Leo Trotzki: Ein politischer Dialog [Nach Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 7, Nr. 6-7 (97-98), Ende Juni – Anfang Juli 1939, S. 4] (Das Gespräch findet in Paris statt, es könnte auch in Brüssel sein. A. – ist einer jener «Sozialisten», die sich nur stark auf ihren Beinen fühlen, wenn sie sich an irgendeine Macht anlehnen können. A. ist natürlich ein «Freund der UdSSR». Selbstverständlich ist er Anhänger der Volksfront. B. zu charakterisieren fällt dem Autor schwer, da B. sein Freund und Gesinnungsgenosse ist.) A. – Sie können jedoch nicht leugnen, dass die Faschisten sich Ihrer Kritik bedienen. Wenn Sie die UdSSR entlarven, frohlockt die Reaktion. Natürlich glaube ich nicht den Verleumdungen wegen Ihrer Freundschaft mit Faschisten, Zusammenarbeit mit den Nazis usw. All das ist für Dummköpfe berechnet. Subjektiv stehen Sie selbstverständlich auf einem revolutionären Standpunkt. In der Politik sind indes nicht die subjektiven Absichten, sondern die objektiven Folgen von entscheidender Bedeutung. Ihre Kritik dient gegen Ihren Willen den Rechten. In diesem Sinne kann man sagen, dass Sie sich in einem objektiven Block mit der Reaktion befinden. B. – Ich danke Ihnen für Ihre glänzende Objektivität. Sie entdecken indes, lieber Freund, ein lang entdecktes Amerika. Schon im Kommunistischen Manifest wird erzählt, wie die feudale Reaktion versuchte, die gegen die liberale Bourgeoisie gerichtete sozialistische Kritik für ihre Zwecke auszunutzen. Gerade darum haben die Liberalen und vulgären «Demokraten» immer und unentwegt die Sozialdemokraten des Bündnisses mit der Reaktion bezichtigt. Ehrliche, aber – wie soll man sagen? – etwas beschränkte Herren sprachen von einem «objektiven» Bündnis, von einer «faktischen» Zusammenarbeit durchtriebene Schufte hingegen beschuldigten die Revolutionäre des direkten Bündnisses mit den Reaktionären, verbreiteten Gerüchte, dass die Sozialisten mit ausländischem Gelde arbeiten usw. Wahrhaftig Freund, Sie haben das Pulver nicht erfunden. A. – Gegen Ihre Analogie kann man zwei entscheidende Einwände machen. Erstens: insofern es sich um die bürgerliche Demokratie handelt … B. – Um die imperialistische! A. – Ja, um die bürgerliche Demokratie, die sich – man kann es nicht ignorieren – in Todesgefahr befindet. Die Unzulänglichkeiten der bürgerlichen Demokratie entlarven, wenn sie stark und kräftig ist, das ist eine Sache; sie aber von links untergraben in einer Zeit, wo der Faschismus sie von rechts umzuwerfen versucht, bedeutet … B. – Sie brauchen nicht fortzufahren: diese Melodie ist uns bekannt. A. – Gestatten Sie, ich habe noch nicht geendigt … Mein zweiter Einwand zielt darauf hin, dass es sich diesmal nicht nur um die bürgerliche Demokratie handelt. Es besteht die UdSSR, die Sie selber als einen Arbeiterstaat anerkannten und die Sie, wie es scheint, noch immer als solchen anerkennen. Diesem Staat droht gegenwärtig vollständige Isolierung. Indem Sie die Mängel der USSR – einzig und allein die Mängel – enthüllen und das Prestige des ersten Arbeiterstaates in den Augen der Arbeitenden der ganzen Welt zerstören, helfen Sie objektiv dem Faschismus. B. – Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Objektivität. Sie meinen also, man dürfe die «Demokratie» nur dann kritisieren, wenn diese Kritik für Sie keine Gefahr bedeutet. Dann aber, wenn die verfaulte imperialistische Demokratie (und nicht die «bürgerliche Demokratie» im Allgemeinen!) tatsächlich ihre vollständige Unfähigkeit bezeugt, die Aufgaben zu lösen, die durch die Geschichte gestellt sind (gerade darum fällt die «Demokratie» so leicht unter den Schlägen der Reaktion), in dieser Periode also soll der Sozialismus nach Ihrer Meinung sich ein Schloss vor den Mund hängen. Sie erniedrigen den Sozialismus zur Rolle eines «kritischen» Ornaments am Gebäude der bürgerlichen Demokratie; die Rolle des Erben der Demokratie gestehen Sie ihm nicht zu. Im Grunde sind Sie nur ein zu Tode erschrockener konservativer Demokrat und nichts mehr. Und Ihre «sozialistische» Phraseologie ist nur ein billiges Ornament an Ihrem Konservatismus. A. – Und wie verhält es sich mit der UdSSR, die den unzweifelhaften Erben der Demokratie und das Embryo der neuen Gesellschaft darstellt? Ich leugne natürlich nicht die in der UdSSR vorhandenen Fehler und Unzulänglichkeiten. Irren ist menschlich. Unvollkommenheiten sind unvermeidlich. Jedoch nicht zufällig greift die gesamte Reaktion die UdSSR an … B. – Genieren Sie sich denn nicht, solche Banalitäten zu wiederholen? Ja, Ungeachtet der freiwilligen und zwecklosen Bücklinge des Kreml setzt die Weltreaktion ihren Kampf gegen die UdSSR fort. Warum? Weil in der UdSSR bis heute die Nationalisierung der Produktionsmittel und das Außenhandelsmonopol bewahrt geblieben sind. Wir Revolutionäre greifen die Bürokratie der USSR an, weil sie dank ihrer Politik des Schmarotzertums und der Unterdrückung die Nationalisierung der Produktionsmittel und das Außenhandelsmonopol, d.h. die Grundelemente des sozialistischen Aufbaus unterhöhlt. Hierin besteht der kleine, ganz kleine Unterschied zwischen uns und der Reaktion. Der Weltimperialismus fordert von der Oligarchie des Kreml, dass sie ihre Arbeit zu Ende führt und dass sie nach der Wiedereinführung der Dienstgrade, der Orden, der Privilegien, der Dienerschaft, der Interessenheirat, der Prostitution, der Strafen für Abtreibung usw. usw. auch das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederherstellt. Wir dagegen rufen die Arbeiter der USSR auf, die Kremloligarchie zu stürzen und die wahrhafte Sowjetdemokratie als notwendige Bedingung des sozialistischen Aufbaus aufzurichten. Darin besteht der Unterschied, ein ganz kleiner Unterschied. A. – Sie können aber doch nicht leugnen, dass die UdSSR trotz aller ihrer Unvollkommenheiten einen Fortschritt darstellt? B. – Nur ein oberflächlicher Tourist, der die Gunstbezeugungen der gastfreundlichen Wirte von Moskau genossen hat, kann die «UdSSR» als ein einheitliches Ganzes betrachten. Neben äußerst fortschrittlichen Tendenzen gibt es in der UdSSR bösartige reaktionäre Tendenzen. Man muss wissen, sie zu unterscheiden und die einen gegen die anderen zu verteidigen. Die unaufhörlichen Säuberungen zeigen selbst den Blinden die Gewalt und die Spannung der neuen Antagonismen. Der Grund der sozialen Widersprüche liegt zwischen den betrogenen Massen und der neuen aristokratischen Kaste, die die Restauration einer Klassengesellschaft vorbereitet. Darum kann ich nicht «für die UdSSR» im Allgemeinen sein. Ich bin für die arbeitenden Massen, die die UdSSR geschaffen haben und gegen die Bürokratie, die die Eroberungen der Revolution usurpiert hat. A. – Aber fordern Sie denn die unmittelbare Einführung einer vollständigen Gleichheit in der USSR? Indessen, schon Marx... B. – Ich bitte Sie, lassen Sie diese von allen gemieteten Advokaten Stalins abgenutzte Phrase beiseite. Ich versichere Sie, dass ich ebenfalls gelesen habe, dass es in dem ersten Stadium des Sozialismus keine vollständige Gleichheit geben kann, dass dies die Aufgabe des Kommunismus ist. Nicht darin besteht jedoch die Frage; sie besteht darin, dass zusammen mit dem Wachsen der Allmacht der Bürokratie die Ungleichheit in der ungeheuerlichsten Weise wächst. Entscheidend ist nicht die Statik, sondern die Dynamik, d.h. die allgemeine Richtung der Entwicklung. Die Ungleichheit in der UdSSR gleicht sich nicht nur nicht aus, sondern sie verschärft sich, und zwar nicht täglich, sondern stündlich. Das Wachstum der sozialen Ungleichheit kann man unmöglich anders als durch revolutionäre Maßnahmen gegen die neue Aristokratie aufhalten. Das allein ist der Inhalt unserer Position. A. – Aber die imperialistische Reaktion nutzt Ihre Kritik in ihrer Gesamtheit, demzufolge also auch gegen die Eroberungen der Revolution aus? B. – Natürlich, sie versucht es zu machen. Im politischen Kampf versucht jede Klasse die Widersprüche in den Reihen ihrer Gegner auszunutzen. Zwei Beispiele: Lenin, der, wie Sie vielleicht gehört haben, niemals ein Vertreter der Einheit um der Einheit willen war, bemühte sich, die Bolschewiki von den Menschewiki zu trennen. Wie sich aus den zaristischen Archiven ergab, hat auch das Polizeidepartement mit Hilfe seiner Provokateure seinerseits an der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki mitgearbeitet. Nach der Februarrevolution von 1917 haben die Menschewiki unaufhörlich in den verschiedensten Tonarten wiederholt, dass die Ziele und Methoden Lenins mit denen der zaristischen Polizei identisch seien. Ein billiges Argument! Die Polizei hoffte, dass die Spaltung die Sozialdemokratie schwächen würde. Lenin dagegen war überzeugt, dass die Spaltung mit den Menschewiki den Bolschewiki. die Möglichkeit geben würde, eine wahrhaft revolutionäre Politik zu entfalten und die Massen zu erobern. Wer hat also Recht behalten? Zweites Beispiel: Wilhelm II. und sein General Ludendorff versuchten während des Krieges Lenin für ihre eigenen Zwecke auszunutzen und stellten ihm sogar einen Waggon für seine Rückkehr nach Russland zur Verfügung. Die russischen Kadetten und Kerenski nannten Lenin nicht anders wie Agent des deutschen Imperialismus. Und sie brachten dabei wirkungsvollere oder zumindest weniger dumme Beweise als die, deren sich heute ihre Nachahmer bedienen. Und das Resultat? Nach der Niederlage Deutschlands hat Ludendorff gestanden – lesen Sie seine Memoiren -- dass er, als er auf Lenin rechnete, den größten Fehler seines Lebens begangen hat. Nach dem Eingeständnis von Ludendorff selbst wurde die deutsche Armee nicht von den Armeen der Entente, sondern von den Bolschewiki durch die Oktoberrevolution zerstört. A. – Aber die militärische Sicherheit der UdSSR? Aber die Zerrüttung ihrer Verteidigungsfähigkeit? B. – Darüber schweigen Sie besser! Während Stalin mit der spartanischen Einfachheit der Roten Armee brach, hat er das Offizierskorps mit fünf Marschällen gekrönt: Doch hat er dadurch den Generalstab nicht bestechen können. Dann beschloss er, ihn zu vernichten. Vier von den fünf Marschällen, und zwar die fähigsten, wurden füsiliert und mit ihnen die ganze Blüte des militärischen Kommandos. Über der Armee wurde ein Institut von persönlichen Spionen Stalins errichtet. Die Armee ist bis in ihre Grundfesten erschüttert. Die UdSSR ist geschwächt. Die Schwächung der Armee dauert an. Touristen-Parasiten können sich mit Paradeschauspielen auf dem Roten Platz zufrieden geben. Die Pflicht des ernsten Revolutionärs ist. offen zu sagen: Stalin bereitet die Niederlage der UdSSR vor. A. – Und die Schlussfolgerung? B. – Sie ist einfach; die kleinen Taschendiebe der Politik glauben, mit Hilfe billiger Schönrednerei, mit List, mit Kombinationen hinter den Kulissen und mit Betrug der Massen ein grandioses historisches Problem lösen zu können. Von solchen Taschendieben wimmelt es in den Reihen der internationalen Arbeiterbürokratie. Ich aber denke, dass das soziale Problem nur die Arbeitermasse lösen kann, die die Wahrheit weiß. Die sozialistische Erziehung bedeutet: den Massen sagen, was ist. Die Wahrheit hat oft einen bitteren Geschmack und die «Freunde der USSR» lieben Süßigkeiten. Aber die Liebhaber von Süßigkeiten sind Elemente der Reaktion und nicht des Fortschritts. Wir werden auch weiterhin den Massen die Wahrheit sagen. Es gilt die Zukunft vorzubereiten. Die revolutionäre Politik ist eine Politik auf weite Sicht. Leo Trotzki |
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