Leo Trotzki: Die Rolle Genrich Jagodas [Bulletin der Opposition (Bolschewiki-Leninisten) Nr. 65. Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzungen] Der vielleicht fantastischste Teil der ganzen Reihe der Moskauer Justizphantasmen ist die Hinzufügung Genrich Jagodas, des langjährigen Chefs der GPU, als einen der „Verschwörer" des trotzkistisch-bucharinistischen Zentrums. Man konnte alles erwarten, aber das nicht. Stalin musste lange im Politbüro manövrieren, bis er Jagoda, seine vertrauteste Person, als Chef der GPU durchsetzen konnte. Seit 1923 war der Kampf gegen alle Arten von Opposition in den Händen Jagodas konzentriert. Er war nicht nur der engste Vollstrecker aller Falsifikationen und Fälschungen, sondern auch der Organisator der ersten Erschießungen von Oppositionellen im Jahr 1929: Bljumkin, Silow und Rabinowitsch. Auf den Seiten des von Leo Sedow in Paris herausgegebenen „Bulletin der Opposition" wird Jagodas Name Dutzende Male in ungefähr demselben Ton zitiert, in dem der Name der zaristischen Ochranachefs Subatow einst in revolutionären Publikationen genannt wurde. Es war Jagoda, der Hand in Hand mit Staatsanwalt Wyschinski alle sensationellen Prozesse seit der Ermordung von Kirow vorbereitet hatte und im August 1936 mit dem Sinowjew-Kamenew-Prozess beendete. Das System der aufrichtigen Reuebekenntnisse wird als die Erfindung Genrich Jagodas in die Geschichte eingehen. Wenn jemand gesagt hätte, Goebbels sei ein Agent des Papstes, würde das viel weniger absurd klingen als die Behauptung, Jagoda sei ein Agent Trotzkis. Tatsache ist jedoch, dass Jagoda für die neue juristisches Konstruktion nicht als Architekt, sondern als Material benötigt wurde. Das Schicksal des allmächtigen Chefs der Geheimpolizei wurde abgewogen und entschieden, wo alle diese Fragen entschieden werden: in Stalins Büro. Jagoda war für einen bestimmten Platz im Prozess vorgesehen, wie eine Figur in einem Schachspiel. Eine Aufgabe blieb: ihn dazu zu zwingen, die ihm bestimmte Rolle zu übernehmen. Es war nicht so schwierig. In den ersten Monaten nach Jagodas Verhaftung kam seine Teilnahme an der Verschwörung Tuchatschewskis, der Trotzkisten und der Rechten nicht in Frage. Weder Jagoda noch die öffentliche Meinung waren dafür schon reif, und es gab keine Gewissheit, dass Wyschinsky den neuen Klienten erfolgreich der Öffentlichkeit zeigen konnte. Die ersten Anklagen, die von der sowjetischen und der Weltpresse mitgeteilt wurden, waren: ungezügelter Lebenswandel, Plünderung staatlicher Gelder, wilde Orgien. Waren diese Behauptungen wahr? In Bezug auf Jagoda kann man dies tolerieren. Ein Karrierist, Zyniker, kleinlicher Despot, war er natürlich kein Vorbild an Tugend auch in seinem persönlichen Leben. Man muss nur hinzufügen, dass, wenn er seinen ausschweifenden Instinkten erlaubte, bis an die Grenzen des Verbrechens zu gehen, dann nur deshalb, weil er von seiner völligen Straflosigkeit überzeugt war. Die Lebensweise Jagodas war übrigens lange in Moskau bekannt, auch Stalin selbst. Alle Tatsachen, die sowjetische Würdenträger in Misskredit bringen, werden von Stalin mit wissenschaftlicher Gründlichkeit gesammelt und bilden ein besonderes Archiv, aus dem sie in Teilen nach Maßgabe der politischen Notwendigkeit entnommen werden. Die Stunde schlug, als Jagoda moralisch gebrochen werden musste. Dies führt zu skandalösen Enthüllungen über sein Privatleben. Nach dieser Art der Bearbeitung über mehrere Monate stand der frühere Chef der GPU vor einer Alternative: als Plünderer öffentlicher Gelder erschossen zu werden oder vielleicht sein Leben als mutmaßlicher Verschwörer zu retten. Jagoda traf seine Wahl und wurde in die Liste der 21 aufgenommen. Die Welt erfuhr schließlich, dass Jagoda die Trotzkisten nur zur „Tarnung" erschossen hatte; in der Tat war er ihr Verbündeter und Agent. Wer und warum brauchte aber die Einfügung einer so unglaublichen und so kompromittierenden Komplikation in das bereits verworrene gerichtliche Amalgam? Die Aufnahme Jagodas in die Liste der Angeklagten ist zu fantastisch, als dass man mit allgemeinen Erklärungen zufrieden sein kann. Es musste einen bestimmten, unmittelbaren und äußerst akuten Grund gegeben haben, der Stalin nicht einmal davor Halt machen ließ, seinen Agenten Nr. 1 in Trotzkis Agenten zu verwandeln. Diese Ursache wird jetzt von Jagoda selbst offenbart. Seinen Worten (Sitzung vom 5. März) zufolge befahl er seinen Untergebenen in Leningrad, natürlich „auf Trotzkis Anweisung“, den Terrorakt gegen Kirow nicht zu behindern. Ein solcher Befehl, vom Chef der GPU ausgehend, war gleichbedeutend damit, den Mord an Kirow anzuordnen. Die natürlichste Annahme: Jagoda nimmt ein Verbrechen auf sich, mit dem er nichts zu tun hatte. Aber wer brauchte das ehrliche oder falsche Geständnis des ehemaligen Chefs der GPU über den Mord an Kirow und warum? Quid Prodest? Erinnern wir uns kurz der wichtigsten Fakten. Kirow wurde am 1. Dezember 1934 von dem unbekannten Nikolajew getötet. Der Prozess des Mörders und seiner angeblichen Komplizen fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Alle 14 Angeklagten wurden erschossen. Aus der teilweise in der sowjetischen Presse veröffentlichten Anklage und weiteren offiziellen Angaben ging hervor, dass der lettische Konsul Bisenieks Nikolajew 5.000 Rubel für eine künftige terroristische Handlung gab und von ihm als Gegenleistung einen „Brief für Trotzki" verlangte. Am 30. Dezember 1934 drückte ich in der Presse die Gewissheit aus, dass Konsul Bisenieks ein Agent Jagodas war. („Bulletin der Opposition", Januar 1935). Ich habe damals nicht gedacht und denke auch jetzt nicht, dass die GPU den tatsächlichen Mord an Kirow im Sinn hatte. Die Aufgabe bestand darin, eine „Verschwörung" vorzubereiten, die Opposition, insbesondere mich, in sie zu verwickeln und im letzten Moment den Versuch aufzudecken. Diese Hypothese wurde weniger als einen Monat später offiziell bestätigt. Am 23. Januar 1935 verurteilte das Militärgericht 12 verantwortliche Leningrader Beamte der GPU, angeführt von ihrem Chef Medwed, zu einer Haftstrafe von 2 bis 10 Jahren. Das Urteil wurde wörtlich veröffentlicht: „Sie waren sich des versuchten Attentats auf Kirow bewusst, zeigten aber ... kriminelle Nachlässigkeit (!) ... ohne die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen." Offener konnte man sich unmöglich ausdrücken. „Kriminelle Nachlässigkeit" bedeutet hier nichts weiter als die direkte Beteiligung der GPU an der Vorbereitung eines Anschlags auf Kirow. In Verbindung mit der Rolle des Konsul Bisenieks wird es noch offensichtlicher, dass Nikolajew nur ein Werkzeug in den Händen von offiziellen Provokateuren war. Aber das Werkzeug war ungehorsam. Offensichtlich nutzte Nikolajew den günstigen Moment aus und schoss auf Kirow, bevor Jagoda es schaffte, einen „Brief für Trotzki" zu bekommen. Schon die Notwendigkeit, zur allgemeinen Kenntnis veröffentlichen, dass zwölf verantwortliche Agenten der GPU im Voraus über das bevorstehende Attentat Bescheid wussten, kann nur dadurch erklärt werden, dass sehr hohe Personen um jeden Preis ihr Alibi präsentieren mussten. Die Umstände des Mordes an Kirow mussten an der Spitze der Bürokratie das Getuschel hervorrufen, dass der „Führer" im Kampf mit der Opposition mit den Köpfen seiner engsten Mitarbeiter zu spielen begann. Keine sachkundige Person bezweifelte, dass Medwed, der Chef der Leningrader GPU, täglich Jagoda über den Verlauf der verantwortlichen Operation berichtete, sowie dass Jagoda mit Stalin in Verbindung blieb und Anweisungen von ihm erhielt. Diese äußerst gefährlichen Gerüchte abzuweisen, konnte nichts anderes bedeuten, als die Leningrader Vollstrecker des Moskauer Plans zu opfern. Am 26. Januar 1935 schrieb ich: „Ohne ausdrückliches Einverständnis von Stalin – richtiger, ohne seine Initiative – hätten sich weder Jagoda, noch Medwedjew jemals zu einem so riskanten Unternehmen entschlossen." („Bulletin der Opposition", Februar 1935). Der Tod Kirows war der Ausgangspunkt für die systematische Vernichtung der alten Bolschewistengeneration. Aber je mehr die GPU die Prozesse um die Leiche von Kirow gruppierte, desto heftiger klopfte die Frage an: Quid Prodest? Wer brauchte es? Die Vernichtung der alten Garde ist Stalins klares und offensichtliches politisches Ziel. Die Moskauer Obersten zweifelten daher keinen Augenblick daran, dass Jagoda nicht ohne Stalins Anweisungen handeln konnte. Der Verdacht drang in immer größere Kreise und verwandelte sich in Gewissheit. Es wurde unbedingt notwendig, dass Stalin sich von Jagoda losriss, um zwischen sich und Jagoda einen tiefen Graben zu schaffen und, wenn möglich, Jagodas Leiche in diesen Graben zu werfen. Man könnte Dutzende weiterer Fakten, Zitate und Überlegungen bringen (sie befinden sich in den Archiven der Kommission von John Dewey), die unsere Schlussfolgerung eindeutig bestätigen. Kirows Ermordung war nichts anderes als ein Nebenprodukt eines von Stalin-Jagoda geschaffenen Polizeiamalgams, um die Oppositionsführer des Terrorismus anzuklagen. Um diese Zusammenarbeit zu verschleiern, versuchte Stalin, der Öffentlichkeit nur zweitrangige Agenten (Medwed und andere) zu geben. Das Anwachsen der Enthüllungen und die innere Logik der Fakten selbst zwangen Stalin schließlich dazu, seinen Mitarbeiter Nr. 1 zu opfern. Dies erklärt das Unerklärlichste im gegenwärtigen Prozess: die Aussage des ehemaligen Chefs der GPU, dass er am Mord an Kirow „nach Trotzkis Anweisungen" beteiligt war. Wer diese am meisten verborgene aller Triebfedern des Prozesses versteht, versteht leicht alles andere. Coyoacan, 7. März 1938 |
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