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Leo Trotzki 19380127 Das fünfte Rad - Neuübersetzung

Leo Trotzki: Das fünfte Rad

[eigene Übersetzung nach Архив Троцкого. Том 9, Charkow 2013, S. 26 f.]

Am 8.-17. Dezember tagte in Paris der Kongress der sogenannten Internationalen Arbeiterassoziation (AIT), der die anarchosyndikalistischen Gruppierungen verschiedener Länder vertrat. Die einzige ernstzunehmende Sektion dieser Internationale ist bekanntlich die spanische CNT. Alle anderen Organisationen (schwedische, portugiesische, französische, lateinamerikanische) sind zahlenmäßig ziemlich unbedeutend. Natürlich kann auch eine kleine Organisation von großer Bedeutung sein, vorausgesetzt, eine unabhängige revolutionäre Position nimmt die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes vorweg. Wie jedoch aus dem im Informationsbulletin der AIT (Nr. 67 der deutschen Ausgabe) veröffentlichten zusammenfassenden Bericht hervorgeht, endete der außerordentliche Kongress in Paris mit dem vollständigen Sieg der Politik von Garcia Oliver, d. h. der Kapitulationspolitik gegenüber der Bourgeoisie.

Im vergangenen Jahr gab es in einigen anarchistischen Publikationen, insbesondere in französischen, eine schüchterne Kritik an den Aktionen des spanischen CNT. Die Gründe für diese Kritik sind völlig hinlänglich: Anstatt den staatenlosen Kommunismus aufzubauen, wurden die Führer der CNT Minister eines bürgerlichen Staates! Dieser Umstand verhinderte jedoch nicht, dass der Pariser AIT-Kongress „die Linie des CNT billigte". Die Führer des spanischen Anarchosyndikalismus erklärten ihrerseits dem Kongress, dass, wenn sie die sozialistische Revolution im Interesse der Rettung der Bourgeoisie verrieten, dies allein wegen „der unzureichenden Solidarität des internationalen Proletariats" geschah. Der Kongress hat nichts Neues erfunden: Alle reformistischen Verräter haben immer das Proletariat für den Verrat verantwortlich gemacht. Wenn die Sozialpatrioten ihren „nationalen" Militarismus beibehalten, dann nicht, weil sie natürlich die Lakaien des Kapitals sind, sondern weil die Massen noch nicht „reif für wirklichen Internationalismus" sind. Wenn die Gewerkschaftsführer sich wie Streikbrecher verhalten, dann deshalb, weil die Massen für den Kampf „nicht reif" sind.

Über revolutionäre Kritik auf dem Pariser Kongress sagt der Bericht kein Wort. In dieser Hinsicht, wie in vielen anderen Fällen, ahmen die Herren Anarchisten völlig die bürgerlichen Liberalen nach. Warum sollte der Pöbel in die Meinungsverschiedenheiten in den höheren Sphären eingeweiht werden? Dies kann nur die Autorität anarcho-bürgerlicher Minister erschüttern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die französischen Anarchisten als Reaktion auf ihre „linke" Kritik an ihr eigenes Verhalten während des imperialistischen Krieges erinnert wurden. Wir haben bereits von einigen anarchistischen Theoretikern gehört, dass man während solcher „außergewöhnlicher Umstände" wie Krieg und Revolution die Prinzipien des eigenen Programms aufgeben müsse. Solche Revolutionäre sind solchen wasserdichten Regenmänteln sehr ähnlich, die Wasser nur bei Regen, das heißt, unter „außergewöhnlichen" Umständen durchlassen, aber bei trockenen Wetter ihre Aufgaben mit vollem Erfolg erfüllen.

Die Beschlüsse des Pariser Kongresses stehen ganz im Zeichen der Politik von Garcia Oliver und seinesgleichen. Die Leiter der AIT beschlossen, sich an die Zweite, Dritte und Amsterdamer Internationale mit einem Vorschlag zur Schaffung einer „internationalen antifaschistischen Einheitsfront" zu wenden. Vom Kampf gegen den Kapitalismus kein Wort! Zu Kampfmitteln werden erklärt: „Boykott faschistischer Güter" und ... „Druck auf demokratische Regierungen": die zuverlässigsten Wege zur Befreiung des Proletariats! Offensichtlich wurde der Führer des Zweiten Internationale Blum zum Zweck des „Drucks" zum Premier des „demokratischen" Frankreichs und tat sein Bestes, um die revolutionäre Bewegung des französischen Proletariats zu zerschlagen. Zusammen mit Stalin half Blum Negrin-Prieto, mit Unterstützung von Garcia Oliver die sozialistische Revolution des spanischen Proletariats zu erwürgen. Jouhaux nahm aktiv an all diesen Operationen teil. Die Einheitsfront der drei Internationalen für den Kampf gegen das revolutionäre Proletariat besteht daher seit langem. In dieser Front nehmen die Führer der CNT einen nicht sehr prominenten, aber ziemlich beschämenden Platz ein!

Der Pariser Kongress bedeutet die Übertragung des Verrats des spanischen Anarchismus auf den gesamten internationalen Anarchismus. Es hat insbesondere seinen Ausdruck darin gefunden, dass der AIT-Generalsekretär fortan von der spanischen CNT ernannt wird. Mit anderen Worten, der Generalsekretär wird künftig ein Beamter der spanischen bürgerlichen Regierung sein.

Ihr Herren anarchistischen und halbanarchistischen Theoretiker und Halbtheoretiker, was sagen Sie dazu? Stimmen Sie dem Beispiel der spanischen Anarchosyndikalisten zu, die Rolle des fünften Rades am Wagen der bürgerlichen Demokratie zu spielen? Viele der Anarchisten fühlen sich natürlich nicht sehr gut. Um diese Peinlichkeit zu überwinden, wechseln sie das Thema des Gesprächs. Warum sollte man sich mit Spanien oder dem Pariser Kongress befassen, wenn man ... über Kronstadt oder über Machno reden kann? Die brennendsten Themen!

Die anarchistische Internationale will in ihrem Verfall und Niedergang nicht hinter der Zweiten und Dritten Internationale zurückbleiben. Nun, um so eher werden die ehrlichen anarchistischen Arbeiter zu den Positionen der Vierten Internationale übergehen.

L. Trotzki

27. Januar 1938

Coyoacán

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