produktionsmitteln, einschließlich der typographischen Produktionsmittel3, in die Hände der gesamten Gesellschaft. Nach der Durchführung dieser grundlegenden sozialistischen Maßnahme sollten alle Tendenzen der öffentlichen Meinung, die nicht mit Waffen in der Hand gegen die Diktatur des Proletariats kämpfen, die Möglichkeit haben, offen zu sprechen. Der Arbeiterstaat ist verpflichtet, die notwendigen technischen Mittel (Druckereien, Papier, Transport, etc.) in solchem Umfang zur Verfügung zu stellen, wie es der Stärke dieser Strömungen im Land entspricht. Die Tatsache, dass die stalinistische Bürokratie die Presse in ihren Händen monopolisiert hat, ist eine der wichtigsten Quellen des Verfalls des Staatsapparats und droht, alle Errungenschaften der Oktoberrevolution völlig zu zerstören.

Wenn man nach Beispielen für den verderblichen Einfluss der Komintern auf die Arbeiterbewegung verschiedener Länder sucht, ist die aktuelle Kampagne von Lombardo Toledano eines der auffälligsten Beispiele dieser Art. Toledano und seine Gleichgesinnten4 versuchen erstens, Methoden und Techniken auf das Regime der bürgerlichen Demokratie zu übertragen, die unter bestimmten Bedingungen unter der Diktatur des Proletariats vorübergehend unvermeidlich sein können; zweitens leihen sie sich diese Maßnahmen tatsächlich nicht von der Diktatur des Proletariats, sondern von den bonapartistischen Usurpatoren. Mit anderen Worten, sie vergiften die ohnehin schon kranke bürgerliche Demokratie mit dem Leichengift5 der zerfallenden Sowjetbürokratie. Die abgezehrte mexikanische Demokratie ist immer in Lebensgefahr, sowohl durch den ausländischen Imperialismus als auch durch seine inneren reaktionären Agenten, in deren Händen sich die verbreitetsten Presseorgane befinden. Aber nur blinde Menschen oder Narren können denken, dass es möglich ist, die Arbeiter oder Bauern vom Einfluss reaktionärer Ideen zu befreien, indem man die reaktionäre Presse verbietet. In der Tat kann nur vollständige Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit günstige Bedingungen für die Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung schaffen. Die reaktionäre Presse erfordert einen unversöhnlichen Kampf. Aber die Arbeiter können ihren eigenen Kampf, den sie durch ihre Organisationen und ihre Presse führen müssen, nicht durch die Polizeifaust6 des bürgerlichen Staates ersetzen. Heute kann dieser Staat den Arbeiterorganisationen gegenüber „wohlwollend" sein. Morgen kann er und wird er zweifellos in die Hände der reaktionärsten Elemente der Bourgeoisie fallen. In diesem Fall brechen alle restriktiven Rechtsvorschriften über die Arbeiter herein. Dies können nur Abenteurer vergessen, die sich von den Überlegungen der heutigen Minute leiten lassen. Die wichtigste Methode zur Bekämpfung der bürgerlichen Presse besteht in der Entwicklung der Arbeiterpresse. Aber natürlich können gelbe Zeitungen vom Typ „El Popular" diese Aufgabe nicht erfüllen. Sie sind weder eine Arbeiter- noch eine revolutionäre oder auch nur eine redliche demokratische Presse. „El Popular" dient der persönlichen Art7 von Lombardo Toledano, der wiederum der stalinistischen Bürokratie dient. Ihre Methoden: Lügen, Verleumdung, Hetze, Fälschung – sind gleichzeitig auch die Methoden Toledanos. Sie hat kein Programm, keine Ideen. Ganz natürlich, wenn eine Zeitung dieses Typs nicht das Leben der Arbeitermasse erobern und die bürgerliche Presse aus den Arbeitervierteln verdrängen kann.

Wir kommen so zu dem unbestreitbaren Schluss, dass der Kampf gegen die bürgerliche Presse mit der Säuberung der Arbeiterpresse von unwürdigen Führern beginnen muss, insbesondere mit der Befreiung der Arbeiterpresse aus der Bevormundung durch Lombardo Toledano und andere bürgerlichen Karrieristen8. Die mexikanischen Proletarier brauchen eine ehrliche Presse, die ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringt, ihre Interessen schützt, ihren Horizont erweitert und die sozialistische Revolution in Mexiko9 vorbereitet. Dies ist die Position von „Clave". Den unwürdigen bonapartistischen Anmaßungen Toledanos erklären wir den unerbittlichen Krieg. Auf diesem Weg erwarten wir die Unterstützung aller fortgeschrittenen Arbeiter, aller Marxisten und aller echten Demokraten.

Redaktion von „Clave".

21. August 1938

L. Trotzki.

1In der englischen und französischen Übersetzung: „unheilbare“

2In der englischen und französischen Übersetzung lauten die beiden Sätze: „Wir haben ein lebendiges Beispiel für eine solche Dynamik vor uns in der abscheulichen Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit, die heute in der Sowjetunion herrscht. [Und] dies hat nichts mit den Interessen der Diktatur des Proletariats zu tun.“

3In der englischen und französischen Übersetzung: „Produktionsmittel der öffentlichen Meinung“

4In der englischen Übersetzung: „Mit-Doktrinäre“, in der französischen Übersetzung: „“Glaubensbrüder

5In der englischen und französischen Übersetzung: „Virus“

6In der englischen Übersetzung: „repressive Faust“

7In der englischen und französischen Übersetzung: „den persönlichen Ambitionen“

8In der französischen Übersetzung: „Scharlatane“

9In der französischen Übersetzung: „in einem Land“

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