Leo Trotzki: Ein neuer Prozess [eigene Übersetzung aus dem Russischen, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung] Im Februar letzten Jahres, während des zweiten Moskauer Prozesses (Pjatakow-Radek), der den schlechten Eindruck des ersten Prozesses (Sinowjew-Kamenew) korrigieren sollte, sagte ich in der Presse: „Stalin ist wie ein Mann, der sein Durst mit Salzwasser zu stillem versucht. Er wird gezwungen sein, einen weiteren gerichtlichen Betrug nach dem anderen zu führen. " Der dritte Moskauer Prozess wurde langfristiger, und – man muss annehmen – sorgfältiger als die vorherigen vorbereitet. Seit einigen Wochen läuft vor den Augen der ganzen Welt die internationale Vorbereitung ab. Stalins berüchtigter Artikel über die internationale Revolution (17. Februar)1, der viele überraschte, hatte die Aufgabe, in den Reihen der Arbeiterklasse eine günstigere Atmosphäre für den künftigen Prozess zu schaffen. Stalin wollte den Arbeitern sagen, dass, wenn er die gesamte revolutionäre Generation vernichte, es ausschließlich im Interesse der internationalen Revolution sei. Es gibt keinen anderen Zweck für seinen Artikel. Der Tod meines Sohnes Leo Sedow, der immer noch von Geheimnis umhüllt ist, sollte bis zum Beweis des Gegenteils als der zweite Akt der Vorbereitung des Prozesses betrachtet werden: Es war notwendig, einen informierten und mutigen Ankläger um jeden Preis zum Schweigen zu bringen. Der dritte Akt der Vorbereitung war der Versuch von Herrn Lombardo Toledano, Laborde und anderen mexikanischen Agenten Stalins, mich am Vorabend des dritten Prozesses zum Schweigen zu bringen, wie die norwegische Regierung mich nach dem ersten Prozess (August 1936) zum Schweigen brachte. Dies sind die Hauptelemente der Vorbereitung. Die Anklage gegen die 21 Angeklagten wird erneut erst vier Tage vor dem Prozess veröffentlicht, um die öffentliche Meinung zu überraschen und die rechtzeitige Bereitstellung von Dementis aus dem Ausland zu verhindern. Bezüglich der Bedeutung der Beschuldigten übertrifft der gegenwärtige Prozess weit den Radek-Pjatakow-Prozess und nähert sich dem Sinowjew-Kamenew-Prozess. In der Liste der Angeklagten sind mindestens sieben ehemalige Mitglieder des Zentralkomitees der Partei, einschließlich Krestinski, Bucharin, Rykow, ehemaliger Mitglieder des Politbüros, d. h. der Institution, die tatsächlich die höchste Macht des Sowjetstaates darstellt. Nach Lenins Tod war Rykow mehr als fünf Jahre lang der offizielle Regierungschef. Bucharin war ab 1918 der Herausgeber des Zentralorgans der Partei, der Prawda, und ab 1926 der offizielle Führer der Komintern, dann, nach seinem Sturz, der Herausgeber der Iswestija. Rakowski war der Chef der ukrainischen Regierung, dann der Botschafter in London und Paris. Krestinski, der Vorgänger Stalins als Sekretär des Zentralkomitees der Partei, war dann mehrere Jahre Botschafter in Berlin. Jagoda stand fast zehn Jahre lang an der Spitze der GPU als die vertrauenswürdigste Person Stalins und bereitete den Sinowjew-Kamenew-Prozess vollständig vor. Unter den Angeklagten sind mindestens sechs ehemalige Mitglieder der Zentralregierung. Von den neun Leuten, die Mitglieder des Politbüros in der Epoche Lenins waren, d. h. die eigentlichen Herrscher über das Schicksal der UdSSR, ist jetzt Stalin allein unschuldig. Alle übrigen werden zu Agenten ausländischer Staaten erklärt, und die Anschuldigungen reichen bis 19212 und sogar 1918 zurück. Die russische weiße Emigration warf Lenin, mir und allen anderen bolschewistischen Führern mehr als einmal vor, die Oktoberrevolution im Auftrag des deutschen Generalstabs ausgeführt zu haben. Jetzt versucht Stalin, diese Anschuldigung zu bestätigen. Nach ihren politischen Tendenzen fallen die mir bekannten Angeklagten in drei Gruppen: A) Bucharin und Rykow, ehemalige Führer der rechten Opposition; der dritte Führer dieser Gruppe, Tomski, der ehemalige Vorsitzende der sowjetischen Gewerkschaften, wurde im vergangenen Jahr durch Schikanen in den Selbstmord getrieben. Die rechte Opposition stand ab 1923 in einem unversöhnlichen Kampf gegen die Linke Opposition, die sogenannten Trotzkisten. Rykow, Bucharin und Tomski führten Hand in Hand mit Stalin die gesamte Kampagne gegen die linke Opposition. B) Die zweite Gruppe besteht aus Angeklagten, die für eine gewisse Zeit tatsächlich der linken Opposition angehörten. Dazu gehören Krestinski und Rosengolz, die sich 1927 offen auf die Seite Stalins geschlagen haben, und Rakowski, der vor vier Jahren in das Regierungslager zurückgekehrt ist. C) Die dritte Gruppe sind, soweit ich sie kenne, entweder aktive Stalinisten oder unpolitische Spezialisten. Ein besonderes Licht auf den ganzen Prozess wirft der Name Professor Pletnews. Letztes Jahr wurde er wegen Sexualverbrechen verhaftet. Dies wurde von der gesamten sowjetischen Presse offen geschrieben. Jetzt wird Pletnew in den Prozess der … politischen Opposition hineingezogen. Eines von zweien: entweder wurden die sexuellen Anklagen gegen ihn nur erhoben, um die notwendigen Geständnisse von ihm zu erpressen; oder Pletnew ist wirklich des Sadismus schuldig, aber er hofft, mit „Geständnissen", die gegen die Opposition gerichtet sind, Gnade zu erlangen. Diese Hypothese können wir möglicherweise während des Prozesses überprüfen. Wie konnte Stalin zu dieser neuer Herausforderung der öffentlichen Meinung der Welt gelangen? Die Antwort auf diese natürliche Frage besteht aus vier Elementen: 1) Stalin verachtet die öffentliche Meinung. 2) Er liest die ausländische Presse nicht. 3) Agenten der Komintern informieren ihn aus allen Ländern über ihre „Siege" über die öffentliche Meinung. 4) Informierte Menschen wagen es nicht, Stalin die Wahrheit zu enthüllen. So wurde er unbemerkt zu einem Opfer seiner eigenen Politik. Er ist gezwungen, Salzwasser zu trinken, um seinen Durst zu stillen. 16.30 Uhr, 28. Februar 1938. Coyoacán 1In den englischen und französischen Übersetzungen: „14. Februar“ 2In den englischen und französischen Übersetzungen: „1928“ |
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