Leo Trotzki: „Eine neue Ära des Friedens?"1 [Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und und französischen Übersetzung] Chamberlain verkündete diese Formel: Das Münchner Abkommen eröffne eine „neue Ära des Friedens". Noch nie zuvor vielleicht war die Politik so empirisch, blind, lebte in solchem Ausmaß für den heutigen Tag, eilte so sich bescheidend flüchtigen Resultaten nach wie heute. Die Erklärung dafür ist, dass die Leiter der Weltschicksale, insbesondere des europäischen, Angst haben, in den morgigen Tag zu blicken. Jede Beruhigungsformel, so leer sie auch sein mag, findet dankbare Aufnahme. „Neue Ära des Friedens"? Es stellt sich heraus, dass alle Reibungen und Krämpfe der europäischen Politik von der Existenz des Flickenteppichs Tschechoslowakei oder dem Fehlen freundschaftlicher Gespräche zwischen den Herrschern von Deutschland und England bestimmt waren. Wahrhaftig, man kann in Entsetzen geraten über die Leichtgläubigkeit und Geduld der öffentlichen Meinung, der von den autoritativsten Tribünen solche zuckersüßen Plattheiten vorgesetzt werden Erinnern wir uns an das ABC. Das Wesen der gegenwärtigen Weltkrise wird durch zwei wesentliche Umstände bestimmt. Erstens: Der klassische Kapitalismus des freien Handels verwandelte sich in monopolistischen Kapitalismus und hat längst die Grenzen der Nationalstaaten überschritten. Daher die Jagd nach ausländischen Märkten für Waren und Kapital, der Kampf um Rohstoffquellen und als Krönung von all diesem die Kolonialpolitik. Der zweite historische Faktor besteht in der ungleichen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Entwicklung der verschiedenen Länder. Die alten Metropolen2 des Kapitals, wie England und Frankreich, stockten in ihrer Entwicklung. Emporkömmlinge wie Deutschland, die Vereinigten Staaten und Japan haben einen langen Weg zurückgelegt. Aufgrund der radikalen und fieberhaften Veränderung des Machtgleichgewichts ist es notwendig, immer häufiger die Weltkarte zu überarbeiten. Das Münchner Abkommen hat an diesen Rahmenbedingungen nichts geändert. Der letzte Krieg begann von Seiten Deutschlands unter der Losung: „Man sagt, dass die Welt bereits aufgeteilt ist? In diesem Fall muss man sie neu aufteilen.“ Zwanzig Jahre nach dem Krieg entdeckte es mit neuer Kraft ein Missverhältnis zwischen dem spezifischen Gewicht der europäischen Hauptländer und ihrem Anteil an der Weltausbeutung auf der Grundlage des Versailler Vertrags. Die naive öffentliche Meinung war beeindruckt von der Schwäche, die die europäischen Demokraten in der Zeit der letzten Krise aufwiesen; das internationale Prestige des Faschismus ist zweifellos gewachsen. Die Sache handelte sich aber keineswegs um die „Demokratie" als solche, sondern um das spezifische wirtschaftliche Gewicht Englands und insbesondere Frankreichs in der Weltwirtschaft. Das gegenwärtige wirtschaftliche Fundament dieser beiden „Demokratien" steht in völligem Widerspruch zu Umfang und Reichtum ihrer Kolonialreiche. Auf der anderen Seite wurde die Dynamik der deutschen Wirtschaft, die durch den Frieden von Versailles vorübergehend gelähmt war, wiederhergestellt und beginnt erneut, die Grenzpfeiler zu lockern und umzustürzen. Wir sprechen nicht konkret über Italien, denn das Schicksal von Krieg und Frieden liegt nicht in seinen Händen. Vor Hitlers Machtantritt war Mussolini stiller als Wasser unter dem Gras3. Im Kampf um die Weltherrschaft ist er immer noch zur Rolle eines Satelliten verurteilt. England und Frankreich fürchten sich vor jedem Weltbeben, denn sie können nichts gewinnen und können alles verlieren. Daher ihre panische Nachgiebigkeit. Aber Teilzugeständnisse bieten nur kurze Atempausen, indem sie die wesentliche Quelle des Konflikts nicht beseitigen und nicht schwächen. Als Resultat des Münchner Abkommens erweiterte sich die europäische Basis unter Deutschland, verengte sich unter den Gegnern. Wenn wir die Worte Chamberlains ernst nehmen, stellt sich heraus, dass die Schwächung der Demokratien und die Stärkung der faschistischen Staaten … eine „Ära des Friedens" eröffnet. Das Haupt der konservativen Regierung wollte das offensichtlich nicht sagen. Was er jedoch genau sagen wollte, ist nicht ganz klar, offenbar ihm selbst nicht. Von einer „Ära des Friedens" könnte man mit einem gewissen Recht sprechen, wenn die Bedürfnisse des deutschen Kapitalismus nach Rohstoffen und Märkten mit dem Beitritt der „Blutsbrüder" oder dem gestiegenen Einfluss Deutschlands in Zentral- und in Südosteuropa befriedigt wären. Tatsächlich schürt der Beitritt des Saargebiets, Österreichs und des Sudetenlandes nur die offensiven Tendenzen der deutschen Wirtschaft. Auf der Suche nach einer Lösung seiner inneren Widersprüche wird der deutsche Imperialismus in die Weltarena gezwungen. Es ist also kein Zufall, dass General von Epp, der zukünftige Minister für zukünftige4 Kolonien, unmittelbar nach dem Beginn der „Ära des Friedens" auf Wunsch Hitlers die Rückgabe des ehemaligen Kolonialbesitzes Deutschlands ankündigte. Chamberlain beabsichtigt, so versichern einige Stimmen, eine „symbolische" Geste zu machen, nämlich Deutschland nicht alles – oh, natürlich nicht! – aber einiges von seinen früheren Besitztümer zurückzugeben und Hitlers Ambitionen zu erfüllen, Deutschland wieder in den Rang der Kolonialmächte zu erheben. All das klingt wie Kinderei, wenn nicht wie Hohn. Deutschland besaß vor dem Weltkrieg unwesentliche Kolonien; aber es war in den alten Grenzen so eingeengt, dass es durch den Krieg versuchte, in die wahre Arena der Weltausbeutung vorzudringen. Die Rückgabe seiner alten überseeischen Besitztümer würde daher keine der Aufgaben des deutschen Kapitalismus erfüllen. Die kolonialen Landstückchen der Hohenzollern braucht Hitler nur als Stützpunkte im Kampf um „echte" Kolonien, d.h. um die Umverteilung der Welt. Aber diese Umverteilung kann nicht anders erreicht werden als auf dem Wege der Eliminierung der britischen und französischen Imperien. Die Kolonialmächte zweiter und dritter Ordnung werden unterwegs eliminiert. Das vernichtende Gesetz der Konzentration gilt in gleicher Weise für kleine Sklavenhalterstaaten wie für kleine Kapitalisten innerhalb von Staaten. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass der nächste Versuch einer Einigung der vier Mächte auf Kosten der Kolonien Hollands, Belgiens, Spaniens und Portugals erfolgen wird. Aber das würde nur eine kurze Atempause bedeuten. Wie weiter? Das Tempo, mit dem Deutschland seine Forderungen stellt, kann niemand als langsam und geduldig bezeichnen. Selbst wenn Großbritannien und Frankreich sich zur Selbstzerstörung in Raten entschieden hätten, würde dies der deutschen Offensive nur neue Kraft verleihen. Außerdem könnten die Vereinigten Staaten nicht ruhige Beobachter bleiben bei einer so klaren Verletzung des Welt-„Gleichgewichts". Die Aussicht, von Angesicht zu Angesicht einem Deutschland, einer Herrin der Weltkolonien und der großen Wege5, gegenüberzustehen, kann den nordamerikanischen Koloss auf keinen Fall erfreuen. Deshalb wird er mit immer mehr Kraft England und Frankreich nicht in Richtung Nachgiebigkeit, sondern in Richtung Widerstand drängen. In der selben Zeit verkündet der Tokioter Fürst Konoe, die Notwendigkeit „der Überarbeitung aller Verträge im Interesse der Gerechtigkeit", d.h. im Interesse Japans. Der Pazifik verspricht nicht, in den nächsten zehn Jahren ein Taufbecken des Friedens zu sein. In den guten alten Zeiten dachte nur England in Kontinenten. Aber es dachte langsam, in Jahrhunderten. In dieser Zeit haben alle imperialistischen Staaten gelernt, in Kontinenten zu denken. Aber die Zeit wird nicht in Jahrhunderten gemessen, sondern in Jahrzehnten und sogar Jahren. Das ist der wahre Charakter unserer Epoche, die auch nach der Münchner Zusammenkunft eine Epoche des zügellosen und rasenden Imperialismus bleibt. Bis die Nationen ihn bändigen, wird er unseren blutigen Planeten zunehmend umgestalten. Der Zustand der deutschen Wirtschaft verlangt von Hitler, seine militärische Stärke so schnell wie möglich zu verwirklichen. Die Armee hingegen braucht eine Verzögerung, weil sie nicht kriegsbereit ist: Sie ist eine neue Armee, in der nicht alles harmonisch ist, nicht alles in den angemessenen Proportionen ist. Aber der Widerspruch zwischen diesen beiden Forderungen misst sich nicht in Jahrzehnten, sondern in ein oder zwei Jahren, vielleicht sogar Monaten. Die demonstrative Mobilmachung, die Hitler in der Zeit der tschechoslowakischen Krise durchführte, hatte das Ziel, die Nerven der herrschenden Klassen in England und Frankreich zu erproben. Diese Probe gelang aus der Sicht Hitlers ruhmreich. Die ihn zurückhaltenden Zentren, die auch vorher nicht allzu stark waren, wurden endgültig geschwächt. Geschwächt wurde der Widerstand der deutschen Generäle und der Führer der deutschen Wirtschaft. Getan wurde ein entscheidender Schritt in Richtung Krieg. Beim zweiten Mal wird Hitler seinen Bluff nicht wiederholen können. Aber er wird zweifellos den Effekt eines so erfolgreichen Experiments in die entgegengesetzte Richtung nutzen. In der Zeit einer neuen Krise wird er versuchen, rund um die Mobilisierung die Illusion einer einfachen Drohung zu schaffen, das Aussehen eines neuen Bluff, um tatsächlich über die Gegner mit der vereinten Kraft seiner Armeen herzufallen. In der Zwischenzeit erwärmen die Herren Diplomaten wieder die Idee … der Rüstungsbeschränkung. Den Diplomaten folgen die Pazifisten (im Hauptberuf Sozialimperialisten6) des Typs Jouhaux und Co. und fordern eine vollständige Abrüstung. Kein Wunder, dass der russische Dichter sagte: „Kostbarer als die Dunkelheit bitterer Wahrheiten ist uns unsere erhebende Täuschung.7” Aber diese Herren täuschen nicht so sehr sich selbst als das Volk. Den Krieg von 1914-1918 nannten Staatsmänner zur Tröstung der Völker8 „den letzten Krieg9". Seitdem hat dieser Ausdruck ironischen Charakter angenommen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Chamberlains Ausdruck „eine neue Ära des Friedens" in kurzer Zeit mit der gleichen bitteren Ironie gefärbt sein wird. Wir werden mit offenen Augen in die Zukunft blicken. Europa zieht zum Krieg, und mit ihm zusammen die ganze Menschheit. L. Trotzki 4. November 1938, Coyoacán 1 In der englischen Übersetzung: „Frieden in unserer Zeit“, also die genaue von Chamberlain gebrauchte Formulierung 2 In der englischen Übersetzung: „Mutterländer“ 3 In der englischen und französischen Übersetzung: „mäuschenstill“ 4 Fehlt in der französischen Übersetzung 5 In der englischen Übersetzung: „Schifffahrtsrouten“, in der französischen Übersetzung: „Seewege“ 6 In der englischen und französischen Übersetzung: „in Übereinstimmung mit ihrem Hauptberuf/ihrer grundlegenden Rolle als Sozialimperialisten“ 7 Eine Paraphrase aus dem Gedicht Герой (Heroj) von Puschkin (1830) In einer deutschen Nachdichtung: „Mehr als der Wahrheit Trugschimäre/Ist lieb mir ein erhabener Wahn“ (Der Held, in Alexander Puschkin, Die Gedichte. Aus dem Russischen übertragen Michael von Engelhard, Frankfurt an Main – Leipzig 2003, S. 379-381, hier S. 381 8 In der englischen und französischen Übersetzung eingefügt: „der Welt“ 9 In der englischen Übersetzung: „Krieg, um alle Kriege zu beenden“ |
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