Leo Trotzki: Ein verspäteter Prozess gegen Marschall Tuchatschewski [eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzungen] In diesem Prozess wird nicht nur über zerbrochene und zermalmte Menschen, über sittlich Halbtote, sondern auch über direkt Tote geurteilt. Die Schatten von Marschall Tuchatschewski, Jakir, Uborewitsch, Kork und anderen getöteten Generälen sitzen auf der Anklagebank. Nach der Festnahme und den anschließenden Erschießungen sprach die sowjetische Presse von ihnen als ausländischen Agenten und Spionen. Eine militärische Verschwörung, ein Plan, den Kreml einzunehmen und Stalin zu töten, wurde nie erwähnt. Indessen sollte die Regierung wissen, warum sie die besten sowjetischen Generäle tatsächlich erschossen hat. Aber zur Zeit der scharfen politischen Panik im letzten Sommer handelte Stalin schneller als er dachte. Da er die Reaktion der Armee fürchtete, hielt er es nicht für möglich, Zeit mit der Inquisition der Generäle zu verbringen. Außerdem waren sie Menschen der jüngerer Generation mit stärkeren Nerven und gewohnt, dem Tod in die Augen zu schauen. Für einen öffentlichen Prozess waren sie nicht gut. Es gab nur einen Ausweg: zuerst erschießen und dann erklären. Aber selbst nachdem die Schüsse der Mauser verklungen waren, konnte Stalin sich immer noch nicht mit der notwendigen Version der Anklage aufhalten. Jetzt können wir mit vollem Vertrauen sagen, dass der verstorbene Ignaz Reiss Recht hatte, als er behauptete, dass es kein Militärgericht hinter verschlossenen Türen gab. Ja, und warum sollte man auch die Tür verschließen, wenn es wirklich um eine Verschwörung ginge? Die Generäle wurden nach der gleichen Vorgehensweise getötet, in der Hitler im Juni 1934 mit Röhm und anderen abrechnete. Offenbar erhielten acht weitere Generäle (Alksnis, Budjonny, Bljucher, Schaposchnikow usw.) bereits nach dem Massaker den fertigen Urteilsspruch, wobei sie zur Unterschrift aufgefordert wurden. Das Ziel war, einige zu töten, andere zu testen und zu diskreditieren. Das ist ganz im Stil Stalins. Es besteht kein Zweifel, dass einige der angeblichen „Richter", wenn nicht alle, nicht damit einverstanden waren, vor der öffentlichen Meinung als Scharfrichter ihrer engsten Mitkämpfer aufzutreten, und das auch, nachdem die Hinrichtung bereits von anderen ausgeführt war. Die Namen der Störrischen wurden trotzdem unter das Urteil gesetzt und sie selbst wurden später der Absetzung, Verhaftung und Hinrichtung unterworfen. Alles schien beendet zu sein. Aber die öffentliche Meinung, einschließlich der Meinung der Roten Armee selbst, glaubte nicht und konnte nicht glauben, dass die Helden des Bürgerkriegs, die brillanten Soldaten der Revolution, der Stolz des Landes, sich aus einem unbekannten Grund als deutsche oder japanische Spione erwiesen. Man brauchte eine neue Version. Bei der Vorbereitung des laufenden Prozesses wurde beschlossen, rückwirkend den verstorbenen Generälen einen militärischen Staatsstreichplan zuzuschreiben. Es war also nicht das verabscheuungswürdige Handwerk eines Spions, sondern das stolze der Militärdiktatur. Tuchatschewski wollte den Kreml übernehmen, Gamarnik – die Lubjanka (die GPU). Stalin sollte zum 101. Mal getötet werden. Wie immer erhielt die neue Version sofort eine rückwirkende Kraft. Die Vergangenheit wird entsprechend den Bedürfnissen der Gegenwart neu sortiert. Laut Rosengolz empfahl Sedow ihm bereits 1934 in Karlsbad (wo Sedow nie in seinem Leben gewesen ist), den „Verbündeten" Tuchatschewski, der sich durch eine Tendenz zur Napoleonischen Diktatur auszeichne, genau zu beobachten. So entwickelt sich das Verschwörungsschema allmählich in Zeit und Raum. Die Enthauptung der Roten Armee ist nur eine Episode der Vernichtungskampagne gegen den allgegenwärtigen und alles durchdringenden „Trotzkismus". Im Interesse der Klarheit muss ich ein paar Worte über die Beziehungen sagen, die zwischen mir und Tuchatschewski bestanden. Ich half ihm bei seinen ersten Schritten in der Roten Armee1 an der Wolga. Die gesamte erste Etappe seiner militärischen Laufbahn vollendete er in enger Zusammenarbeit mit mir. Ich schätzte sein militärisches Talent ebenso wie die Unabhängigkeit seines Charakters, nahm aber die kommunistischen Ansichten dieses ehemaligen Gardeoffiziers nicht ernst. Tuchatschewski fühlte beides. Er behandelte mich, soweit ich das beurteilen konnte, mit aufrichtigem Respekt, aber unsere Gespräche gingen nie über offizielle Beziehungen hinaus. Ich glaube, dass er meinen Rückzug aus der Militärbehörde teils mit Bedauern, teils mit einem Seufzer der Erleichterung akzeptierte. Er konnte, nicht ohne Berechtigung, meinen, dass sich mit meinem Weggang für seinen Ehrgeiz und seine Unabhängigkeit eine breitere Arena eröffne. Seit meinem Rücktritt, also seit dem Frühjahr 1925, haben Tuchatschewski und ich uns nie getroffen oder korrespondiert. Er führte streng die offizielle Linie durch. Bei Parteitreffen in der Armee war er einer der Hauptredner gegen den Trotzkismus. Ich denke, dass er es ohne Leidenschaft getan hat, pflichtgemäß. Aber seine aktive Teilnahme an der vergifteten Kampagne gegen mich war so groß, dass sie die Möglichkeit irgendwelcher persönlicher Beziehungen zwischen uns ausschloss. All das war jedem so klar, dass es niemand in den Sinn kommen konnte, eine politische Verbindung zwischen Tuchatschewski und mir herzustellen. Dies erklärt die Tatsache, dass die GPU es nicht wagte, den Fall der Generäle im Mai und Juni letzten Jahres mit den trotzkistischen „Zentren" in Verbindung zu bringen. Es dauerte einige zusätzliche Monate der Vergessenheit und mehrere zusätzliche Schichten von Lügen, um ein solches Experiment zu wagen. Das Urteil des sogenannten Obersten Gerichtshofs (Prawda, 12. Juni 1937) wirft den Generälen vor, „systematisch Informationen zur Spionage“ an einen feindlichen Staat zu liefern und „die Niederlage der Roten Armee im Falle eines militärischen Angriffs gegen die UdSSR vorzubereiten“. Dieses Verbrechen hat nichts mit dem Plan eines Militärputsches zu tun. Im Mai 1937, als nach Krestinskis Aussage die Eroberung des Kremls, der Lubjanka usw. stattfinden sollte, gab es keinen „militärischen Angriff auf die UdSSR". Die militärischen Verschwörer wollten daher nicht auf den Krieg warten. Sie hatten einen bestimmten Tag im Voraus für einen Militärschlag festgelegt. Indessen bestand das „Verbrechen", für das die Generäle erschossen wurden, in Spionage, um „im Falle eines Krieges" die Niederlage der Roten Armee sicherzustellen. Beide Versionen haben nichts miteinander gemein. Sie schließen sich aus. Aber weder der Staatsanwalt Wyschinski noch der Gerichtspräsident Ulrich machen sich die Mühe, die Aussagen der gegenwärtigen Angeklagten mit dem Text des Todesurteils des Obersten Gerichtshofs vom 11. Juni 1937 zu vergleichen. Die neue Version wird aufgeführt, als hätte es nie einen „Obersten Gerichtshof", ein Urteil, eine Hinrichtung gegeben. Mit fast manischer Beharrlichkeit kehren Krestinski und Rosengolz, die Hauptankläger in diesem Teil des Prozesses, zu der Frage von Tuchatschewskis Verschwörung und meiner angeblichen Verbindung mit ihm zurück. Krestinski erklärt, dass er von mir einen Brief vom 19. Dezember 1936 erhalten habe; zehn Jahre nachdem ich alle Beziehungen zu ihm abgebrochen hatte, empfahl ich in diesem Schreiben die Schaffung einer „breiten militärischen Organisation". Dieser imaginäre Brief, der hilfreich das „weite Ausmaß des Komplotts" betont, hat das offenkundige Ziel, die Ausrottung des besten Teils der Offiziere zu rechtfertigen, die letztes Jahr begann, aber heute noch nicht beendet ist. Krestinski hat natürlich meinen Brief „verbrannt", Radeks Beispiel folgend, und nichts dem Gericht präsentiert, außer seinen verwirrten Erinnerungen. Derselbe Krestinski erklärte zusammen mit Rosengolz, dass sie auch nach der Hinrichtung der Generale von mir einen Brief erhielten, der kurz vor der Erschießung aus dem fernen Mexiko geschrieben wurde und die „Beschleunigung des Staatsstreichs" verlangte. Man muss denken, dass dieser Brief auch nach dem Beispiel aller Briefe „verbrannt" wurde, die in den Prozessen der letzten Jahre erscheinen. Auf jeden Fall, nach monatelanger Internierung, erzwungener Reise auf einem Tanker, vom Ort des Geschehens durch einen Ozean und einen Kontinent getrennt, bin ich über den praktischen Verlauf der Militärverschwörung so genau auf dem Laufenden, dass ich sogar Anweisungen über den Zeitraum des Putsch gebe. Aber wie ist mein Brief aus Mexiko in Moskau angekommen? Amerikanische Freunde schlagen vor, dass der mysteriöse Mr. Rubens dabei als Kurier auftritt, der mich mit den Schatten der Moskauer Generäle verbinden sollte. Da ich nichts über Rubens und seine Umlaufbahn weiß, enthalte ich mich eines Urteils. Ich glaube, die Herren Browder und Foster könnten mit viel größerer Autorität zu diesem Thema sprechen. Der wichtigste Zeuge der Anklage im Fall Tuchatschewski und anderer, Nikolai Krestinski, wurde bereits im Mai 1937 verhaftet und legte nach eigenen Angaben eine Woche nach seiner Festnahme ein offenes Geständnis ab. Die Generäle wurden am 11. Juni erschossen. Die Richter mussten Krestinskis Zeugenaussage zu dieser Zeit zur Verfügung haben. Er selbst hätte als Zeuge vor Gericht geladen werden sollen (wenn ein Gerichtsverfahren überhaupt stattfand). Jedenfalls konnte die Regierung in der Mitteilung über die Hinrichtung der Generäle nicht von Spionage sprechen und über die Militärverschwörung schweigen, wenn Krestinskis Aussage nicht erst nach der Hinrichtung der Generäle erfunden wurde. Der Kern der Sache ist, dass der Kreml den wahren Grund für die Exekution von Tuchatschewski und der anderen nicht laut nennen konnte. Die Generäle verteidigten die Rote Armee gegen die demoralisierenden Machenschaften der GPU. Sie verteidigten die besten Offiziere vor falschen Anschuldigungen. Sie lehnten die Errichtung der Diktatur der GPU über die Armee unter dem Deckmantel von „Militärräten" und „Kommissaren" ab. Die Generäle verteidigten die Interessen der Verteidigung gegen die Interessen Stalins. Deshalb sind sie umgekommen. Aus den grellen Widersprüchen und Lügenhaufen des neuen Prozesses tritt der Schatten von Marschall Tuchatschewski mit einem bedrohlichen Appell an die Weltöffentlichkeit auf! 5. März 1938, neun Uhr abends, Coyoacán L. Trotzki 1Der Rest des Satzes und der folgende Satz fehlen in der englischen Übersetzung. |
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