Leo Trotzki: Offener Brief an Senator Allen (Henry J. Allen) ehemaliger Gouverneur von Kansas. [Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung] Gnädiger Herr! Am 27. Juli erwiesen Sie mir die Ehre, mich in Coyoacán zu besuchen. Ich strebte diese Ehre nicht an. Ich gestehe sogar, dass ich versuchte, ihr auszuweichen. Aber Sie waren hartnäckig. Da ich vor Ihrer Abreise aus Mexiko keine freie Zeit hatte, schlossen Sie sich der Exkursion der Gesellschaft für die Annäherung an Lateinamerika – The Committee on Cultural Relations with Latin America [Komitee für kulturelle Beziehungen mit Lateinamerika] – an. So tauchte unter den Freunden Mexikos unerwartet einer ihrer aktiven Feinde auf. Lassen Sie mich sagen, dass die Figur von Senator Allen in unserem bescheidenen Gespräch in der Avenida Londres schroff abstach. Durch jede ihrer Bemerkungen, durch den Gesichtsausdruck, durch den Ton der Stimme, war klar, dass diese Person völlig abschirmt war gegen die geringste Fähigkeit, mit den Bedürfnissen der unterdrückten Klassen und Völker zu sympathisieren; dass sie völlig von den Interessen der Oberschichten der kapitalistischen Gesellschaft und dem imperialistischen Hass auf jede Befreiungsbewegung durchtränkt ist. Sie nahmen an dem allgemeinen Gespräch teil, Herr Senator. Zurück in den Staaten gaben Sie einer Reihe von Zeitungen Artikel über Ihren Besuch in Mexiko und insbesondere bei mir. Am 22. November kamen Sie in Ihrer Rede beim jährlichen Dinner der New Yorker Handelskammer auf die gleichen Fragen zurück. Sie verfolgen Ihr Ziel mit unbestrittener Ausdauer. Worin besteht dieses Ziel? Beginnen wir mit den Artikeln. Sie haben nach Ihren Worten festgestellt, dass mein Garten nass war – es war Regenzeit – aber meine Rede zu trocken. Ich bin weit davon entfernt, gegen diese Bewertungen zu argumentieren. Aber Sie sind weiter gegangen. Sie haben versucht, das, was ich in Anwesenheit von 40 Personen gesagt habe, tendenziös zu verzerren1. Das kann ich Ihnen nicht erlauben. Sie erwähnen ironisch, dass die Fragen, die mir von den Mitgliedern der Exkursion gestellt wurden, zur Sphäre der „Haarspaltereien von Marx' Lehre" gehörten; „keine der Fragen betraf Mexiko", fügen Sie vielsagend hinzu. Völlig wahr: Ich bat den Leiter der Exkursion, Dr. Hubert Herring, die mexikanische Politik nicht in den Kreis der Diskussion einzubeziehen. Natürlich nicht, weil ich einige meiner „Verschwörungen" verbergen möchte, wie Sie zu verstehen geben, sondern nur, weil ich dem Feind keinen Grund für unnötige Insinuationen geben wollte (es gibt schon genug von ihnen). Aber Sie, Herr Senator, ergriffen furchtlos den Stier bei den Hörnern und stellten mir die Frage, für die Sie mir nach Ihren eigenen Worten den Besuch abgestattet haben, und zwar: „Herr Trotzki, wie beurteilen Sie den neuen kommunistischen Führer Präsident Cárdenas im Vergleich zu den kommunistischen Führern Russlands?“ Und ich gab Ihnen folgendermaßen die Antwort: „Er ist in der Tat fortschrittlicher als einige von ihnen.“ Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, Herr Senator, dass das nicht wahr ist. Wenn Sie mir eine solche Frage in Anwesenheit von vierzig intelligenten und denkenden Menschen gestellt hätten, hätten wahrscheinlich alle von ihnen fröhlich gelacht, und ich hätte mich sicherlich an ihrem gemeinsamen Lachen beteiligt. Aber Sie haben sich mit einer solchen Frage nicht kompromittiert. Und ich habe Ihnen diese Antwort nicht gegeben. In der Tat versuchte ich nur, dem Wort „Kommunismus" seine eigentliche Bedeutung wieder zu geben. In der jetzigen Zeit nennen Reaktionäre und Imperialisten „Kommunismus" (manchmal „Trotzkismus") alles, was sie nicht mögen. Umgekehrt nennt die Moskauer Bürokratie Kommunismus alles, was ihren Interessen dient. Nebenbei bemerkte ich als Beispiel: Obwohl Stalin den Namen eines Kommunisten trägt, betreibt er in der Sache eine reaktionäre Politik; die Regierung Mexikos, die nicht im geringsten Maße kommunistisch ist, verfolgt eine progressive Politik. Dies war die einzige Phrase, dich ich in diese Richtung gesagt habe. Ihr Versuch, mir die Charakterisierung der mexikanischen Regierung als „kommunistisch" zuzuschreiben, ist falsch und sinnlos, obwohl er für Ihre Zwecke nützlich sein mag. Koloniale und halbkoloniale Länder oder Länder kolonialen Ursprungs durchlaufen mit Verspätung ihre Periode national-demokratischer und nicht „kommunistischer" Formierung. Die Geschichte, das ist wahr, wiederholt sich nicht. Mexiko trat in die demokratische Revolution in einer anderen Epoche und unter anderen Bedingungen als die Erstgeborenen der Geschichte ein. Aber im Umriss historischer Analogie kann man immer noch sagen, dass Mexiko ein Entwicklungsstadium durchläuft, das beispielsweise die [Vereinigten] Staaten durchliefen, beginnend mit dem revolutionären Unabhängigkeitskrieg und endend mit dem Bürgerkrieg gegen Sklaverei und Separatismus. In diesen dreiviertel Jahrhunderten wurde die nordamerikanische Nation auf bürgerlich-demokratischer Grundlage formiert. Die Befreiung der Schwarzen, d.h. die Enteignung der Sklavenbesitzer, wurde von allen Allens jener Zeit als Verstoß gegen göttliche Gebote und, was schlimmer ist, eine Verletzung der Eigentumsrechte, d.h. als Kommunismus und Anarchismus, angesehen und erklärt. Aus einem wissenschaftlichen Blickwinkel ist es jedoch unbestreitbar, dass der von Lincoln geführte Bürgerkrieg nicht der Beginn der kommunistischen, sondern nur das Ende der bürgerlich-demokratischen Revolution war. ★ ★ ★ Wissenschaftliche historische Analyse interessiert Sie jedoch weniger als alles andere, Herr Senator. Sie sind zu mir gekommen, damit Sie, wie man aus Ihren eigenen Worten ersehen kannst, in meinen Worten etwas finden, das Ihnen in Ihrer Kampagne gegen die mexikanische Regierung nützlich sein könnte. Da Sie nichts Passendes gefunden haben, begannen Sie mit dem Erdichten. Hand in Hand mit der „Daily News“ entwickeln Sie den Gedanken, dass ich der Inspirator der Maßnahmen zur Enteignung des Eigentums von Ausländern sei und … eine Reorganisation Mexikos auf kommunistischer Grundlage vorbereite. Sie schreiben direkt über einen „trotzkistischen kommunistischen Staat"! Während Ihres Aufenthaltes in diesem Land hätten Sie von Ihren Gleichgesinnten (sie selbst erwähnen „geheime" Treffen mit ihnen) leicht herausfinden können, wie weit ich von der mexikanischen Politik entfernt bin. Aber das hält Sie nicht auf. Als Beweis dafür, dass Mexiko sich darauf vorbereite, ein „trotzkistischer Staat" zu werden, verweisen Sie auf die wachsende Rolle der mexikanischen Gewerkschaften und auf die persönliche Rolle Lombardo Toledanos und schließen Ihren Artikel (Herald Tribune, 29. Oktober) mit den folgenden bemerkenswerten Worten ab: „Toledano verbrachte einige Zeit in Russland und ist ein Anhänger Trotzkis.“ Toledano – ein Anhänger Trotzkis! Das ist nicht zu überbieten! Jeder des Lesens kundige Mensch in Mexiko und viele des Lesens kundige Menschen in anderen Ländern werden herzlich lachen, nachdem sie diese Phrase gelesen haben, wie ich gelacht habe, wie meine Freunde gelacht haben, nachdem ich sie ihnen gezeigt habe. General Cárdenas als „der neue kommunistische Führer", Trotzki als Anreger für die mexikanische Politik, Toledano als Anhänger Trotzkis … fügen wir hinzu: Senator Allen als Autorität in Fragen Mexikos! Sie sind in mein Haus gekommen, Herr Senator, als Kundschafter2 des Ölkapitals. Wir werden uns nicht fragen, wie würdig diese Rolle ist. Sie und ich haben zu unterschiedliche Maßstäbe. Allerdings gibt es Kundschafter in verschiedenen Kategorien. Einige sammeln genau, sorgfältig, „gewissenhaft" – auf ihre Weise – die notwendigen Informationen und stellen sie dem Herrn zur Verfügung. Sie verhalten sich anders. Sie erfinden die Informationen, die Sie nicht haben. Sie benehmen sich wie ein gewissenloser Kundschafter! Ihre Theorie über meine unheilvolle Rolle im mexikanischen inneren Leben haben Sie mit einem dreifachen Ziel aufgestellt: Erstens, die imperialistischen Kreise der Vereinigten Staaten gegen die mexikanische Regierung als angeblich „kommunistisch" aufzuhetzen; 2) dem Nationalstolz Mexikos mit Hilfe einer sinnlosen Legende über den Einfluss eines ausländischen Immigranten auf die Politik des Landes einen Schlag zu versetzen; 3) meine persönliche Lage in Mexiko zu erschweren. Als hochmütiger Imperialist bis ins Mark gehen Sie stillschweigend von der Vorstellung aus, dass Mexiko nicht in der Lage ist, seine eigenen Aufgaben ohne die Hilfe anderer zu lösen. Sie täuschen sich grausam, Herr Senator! Die Staatsmänner3 der bürgerlichen Länder standen in einer revolutionären Epoche nach der allgemeinen Regel unvergleichlich höher als die heutigen Staatsmänner. 4Sie selbst, Herr Senator, halten sich anscheinend für aufgerufen, die lateinamerikanischen Länder zu führen. Indes enthüllen Ihre Artikel und Reden einen so engen Horizont, solchen Eigennutz, solche reaktionären Beschränktheit, dass sie fast Mitgefühl hervorrufen. Zu Beginn Ihres Banketts flehte Bischof William Manning zum Allmächtigen, allen Mitgliedern der Handelskammer Mitgefühl für die Verfolgten zu verleihen und sie von Rassenvorurteilen zu befreien (New York Times, 23. November). Indes frage ich mich: Wäre es denkbar, dass Sie einen Artikel schreiben, der mit ebenso leichtfertigen Anschuldigungen beispielsweise gegen Kanada gefüllt wäre? Ich antworte: Nein, das wäre unmöglich. Sie wären vorsichtiger, aufmerksamer und damit gewissenhafter. Aber Sie denken, dass es durchaus akzeptabel ist, eine Serie von Unsinn an die Adresse Mexikos zu richten. Was erklärt diesen Unterschied in Ihrer Einstellung zu Kanada und Mexiko? Ich wage zu glauben, dass es die Rassenarroganz des Imperialisten ist. Das Gebet Bischof Mannings hat Ihnen klar nicht geholfen, Herr Senator! Reaktionäre denken, dass Revolutionen künstlich von Revolutionären hervorgerufen würden. Ein ungeheurer Irrtum! Die ausgebeuteten Klassen und unterdrückten Völker werden auf den Weg der Revolution von Sklavenhaltern vom Typ von Mr. Allen gestoßen. Diese Herren erschüttern mit großem Erfolg die bestehende Ordnung der Dinge! 1 In der englischen Übersetzung: „das Faktum tendenziös zu verzerren, dass ich in Anwesenheit von 40 Menschen gesprochen habe“ 2 In der englischen und französischen Übersetzung hier und im Folgenden: „Spion“ 3 In der englischen Übersetzung: „politischen Führer“ 4 In der englischen und französischen Übersetzung eingefügt: „Im ältesten der zivilisierten Länder wurde Oliver Cromwell durch den heutigen Neville Chamberlain ersetzt; das sagt alles.“ |
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