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Leo Trotzki 19380310 Ergebnisse des Prozesses

Leo Trotzki: Ergebnisse des Prozesses

[Eigene Übersetzung nach Bulletin der Opposition (Bolschewiki-Leninisten) Nr. 65, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzung]

1.

Der Moskauer Prozess erschöpfte die öffentliche Meinung mit seinen sensationellen Ungereimtheiten, noch bevor er beendet war. Jeder Durchschnittsjournalist ist in der Lage, den Text der Anklagerede Wyschinskis von morgen im Voraus zu schreiben, vielleicht mit einer kleineren Menge an unflätigen Schimpfwörtern. Wyschinski verbindet seinen persönlichen Prozess mit dem politischen Prozess. In den Jahren der Revolution war er im Lager der Weißen.1 Nachdem er nach dem endgültigen Sieg der Bolschewiki die Orientierung geändert hatte, fühlte er sich lange gedemütigt und verdächtigt2. Jetzt rächt er sich. Er kann Bucharin, Rykow, Rakowski3 verhöhnen, deren Namen er jahrelang mit übertriebenem Respekt aussprach. Unterdessen erklären die Botschafter Trojanowski, Maiski, Suritz4, die die gleiche Vergangenheit wie Wyschinski haben, der öffentlichen Meinung der zivilisierten Menschheit, dass sie die Gebote der Oktoberrevolution ausführen, während Bucharin, Rykow, Rakowski, Trotzki und andere sie verraten, wie sie sie immer verrieten. Alles ist auf den Kopf gestellt.

Laut den Ergebnissen, mit denen Wyschinski die letzte Reihe von Prozessen zusammenfassen muss, agiert der Sowjetstaat als zentralisierter Apparat des Hochverrats. Der Regierungschef und die Mehrheit der Volkskommissare (Rykow, Kamenew, Rudsutak, Smirnow, Jakowlew, Rosengolz, Tschernow, Grinko, Iwanow, Ossinski usw.); die wichtigsten sowjetischen Diplomaten (Rakowski, Sokolnikow, Krestinski, Karachan, Bogomolow, Jurenjew usw.); alle Führer der Komintern (Sinowjew, Bucharin, Radek); die leitenden Angestellten der Wirtschaft (Pjatakow, Smirnow, Serebrjakow, Lifschiz u.a.); die besten Befehlshaber und Führer der Roten Armee (Tuchatschewski, Gamarnik, Jakir, Uborewitsch, Kork, Muralow, Mratschkowski, Alksnis, Admiral Orlow usw.); die hervorragendsten Arbeiterrevolutionäre, die der Bolschewismus in 35 Jahren hervorgebracht hat (Tomski, Jewdokimow, Smirnow, Bakajew, Serebrjakow, Boguslawski, Mratschkowski); Leiter und Mitglieder der Regierung der Russischen Sowjetrepublik5 (Sulimow, Warwara Jakowlewa); ausnahmslos alle Köpfe von drei Dutzend Sowjetrepubliken, d. h. die von der Bewegung der befreiten Nationalitäten nominierten Führer (Budu Mdiwani, Okudschawa, Kawtaradse, Tscherwjakow, Goloded, Skrypnik, Ljubtschenko, Nestor Lakoba, Faisullah Chodschajew, Ikramow und Dutzende andere); Köpfe der GPU in den letzten zehn Jahren, Jagoda und seine Mitarbeiter; schließlich und vor allem die Mitglieder des allmächtigen Politbüros, die eigentliche Oberhoheit des Landes: Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Tomski, Rykow, Bucharin, Rudsutak – sie alle verschworen sich gegen die Sowjetmacht, auch in jenen Jahren, als sie in ihren Händen war. Sie alle waren als Agenten fremder Mächte bestrebt, die von ihnen gebaute Sowjetföderation in Stücke zu reißen und die Völker, für deren Befreiung sie jahrzehntelang kämpften, an die Faschisten zu versklaven.

Bei dieser kriminellen Aktivität ordneten sich die Ministerpräsidenten, Minister, Marschälle und Botschafter stets einer einzigen Person unter. Nicht dem offiziellen Führer, nein – einem Exilierten. Es genügte, dass Trotzki seinen Finger bewegte, und die Veteranen der Revolution wurden Agenten Hitlers und des Mikado. Gemäß Trotzkis durch einen zufälligen TASS-Korrespondenten übermittelten „Anweisungen" zerstörten die Führer der Industrie, des Transports und der Landwirtschaft die Produktivkräfte des Landes und seine Kultur. Nach dem aus Norwegen oder Mexiko gesandten Befehl des „Volksfeindes" organisierten die Eisenbahner des Fernen Ostens die Unfälle von Militärzügen und ehrwürdige Ärzte des Kremls vergifteten ihre Patienten. Dies ist ein erstaunliches Bild des Sowjetstaates, das Wyschinski auf der Grundlage der Enthüllung der neuesten Prozesse zu geben gezwungen ist! Aber hier gibt es eine Schwierigkeit. Das totalitäre Regime ist die Diktatur des Apparates. Wenn alle Schlüsselstellen des Apparates von Trotzkisten besetzt sind, die mir untergeordnet sind, warum ist dann Stalin im Kreml und ich bin im Exil?

Bei diesen Prozessen steht alles auf dem Kopf. Die Feinde der Oktoberrevolution drapieren sich als ihre Vollstrecker, Karrieristen schlagen sich wie Ritter der Ideen auf die Brust, Fälschungsexperten fungieren als Ermittler, Staatsanwälte und Richter.

2.

Und doch – sagt der Mann des „gesunden Menschenverstandes" – ist es schwer zu glauben, dass Hunderte von Angeklagten, Erwachsene und normale Menschen, von denen auch eine beträchtliche Anzahl starken Charakter und herausragenden Intellekt besitzen, vor dem Angesicht der ganzen Menschheit sich selbst schrecklicher und ekelhafter Verbrechen bezichtigten.

Wie so oft im Leben speit der „gesunde Menschenverstand" Mücken aus, schluckt aber Kamele. Natürlich ist es nicht leicht zu glauben, dass Hunderte von Menschen sich selbst verleumden. Aber ist es leichter zu glauben, dass diese Hunderten von Menschen horrende Verbrechen begehen, die ihren Interessen, ihrer Psychologie, der ganzen Sache ihres Lebens zuwiderlaufen? Urteil und Bewertung sollten auf bestimmten Bedingungen beruhen. Sie machen ihr Aussage nach der Verhaftung, unter dem Damoklesschwert, wenn sie selbst, ihre Ehefrauen, Mütter, Väter, Kinder, Freunde vollständig in die Klauen der GPU gefallen sind; wenn sie weder Schutz noch Lichtschimmer haben; wenn sie unter einem moralischen Druck stehen, den keine menschlichen Nerven ertragen können. Indessen begingen sie diese unglaublichen Grausamkeiten, deren sie sich selbst schuldig machten, – wenn man ihnen glaubt – zu einer Zeit, als sie völlig frei waren, als sie hohe Stellen innehatten, als sie die volle Gelegenheit zu ruhiger Reflexion, Diskussion und Wahl hatten. Ist es möglich zu bestreiten, dass die absurdeste Lüge vor dem Lauf eines Revolvers viel natürlicher ist als eine Kette von sinnlosen Verbrechen, die freiwillig begangen werden? Was ist wahrscheinlicher, werden wir weiter fragen: dass der politisch Exilierte, der der Macht und der Mittel beraubt war, der durch einen chemischen Schleier der Verleumdung von der UdSSR getrennt ist, mehrere Jahre lang Minister, Generäle und Diplomaten 6dazu veranlasst hat den Staat und sich selbst wegen nicht realisierbarer und absurder Ziele zu verraten; oder dass Stalin, der unbegrenzte Macht und unerschöpfliche Mittel, d. h. alle Mittel der Einschüchterung und Korruption hat, die Angeklagten gezwungen hat, Aussagen zu machen, die seinen, Stalins, Zwecken entsprechen?

Um die kurzsichtigen Zweifel des „gesunden Menschenverstandes" endlich zu besiegen, kann man noch eine Frage stellen, die letzte: was ist wahrscheinlicher – dass die mittelalterlichen Hexen wirklich in Verbindung mit den höllischen Mächten standen und Cholera, Pest und Rinderpest nach ihren nächtlichen Beratungen mit dem Teufel („dem Volksfeind“) in ihren Dörfern eindringen ließen? Oder dass sich die unglücklichen Frauen nur unter dem rotglühenden Eisen der Inquisition selbst verleumdet haben? Es genügt, die Frage konkret zu stellen, damit der ganze Bau von Stalin-Wyschinsky zu Staub zerfällt.

3.

Unter den wahnhaften Geständnissen der Angeklagten gibt es eines, das, soweit ich aus der Ferne beurteilen kann, unbemerkt geblieben ist, das aber selbst isoliert den Schlüssel nicht nur zu den Rätseln der Moskauer Prozesse, sondern zum ganzen Stalinregime als Ganzes gibt. Ich meine die Aussage von Dr. Lewin, dem ehemaligen Leiter des Kreml-Krankenhauses. Der 68-Jährige sagte im Prozess, dass er selbst absichtlich zum Tod Menschinskis, Peschkows (Gorkis Sohn), Kuibyschews und Maxim Gorkis beigetragen habe. Professor Lewin spricht nicht von sich selbst als geheimem „Trotzkisten", und niemand wirft ihm das vor; selbst Staatsanwalt Wyschinski schreibt ihm nicht den Wunsch zu, im Interesse Hitlers die Macht zu ergreifen. Nein, Lewin tötete seine Patienten auf Befehl Jagodas, des damaligen Chefs der GPU, der ihm im Falle des Ungehorsams schwere Repressalien androhte. Lewin hatte Angst vor der „Vernichtung" seiner Familie. Dies ist das wörtliche Zeugnis, das die Grundlage der Anklage bildete. Kirows Ermordung, die nacheinander von allen „Zentren" durchgeführt wurde; Pläne für die Zerstückelung der UdSSR; böswillige Entgleisungen von Zügen; Massenvergiftung von Arbeitern – all das ist nichts im Vergleich zu dem Zeugnis des alten Lewin. Die Täter dieser Gräueltaten waren von Machthunger, Hass, Gier geleitet, mit einem Wort, etwas, was nach persönlichen Zielen aussieht. Lewin, der das abscheulichste aller Verbrechen vollbrachte: Der heimtückische Mord an den Patienten, die ihm vertrauten, hatte keine persönlichen Motive. Im Gegenteil, er „liebte Gorki und seine Familie". Er tötete Sohn und Vater aus Angst um seine eigenen Familie. Er fand keinen anderen Weg, seinen Sohn oder seine Tochter zu retten, als dass er sich bereit erklärte, einen altersschwachen Schriftsteller, den Stolz des Landes, zu vergiften. Was ist das? Im „sozialistischen" Staat mit der „demokratischsten" aller Verfassungen vergiftet der alte Arzt, dem politische Ambitionen und Intrigen fremd sind, seine Patienten aus Angst vor dem Chef der Geheimpolizei. Derjenige, dem die höchste Autorität gegeben wurde, um Verbrechen zu bekämpfen, ist der Organisator von Verbrechen. Derjenige, dessen Aufgabe es ist, Leben zu retten, tötet. Tötet aus Angst. Sagen wir einen Moment, dass das alles wahr sei. Was kann man in diesem Fall über das gesamte Regime sagen? Lewin ist keine zufällige Person. Er behandelte Lenin und Stalin und alle Regierungsmitglieder. Ich kannte diese ruhige und gewissenhafte Person gut. Wie jeder seriöse Arzt hat er intime, fast bevormundende Beziehungen zu seinen hohen Patienten aufgebaut. Er weiß genau, wie die Wirbelsäulen der Herren „Führer" aussehen und wie ihre autoritären Nieren funktionieren. Lewin hatte freien Zugang zu jedem Würdenträger. Könnte er nicht Stalin, Molotow, irgendeinem Mitglied des Politbüros und der Regierung von der blutigen Erpressung durch Jagoda erzählen? Es stellt sich heraus, dass er es nicht konnte. Anstatt den Schurken der GPU bloßzustellen, sah sich der Arzt im Interesse der Rettung seiner Familie gezwungen, seine Patienten zu vergiften. So betrachtet das stalinistische Regime das Moskauer Justizpanorama ganz oben, im Kreml, im intimsten Teil des Kremls, im Krankenhaus für Regierungsmitglieder! Was passiert dann im Rest des Landes?

Aber das alles ist eine Lüge“, wird der Leser ausrufen, „Dr. Lewin hat niemanden vergiftet! Er hat lediglich unter der GPU-Mauser falsche Aussagen gemacht." Ganz richtig, antworte ich. Aber die Physiognomie des Regimes wird dadurch noch ominöser. Wenn der Arzt unter der Drohung des Chefs der Polizei wirklich ein schweres Verbrechen begangen hätte, könnte man noch alles andere vergessen und sagen: einen pathologischen Fall, Verfolgungswahn, senile Demenz, irgendetwas. Aber nein, Lewins Zeugenaussage ist ein integraler Bestandteil des von Stalin inspirierten Gerichtsplans, der vom Staatsanwalt Wyschinski in Verbindung mit dem neuen Leiter der GPU Jeschow entwickelt wurde. Diese Leute hatten keine Angst, auf eine solche Albtraum-Fiktion zurückzugreifen. Sie hielten sie nicht für unmöglich. Im Gegenteil, von allen möglichen Optionen wählten sie die wahrscheinlichste, d. h. am besten den Bedingungen, Beziehungen und Sitten entsprechende.7 Alle Beteiligten am Gericht, die gesamte sowjetische Presse, alle Machthaber erkannten stillschweigend die volle Plausibilität der Tatsache an, dass der Chef der GPU jede Person dazu bringen kann, ein Verbrechen zu begehen, selbst wenn diese Person auf freiem Fuß ist, ein hohes Amt genießt und den Schutz der herrschenden Elite genießt. Aber wenn das der Fall ist, kann man auch nur für einen Moment daran zweifeln, dass die allmächtige und alles durchdringende GPU fähig ist, jeden „Gefangenen" im inneren Gefängnis der Lubjanka „freiwillig" Verbrechen bekennen zu lassen, die er nie begangen hat? Die Aussage Dr. Lewins ist der Schlüssel für den gesamten Prozess.

Dieser Schlüssel enthüllt alle Geheimnisse des Kremls und schließt zugleich den Anwälten der Stalinschen Justiz auf der ganzen Welt den Mund.

★ ★

Sage man uns nicht: Dazu hat die Oktoberrevolution geführt! Es ist fast das gleiche wie wenn man die Brücke sieht, die im Januar8 über dem Niagara zerstört wurde, und ausruft: Dazu führen Wasserfälle!9 … Die Oktoberrevolution hat nicht nur zu Justizfälschungen geführt. Sie gab der Wirtschaft und Kultur der großen Völkerfamilie einen starken Impuls. Aber sie hat auf einer höheren Ebene auch neue soziale Gegensätze entstehen lassen. Die Rückständigkeit und Barbarei, das Vermächtnis der Vergangenheit, fanden ihren kondensiertesten Ausdruck in der neuen bürokratischen Diktatur. Im Kampf gegen eine lebendige und wachsende Gesellschaft gelangte diese Diktatur ohne Ideen, ohne Ehre und ohne Gewissen, zu beispiellosen Verbrechen und gleichzeitig in die tödliche Krise.

Die Beschuldigung des Arztes Pletnew des Sadismus als eine Episode in der Vorbereitung des gegenwärtigen Prozesses; die romantischen Interessen Jagodas als die Ursache des Todes von Gorkis Sohn; der religiöse Talisman von Rosengolz' Frau und vor allem das „Geständnis" Dr. Lewins – aus all diesen Episoden entströmt der Geruch des Verfalls, der aus dem Fall Rasputin in der letzten Periode der Zarenmonarchie entsprang. Die herrschende Schicht, die solche Gase freisetzen kann, ist dem Untergang geweiht. Der gegenwärtige Prozess ist eine tragische Erschütterung der Diktatur Stalins. Vom Willen der Völker der UdSSR, wie auch der Weltöffentlichkeit, hängt es ab, dass dieses Regime bei seinem unvermeidlichen Fall nicht alle sozialen Errungenschaften, für die eine Reihe von Generationen des russischen Volkes mit unzähligen Opfern bezahlt haben, zum Grund des historischen Abgrunds mitreißt.

Coyoacan, 10. März 1938

1 In den englischen und französischen Übersetzungen lauten die beiden Sätze: „Wyschinski hat ein bedeutendes Element persönlicher Rache in den politischen Prozess integriert. In den Jahren der Revolution gehörte er zur Partei der Weißen Garde.“

2 In den englischen und französischen Übersetzungen: „verdächtigt und gedemütigt“

3In der englischen Übersetzung: Nikolai Bucharin, Alexei Rykow, C. G. Rakowski

4In der englischen Übersetzung: Alexander Trojanowski, Iwan Maiski und Jakob Suritz

5 In den englischen und französischen Übersetzungen: „Sowjetrepubliken“

6 In den englischen und französischen Übersetzungen ergänzt: „mit der Bewegung seines kleinen Fingers

7 In den englischen und französischen Übersetzungen ergänzt: „Der vorsitzende Richter würde den ehemaligen Leiter des Kreml-Krankenhauses kaum fragen, warum er sich dem Kriminellen unterwarf, statt ihn zu entlarven. Noch weniger kann Wyschinski eine solche Frage stellen.“

8 In den englischen und französischen Übersetzungen: „vor kurzem“

9 In den englischen und französischen Übersetzungen: „dazu führt unser Kampf gegen Wasserfälle!“

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