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Leo Trotzki 19380307 Der neue Verlauf der Affäre

Leo Trotzki: Der neue Verlauf der Affäre

[eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit den englischen und französischen Übersetzungen]

Am 28. Februar äußerte ich die Vermutung, dass nach den vorherigen Experimenten der Prozess besser vorbereitet und einstudiert sein werde. Diese Annahme war nicht gerechtfertigt. Bereits kurze Nachrichtentelegramme bezeugen, dass der aktuelle Prozess mit nicht weniger Widersprüchen und Unsinn gefüllt ist als die vorherigen. Dies erklärt sich zum großen Teil daraus, dass die Fälschungsorganisatoren ihre Arbeit nicht mit einer leeren Seite starten konnten, sondern die Lücken vergangener Prozesse schließen, Löcher stopfen, Widersprüche versöhnen und gleichzeitig für eine Steigerung der Sensationen, Erhöhung der Zahl der Opfer und der Menge der Verbrechen sorgen mussten.

Krestinski erklärt, dass er von mir einen Brief vom 18. Dezember 1936 erhalten habe; zehn Jahre nachdem ich alle Beziehungen zu ihm abgebrochen hatte, empfahl ich in diesem Schreiben, eine „breite militärische Organisation" zu schaffen. Dieser imaginäre Brief, der den „breiten" Maßstab der Verschwörung höflich betonte, hatte das offensichtliche Ziel, die Vernichtung des besten Teils der Offiziere zu rechtfertigen, die letztes Jahr begann, aber heute noch keineswegs beendet ist1. Krestinski hat natürlich meinen Brief nach dem Beispiel Radeks „verbrannt" und dem Gericht nichts vorgelegt außer seinen wirren Erinnerungen. Indessen war ich mit meiner Frau im Dezember 1936 auf Antrag Moskaus von der norwegischen Regierung interniert, und meine ganze Korrespondenz ging durch die Hände der norwegischen Polizei. Wenn man annimmt, dass ich meine Anweisungen mit unsichtbarer Tinte geschrieben habe, bleibt immer noch die Frage nach dem offiziellen Brief mit dem geheimen Text, nach dem Umschlag und der Adresse dieses Briefes. Alle versandte und empfangene Post wurde im so genannten „Passbüro" in Oslo registriert, die gerichtliche Überprüfung würde daher keine Schwierigkeiten bereiten. Ich füge hinzu, dass ich zu dieser Zeit förmlich an meinen norwegischen Anwalt Puntervold geschrieben habe, die größte Vorsicht bei unbekannten Besuchern zu beachten, die später in einem neuen Prozess als Mittelsmänner zwischen mir, meinem Anwalt und Moskauer „Terroristen" auftreten könnten. Alle notwendigen Dokumente zu diesem Thema liegen in den Händen von Miss Suzanne La Follette, der Sekretärin der New Yorker Untersuchungskommission.

Derselbe Krestinski erklärte, dass ich ihm einen Brief bereits aus Mexiko geschrieben hätte, in dem ich meine „Empörung" über Pjatakows aufrichtige Zeugenaussage im Prozess zum Ausdruck brachte. Der Zweck dieses imaginären Briefes ist offensichtlich: mit meiner „Empörung" Pjatakows Aussage zu stützen, die hoffnungslos kompromittiert war durch seinen berühmten Flug von Berlin nach Oslo im Dezember 1935, als nach offiziellen Angaben in Oslo kein ausländisches Flugzeug flog. Wenn ein solcher Brief notwendig für Wyschinski war, warum brauchte ich ihn dann? Der Pjatakow-Prozess war beendet und Pjatakow war erschossen. Platonische Entrüstung in einem konspirativen Brief auszudrücken, der eine Reihe von Grenzen überschreiten sollte, wäre eine extreme Leichtfertigkeit, besonders wenn man die Persönlichkeit des Adressaten berücksichtigt. Das Verhalten Krestinskis bei der Verhandlung charakterisiert ihn als völligen Hysteriker. Wenn ich von dem vermeintlichen Freund Pjatakow „betrogen" wurde, konnte man mit viel größerer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Krestinski mich verraten würde. Was war der Zweck, Krestinski einen für mich nutzlosen Brief zu schicken, der in den Händen der GPU ein mächtigeres Werkzeug gegen mich gewesen wäre als alle Geständnisse der Angeklagten zusammengenommen? Aber der Brief landete nirgendwo. Es wurde natürlich verbrannt, so weit man einen ungeschriebenen Brief verbrennen kann.

Die Anklage schreibt Bucharin den Plan der Ermordung Lenins, Stalins und Swerdlows im Jahre 1918 zu, als Bucharin und seine Gruppe die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk ablehnten. Wer Menschen und Beziehungen kennt, versteht leicht den ganzen Unsinn dieser Anklage. Bucharin behandelte Lenin mit der Anhänglichkeit eines Kindes an seine Mutter. Was Stalin betraf, so war er im Jahr 1918 so unbedeutend, dass der geschworenste Terrorist nicht daran gedacht hätte, ihn als Opfer auszuwählen. In diesem Teil hat der Prozess die Aufgabe, die gegenwärtige bürokratische „Herrlichkeit" Stalins in die Vergangenheit zu projizieren.

Im Zusammenhang mit der gleichen Anklage gegen Bucharin erscheinen einige Mitglieder der Bucharin-Gruppe von 1918 – Ossinski, Jakowlewa, Manzew und andere – als Zeugen und Angeklagte von morgen vor Gericht. Aber wir finden die Namen von zwei Personen nicht, die eine wichtige Rolle in der Gruppe der Gegner des Friedens von Brest-Litowsk spielten, nämlich Kuibyschew und Jaroslawski. Es stimmt, Kuibyschew, der ehemalige Vorsitzende der Staatlichen Plankommisssion, wird jetzt für von Ärzten des Kremls vergiftet erklärt. Aber das ändert nichts an dem Fall. Im Jahr 1918 wollte Kuibyschew offensichtlich selbst Lenin, Stalin und Swerdlow vergiften. Was Jaroslawski betrifft, ist er nicht nur gesund und munter, sondern beteiligt sich auch aktiv an der Säuberung der Opposition. Aus diesem Grund erhielt Jaroslawski, dieser Bucharinist des Jahres 1918, offensichtlich eine Amnestie. Für wie lange? Wenn Jagoda selbst, der gestrige Chef der GPU, als Trotzkist auf der Anklagebank sitzt, dann wird niemand für das Schicksal Jaroslawskis bürgen.

Wie vieles an dieser schrecklichen Tragödie ist immer ein Narrenstreich!

1938, 7. März, 17 Uhr Coyoacán

1„… letztes Jahr begann, aber heute noch keineswegs beendet ist“ nach der englischen und französischen Übersetzung. In der russischen Fassung heißt es: „… heute begann“, was wohl ein Fehler beim Abtippen o.ä. war.

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