Leo Trotzki‎ > ‎1938‎ > ‎

Leo Trotzki 19381109 Ein Programm des Kampfes oder ein Programm der Anpassung

Leo Trotzki: Ein Programm des Kampfes oder

ein Programm der Anpassung

Aus Anlass des Briefes von Haya de la Torre

[eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der französischen und englischen Übersetzung, letztere unter dem Titel „Haya de la Torre und Demokratie“]

Die argentinische Zeitschrift Claridad druckte im August 1938 einen programmatischen Brief Haya de la Torres aus Anlass der Lage in Peru. Wir sind nicht geneigt, an dieses Dokument ein sozialistisches oder marxistisches Kriterium anzulegen. Haya de la Torre erscheint in dem Brief als Demokrat, nur als Demokrat, und deshalb müssen wir den Brief in erster Linie aus demokratischem Blickwinkel betrachten. Ein guter Demokrat ist besser als ein schlechter Sozialist. Leider ist es aus diesem Blickwinkel, dass der Brief von Haya de la Torre einen völlig unbestimmten Eindruck hervorruft.

Die äußeren Gefahren, die die lateinamerikanischen Länder bedrohen, beschränkt Haya de la Torre offenbar nur auf Italien, Deutschland und Japan. Er hat nicht den Imperialismus im Allgemeinen im Blick, sondern nur eine seiner Spielarten: den Faschismus. Er erklärt geradeheraus: „Natürlich denken wir alle, dass wir im Falle eines Angriffs die Vereinigten Staaten haben, die Treuhänderin unserer Freiheit, um uns zu schützen." Was ist das: Ironie? Nein, keine Ironie. Der Autor spricht über die Möglichkeiten der Invasion der faschistischen „Aggressoren" auf dem lateinamerikanischen Kontinent und erläutert: „Solange die Vereinigten Staaten wachsam und stark bleiben, sind diese Gefahren nicht nahe, aber sie bleiben dennoch Gefahren." Es ist unmöglich, deutlicher zu sprechen! Der APRA-Führer ist auf der Suche nach einem starken Patron.

Für Haya de la Torre existieren die Vereinigten Staaten nur als „Treuhänderin der Freiheit". Wir sehen in ihnen die nächstgelegene und im historischen Sinne die bedrohlichste imperialistische Gefahr. Wir wollen nicht sagen, dass die Regierungen der lateinamerikanischen Länder nicht das Recht haben, im Interesse der Selbsterhaltung die Gegensätze verschiedener imperialistischer Länder und Gruppierungen auszunutzen. Aber eine Sache ist der taktische Einsatz solcher Antagonismen von Zeit zu Zeit, je nach den spezifischen Umständen; eine andere Sache ist ein strategisches Rechnen mit den Vereinigten Staaten als ständiger Beschützerin. Diese opportunistische Position betrachten wir nicht nur als falsch, sondern auch als zutiefst gefährlich, da sie eine falsche Perspektive schafft und die Hauptaufgabe behindert: die revolutionäre Schulung des Volkes.

In welchem Sinne können die Vereinigten Staaten als „Treuhänderin" der Freiheit der von ihr ausgebeuteten Völker bezeichnet werden? Nur in dem Sinne, dass Washington bereit ist, die Länder Lateinamerikas vor der europäischen (oder japanischen) Herrschaft zu „schützen"; aber jeder Akt einer solchen „Verteidigung" würde die totale Unterjochung des „geschützten" Landes durch die Vereinigten Staaten bedeuten. Das Beispiel Brasilien zeigt, dass für die hohe „Treuhänderin" die Sache überhaupt nicht um die „Freiheit" geht. Nach dem Staatsstreich in Brasilien verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Washington und Rio de Janeiro nicht, sondern wurden im Gegenteil enger. Der Grund dafür ist, dass Washington in der Diktatur von Vargas ein unterwürfigeres und zuverlässigeres Instrument für die Interessen des amerikanischen Kapitals sieht als in einer revolutionären Demokratie. Dies ist im Wesentlichen die Position des Weißen Hauses gegenüber dem gesamten südlichen Kontinent.

Könnte es sein, dass Haya de la Torre einfach von dem Gedanken ausgeht, dass die imperialistische Herrschaft der Vereinigten Staaten das „kleinere Übel" ist? Aber dann muss man das sagen: Demokratische Politik braucht Klarheit. Aber wie lange wird dieses Übel noch kleiner bleiben? Diese Frage zu ignorieren, bedeutet, ein allzu riskantes Spiel zu spielen. Die Vereinigten Staaten stehen unter dem Einfluss der gleichen historischen Gesetze wie die europäischen Metropolen des Kapitalismus. Die „Demokratie" der Vereinigten Staaten ist in der heutigen Zeit nur die Form ihres Kapitalismus. Angesichts des schrecklichen Niedergangs des nordamerikanischen Kapitalismus wird die Demokratie die „Treuhänderin der Freiheit" nicht daran hindern, in naher Zukunft eine äußerst aggressive Politik zu verfolgen, die sich vor allem gegen die Länder Lateinamerikas richten wird. Das muss klar, deutlich, fest gesagt werden, und gerade diese Perspektive sollte die Grundlage für das revolutionäre Programm sein.

Einige der Führer der APRA sagen, so unglaublich das auch ist, dass die Verbindung der APRA und allgemein der national-revolutionären lateinamerikanischen Parteien mit dem revolutionären Proletariat der Vereinigten Staaten und anderer imperialistischer Länder keine „praktische" Bedeutung habe, da die Arbeiter dieser Länder nicht „interessiert" an der Stellung der kolonialen und halbkolonialen Völker seien. Wir halten diese Sichtweise im vollen Sinne des Wortes für selbstmörderisch. Kolonialvölker können nicht frei sein, solange der Imperialismus lebt. Und die imperialistische Bourgeoisie stürzen können die unterdrückten Völker nur im Bündnis mit dem internationalen Proletariat. Es ist unmöglich, nicht zu sehen, dass die Position der opportunistischsten Führer der APRA in dieser wesentlichen Frage durch den Brief von Haya de la Torre bestätigt wird. Wer die imperialistische amerikanische Bourgeoisie als „Treuhänderin" der Freiheit der Kolonialvölker betrachtet, kann natürlich nicht eine Union mit den nordamerikanischen Arbeitern anstreben. Die misstrauische Einschätzung des internationalen Proletariats in der Kolonialfrage entspringt unweigerlich dem Wunsch, die „demokratische" imperialistische Bourgeoisie nicht zu reizen, insbesondere die Bourgeoisie der Vereinigten Staaten. Natürlich, wer erwartet, in Roosevelt einen Verbündeten zu finden, kann kein Verbündeter der internationalen proletarischen Avantgarde werden. Hier ist die wesentliche Wasserscheide zwischen der Politik des revolutionären Kampfes und der Politik der prinzipienlosen Anpassung.

Haya de la Torre besteht auf der Notwendigkeit, die Länder Lateinamerikas zu vereinen und beendet seinen Brief mit der Formel: „Wir, die Vertreter der Vereinigten Provinzen Südamerikas". Die Idee selbst ist sicherlich richtig. Der Kampf für die Vereinigten Staaten von Lateinamerika ist untrennbar mit dem Kampf für die nationale Unabhängigkeit jedes der lateinamerikanischen Länder verbunden. Es ist jedoch notwendig, die Frage, wie eine solche Verbindung erreicht werden kann, klar und präzise zu beantworten. Aus der äußerst unklaren Formulierung Haya de la Torres lässt sich schließen, dass er hofft, die derzeitigen Regierungen Lateinamerikas davon zu überzeugen, sich freiwillig zu vereinen.... nicht1 unter der „Vormundschaft" der Vereinigten Staaten?2 Tatsächlich kann dieses große Ziel nur durch die revolutionäre Bewegung der Volksmassen gegen den Imperialismus, einschließlich des „demokratischen", und gegen seine internen Agenten erreicht werden. Das ist ein mühseliger Weg. Aber es gibt keinen anderen Weg.

Wir stellen auch fest, dass in dem Brief, der einen programmatischen Charakter trägt, kein Wort über die Sowjetunion zu finden ist. Sieht Haya de la Torre in der UdSSR eine Beschützerin der kolonialen und halbkolonialen Länder, ihre Freundin und Verbündete, oder glaubt er zusammen mit uns, dass die Sowjetunion unter dem gegenwärtigen Regime die größte Gefahr für schwache, rückständige und halb abhängige3 Völker darstellt? Das Schweigen von Haya de la Torre wird wieder durch klar opportunistische Erwägungen verursacht. Anscheinend will er die UdSSR in „Reserve" halten, falls die Vereinigten Staaten nicht helfen. Aber wer viele Freunde gewinnen will, verliert in der Regel die wenigen, die er hat.

Das sind die Gedanken, die durch den Brief des Führers der APRA hervorgerufen werden, auch wenn wir uns nur auf das demokratische Kriterium beschränken. Sind unsere Schlussfolgerungen falsch? Wir würden uns über Einwände der Vertreter von APRA freuen. Wir wünschen nur, dass diese Einwände präziser und konkreter, weniger ausweichend und diplomatisch sind als der Brief Haya de la Torres.

1 Fehlt in der englischen und französischen Übersetzung

2 In der englischen Übersetzung fehlt das Fragezeichen

3 In der englischen und französischen Übersetzung: „deren Unabhängigkeit bei weitem nicht vollständig ist“

Comments