Leo Trotzki: Die Angeklagten Selenski und Iwanow [Eigene Übersetzung nach Bulletin der Opposition (Bolschewiki-Leninisten) Nr. 65, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzung] Die Figur Selenski war während des Prozesses ein blasser Schatten. Indessen ist das eine große Figur. Selenski war mehrere Jahre Sekretär des Moskauer Komitees, der Hauptorganisation der Partei, und Mitglied des Zentralkomitees. Später wurde er Leiter der Genossenschaftsorganisation der UdSSR, eines mächtigen Verteilungsapparats, der Milliarden verwaltet. Er war vor 12 Jahren mit dem verstorbenen Kamenew befreundet, einem Mitglied des Politbüros und Vorsitzenden des Rates für Arbeit und Verteidigung; aber seit der offenen Kluft zwischen Kamenew und Stalin (1926) trat Selenski auf die Seite Stalins. Aller Wahrscheinlichkeit nach konnte er die Ausrottung der alten Bolschewiki, zu denen er selbst gehörte, nicht stillschweigend hinnehmen. Das hat auch ihn ins Verderben gestürzt. In diesem Rahmen unterscheidet sich das Schicksal Selenskis nicht vom Schicksal vieler anderer Angeklagter. Überraschend ist die Art der Anklage gegen ihn. Wenn man der Anklage und Selenski selbst glaubt, war dieser 1911 ein Agent der zaristischen Polizei in Samara. Das gleiche gilt für den Angeklagten Iwanow. Für das ehemalige Mitglied des Zentralkomitees der Partei und für den ehemaligen Volkskommissar der Forstindustrie ist der Vorwurf wirklich erstaunlich! Ist es wahr? Wir werden keine psychologischen Vermutungen anstellen, die in solchen Fällen immer einen wackeligen Charakter haben, sondern wir werden von den unerschütterlichen Tatsachen ausgehen. Unmittelbar nachdem die Bolschewiki die Macht erobert hatten, begannen die Parteikomitees und dann die Tscheka-Abteilungen, die Archive der zaristischen Polizeibehörde und der lokalen zaristischen Sicherheitsbehörden zu untersuchen. Es gab zahlreiche Provokateure, die den Volksgerichten übergeben wurden und die bösartigsten wurden erschossen. Das Studium der Archive, die Klassifizierung der Materialien, ihre detaillierte Überprüfung waren bereits 1923 vollständig abgeschlossen. Wie konnte also die „provokative" Vergangenheit Selenskis und Iwanows geheim bleiben? Wie konnten sie solche verantwortungsvollen Posten besetzen? Und warum wurde das Geheimnis erst jetzt im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Prozess plötzlich offenbart, d. h. mit einer Verzögerung von zwanzig Jahren? Wir halten es für notwendig, hier zu sagen, was der Ankläger natürlich nicht sagen wird. Unter den jungen Revolutionären der zaristischen Ära gab es viele, die sich während der Verhöre ohne ausreichenden Mut oder die nötige Vorsicht verhielten. Manche schworen ihren Überzeugungen ab, andere nannten ihre Mittäter. Diese Leute waren weder Agenten der Polizei noch geschweige denn Provokateure. Sie zeigten nur zu einem bestimmten Zeitpunkt Feigheit. Viele von ihnen berichteten den Führern der Parteiorganisation offen ihren Fehler, nachdem sie das Gefängnis verlassen hatten. Abhängig von der Größe des Fehlers und ihrem weiteren Verhalten hat die Partei sie entweder für immer ausgeschlossen oder wieder in ihre Reihen aufgenommen. Seit 1923 hat Stalin als Generalsekretär der Partei all diese Materialien in seinem Archiv konzentriert und sie sind in seinen Händen ein mächtiges Werkzeug gegen Hunderte von alten Revolutionären geworden. Mit der Drohung der Entlarvung, der Kompromittierung oder des Ausschlusses aus der Partei erstrebte Stalin von diesen Personen sklavischen Gehorsam und brachte sie Schritt für Schritt bis zur vollständigen Demoralisierung. Man kann durchaus annehmen, dass in der politischen Vergangenheit von Zentralkomiteemitglied Selenski und Volkskommissar Iwanow Fehler der oben beschriebenen Art gab. Stalin konnte diese Tatsachen vor 15 Jahren nicht übersehen, denn bei allen verantwortungsvollen Aufgaben wurden die gründlichsten Nachforschungen im Archiv geführt. Es kann daher mit absoluter Sicherheit gesagt werden, dass weder Selenski noch Iwanow jemals ein Agent der zaristischen Polizei waren. Aber Stalin hatte einige Dokumente, die es ihm ermöglichten, den Willen dieser Opfer zu brechen und sie bis zum letzten Grad der moralischen Erniedrigung zu bringen. Das ist das Stalin-System! Coyoacán, 11. März 1938 |
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