Leo Trotzki: „Der Entscheidung entgegen“* [eigene Übersetzung nach dem russischen Text im Bulletin der Opposition (Bolschewiki-Leninisten), Nr. 70, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung] Unter diesem Titel erschien in Brno (Tschechoslowakei) auf Deutsch ein Buch (1911 Seiten), das der Analyse der Weltlage, der inneren Lage in der Tschechoslowakei und den Aufgaben des Proletariats gewidmet ist. Der Autor des Buches, Jaroslav Cerný, der sein Werk im Namen der Avantgarde-Gruppe veröffentlichte, steht voll und ganz auf der Position des revolutionären Marxismus. Es ist natürlich, wenn er gleichzeitig ein überzeugter Anhänger der Vierten Internationale ist. Ebenso natürlich ist es, wenn die bürgerliche, sozialdemokratische und stalinistische Presse über diese hervorragende und volle Aufmerksamkeit verdienende Arbeit völlig schweigt. Diese Notiz beansprucht in keiner Weise, ein kritischer Artikel über Genosse Cernýs Buch zu sein; auf eine derartige Aufgabe hoffe ich später zurückzukommen. Ich stelle hier fest, dass ich mit dem Autor des Buches nicht in allem einverstanden bin. Seine Einschätzung des letzten industriellen Aufschwungs scheint mir also sehr übertrieben. Aber das ist eine Frage der Analyse von Faktenmaterial, und jetzt, da die Vereinigten Staaten wieder in eine tiefe Krise geraten sind, ist es viel einfacher, den vorausgegangenen Aufschwung richtig einzuschätzen, als an jenen Tagen, als Genosse Cerný sein Buch schrieb. Es gibt noch einige andere Spezialfragen, die meiner Meinung nach einer zusätzlichen Diskussion bedürfen. Aber all das sind doch Spezialfragen, die nicht unsere grundsätzliche Solidarität mit dem Autor des Buches verletzen. Eine aktuell-politische Frage muss jedoch sofort behandelt werden. Cerný schreibt: „Was die Trotzkisten betrifft, so haben sie sich im Verlauf der letzten zehn Jahre als die einzige marxistische Strömung erwiesen, die den Faschismus richtig eingeschätzt hat, und sie haben rechtzeitig eine proletarische Einheitsfront gefordert, um ihn zu bekämpfen, zu einer Zeit, als Stalin die Sozialdemokratie noch als Zwilling des Faschismus bezeichnete. Diese Einschätzung des Trotzkismus wurde vor nicht allzu langer Zeit von sehr vielen führenden Beamten2 der Zweiten Internationale vollständig geteilt, zu denen auch der Genosse Otto Bauer gehörte.“ Hier ist hinzuzufügen, dass die linken Sozialdemokraten begannen, sich „wohlwollend" auf uns zu beziehen im Verlauf der dritten Periode seligen Angedenkens, als sich unsere marxistische Kritik vor allem gegen die ultralinken Bocksprünge der Komintern richtete. Seit jener Zeit jedoch, als die Komintern eine auf den ersten Blick unerwartete, aber im Wesentlichen völlig unvermeidliche Wendung zum minderwertigsten Opportunismus vollzog, beeilten sich die linken sozialdemokratischen Beamten3, nicht ausgenommen den verstorbenen Bauer, zu Halbstalinisten zu werden und wandten sich damit feindlich gegen die Vierte Internationale. Ein ähnlicher Zickzack wurde von den Herren Walcher, Fenner Brockway und ähnlichen „linken" Nachahmern von Otto Bauer gemacht. „Für uns", fährt Cerný fort, „gibt es für keinen Augenblick einen Zweifel daran, dass die Trotzkisten in Zukunft einen außerordentlich wertvollen Beitrag zum Prozess der Revolutionierung der internationalen proletarischen Bewegung und zur Wiedergeburt ihrer Weltorganisation leisten werden". Wenn also die programmatische Einheit des Autors und der „Avantgarde“-Gruppe mit den Bolschewiki-Leninisten in allen Grundfragen als fest verankert angesehen werden kann, dann scheint die organisatorische Seite der Sache weniger klar zu sein. In diesem Zusammenhang schreibt der Autor: „Wir glauben jedoch nicht, dass es richtig wäre, eine neue „trotzkistische“ Partei zu gründen. … Das revolutionäre Weltproletariat muss eine neue, also die Vierte Internationale schaffen, aber sie wird nicht außerhalb der großen proletarischen Organisationen geschaffen werden, sondern durch sie und auf ihrer Grundlage, und das ist unsere Auffassung, in der wir uns von den offiziellen Trotzkisten unterscheiden.“ Die große praktische Bedeutung dieser Aussage erfordert keinen Beweis. Aber deshalb wünschen wir uns mehr Klarheit, d. h. eine konkretere Stellung der Frage. Cerný und seine Gruppe sind, wie man dem Buch entnehmen kann, weiterhin Teil der tschechoslowakischen Sozialdemokratie. Wir waren nie prinzipielle Gegner der Bildung von Fraktionen der Vierten Internationale innerhalb der reformistischen und zentristischen Parteien; im Gegenteil, wir hielten eine solche Etappe für viele Länder für absolut unvermeidlich. Die in mehreren Ländern durchgeführten Erfahrungen haben zweifellos zu positiven Ergebnissen geführt, die unsere Sektionen jedoch noch nicht in Massenparteien verwandelt haben. Wie lange unsere Anhänger eine Fraktion der tschechoslowakischen Sozialdemokratie bleiben können und sollen, ist eine Frage von spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten, nicht von Prinzipien. Deshalb verstehen wir nicht die Motive, aus denen der Autor seine Gruppe in dieser Frage den „offiziellen Trotzkisten" entgegenstellt. Die Sache kann unserer Meinung nach nur um eine Arbeitsteilung, die zeitweilige Aufteilung von „Einflusssphären" gehen, keinesfalls aber um die Entgegenstellung zweier Organisationsmethoden. Aus der Geschichte der Dritten Internationale kennen wir den Fall, dass es der kommunistischen Fraktion gelang, die Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei zu erobern und sie offiziell in die Komintern aufzunehmen: das war in Frankreich der Fall. Theoretisch ist ein solcher Fall natürlich beim Aufbau der Vierten Internationale möglich. Will Cerný sagen, dass seine engsten Gesinnungsfreunde eine Chance haben, die tschechoslowakische Sozialdemokratie zu gewinnen? Von hier aus, aus der Ferne, erscheint mir diese Aussicht mehr als zweifelhaft. Auf jeden Fall kann auch nicht die Rede davon sein, diese Methode auf alle Länder zu übertragen, in der Hoffnung, die Vierte Internationale direkt „auf der Grundlage" der gegenwärtigen, sozialdemokratischen oder stalinistischen „großen proletarischen Organisationen" aufzubauen. Wenn aber Genosse Cerný sagen will, dass die revolutionären Marxisten, sowohl wenn sie unabhängige Sektionen der Vierten Internationale bilden als auch wenn sie vorübergehend als Fraktionen in den anderen beiden Internationalen arbeiten, verpflichtet sind, ihre Hauptanstrengungen auf die Massenorganisationen, vor allem die Gewerkschaften, zu konzentrieren, dann werden wir darin eine volle und bedingungslose Solidarität haben. Die „Unterstützer" der Vierten Internationale, die unter dem einen oder anderen Vorwand außerhalb der Massenarbeiterorganisationen verbleiben, sind nur in der Lage, das Banner der Vierten Internationale zu kompromittieren. Mit ihnen haben wir nicht den gleichen Weg. Das Ziel dieser Notiz4, wiederholen wir, besteht nicht darin, den reichen und wertvollen Inhalt des Buches des Genossen Cerný zu wiederholen oder kritisch zu beleuchten. Wir wollen nur auf diese Arbeit die Aufmerksamkeit aller unserer Sektionen und aller denkenden Marxisten lenken. Die Tschechoslowakei steht heute im Zentrum der Weltöffentlichkeit. Die zweite Hälfte des Buches Cernýs ist ganz den „Problemen der Arbeiterbewegung in der Tschechoslowakei" gewidmet. Diesen zweiten Teil sollten die theoretischen Organe unserer Sektionen meiner Meinung nach zumindest kurz für ihre Leser darlegen. Ich empfehlen das Buch des Genossen Cerný wärmstens allen Marxisten, allen klassenbewussten Arbeitern, die Deutsch sprechen. L. Trotzki. 17. September 1938 * Der Entscheidung Entgegen, Jaroslav Cerný. Druk Polensky & Coudek, Prag XII. 1In der französischen Übersetzung: „151“, dort der Titel „Die Entscheidung entgegen“ 2In der englischen und französischen Übersetzung: „Funktionäre“ 3In der englischen und französischen Übersetzung: „Funktionäre“ 4In der französischen Übersetzung: „Bemerkungen“ |
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