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Leo Trotzki 19380117 Brief an Wendelin Thomas

Leo Trotzki: Brief an Wendelin Thomas

17. Januar 1938

[Eigene Übersetzung nach Writings of Leon Trotsky, Supplement 1934-1940. New York 1979 751 f., dort unter dem Titel „Kronstadt and the Commission's Findings“]

Sehr geehrter Herr Wendelin Thomas

1. Ich sehe den Vorteil einer privaten Korrespondenz zu Kronstadt nicht. Es ist eine Frage der Fakten und der Standpunkte. Nur die öffentliche Meinung kann die Unterschiede beurteilen. In der zweiten Ausgabe von The New International ist die Veröffentlichung eines Artikels von J. G. Wright in Bezug auf den faktischen Aspekt der reaktionären Meuterei in Kronstadt geplant. In den nächsten Tagen werde ich einen Artikel über dieselbe Frage aus einem allgemeineren Blickwinkel veröffentlichen. Ich kann keinen anderen Weg einschlagen, ein historisches und theoretisches Problem aufzuklären als durch eine literarische Diskussion.

2. Die Untersuchungskommission hatte eine ganz konkrete Aufgabe: das Moskauer Urteil zu überprüfen. Die Aufgabe der Kommission wurde zu Beginn der Sitzungen von ihrem Vorsitzenden festgelegt. Als Zeuge habe ich an der Untersuchung dieser konkreten Frage teilgenommen. Die Kommission gab niemals vor, als Kommission ihren Standpunkt zu historischen, theoretischen oder politischen Fragen zu äußern. Ein solcher Anspruch würde nicht nur dem Ziel der Kommission widersprechen, sondern auch dem elementaren gesunden Menschenverstand. Jedes Mitglied der Kommission kann auf seine persönliche Verantwortung aus der Untersuchung alle philosophischen, historischen und politischen Schlussfolgerungen ziehen, die er wünscht. Aber die Kommission als Ganzes ist nicht kompetenter, ein Urteil über politische Fragen zu fällen als das Oberste Gericht der Staaten über Astronomie oder Ästhetik. Wenn ein Verbrechen aus einem Kampf zwischen zwei literarischen Schulen resultiert, muss das Gericht alle relevanten Tatsachen einschließlich der Eigenschaften der zwei kämpfenden Tendenzen kennen, aber sein Urteil kann nur das Verbrechen und nicht den Wert der literarischen oder ästhetischen Schulen betreffen.

3. Ich lasse jene Behauptungen und Ausdrücke, die ich in einer privaten Korrespondenz nicht zu tolerieren geneigt bin, unbeantwortet.

Sie haben das volle Recht, Lenin und mich in Ihren öffentlichen Artikeln nach Belieben zu charakterisieren. Ich werde Sie nicht deswegen in privaten Briefen angreifen.

Mit freundlichen Grüßen, Leo Trotzki

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