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Leo Trotzki 19380719 Folgerungen in der Sache des Todes meines Sohnes Leo Sedow

Leo Trotzki: Folgerungen in der Sache des Todes meines Sohnes

Leo Sedow

Eigene Übersetzung nach dem russischen Text im Bulletin der Opposition (Bolschewiki-Leninisten) Nr 68-69, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung]

Dem Herrn Ermittlungsrichter Pagenel,

am Gericht der ersten Instanz des Seine-Departements.

Gnädiger Herr, Herr Richter!

Von meinen Anwälten, den Maitres1 Rosenthal und Rous, erhielt ich heute Morgen die Materialien der Voruntersuchung und medizinischen Expertise über den Tod meines Sohnes, Leo Sedow. In einer so großen und tragischen Angelegenheit halte ich es für mein Recht, in aller Offenheit und ohne alle diplomatischen Konventionen zu sprechen. Die erhaltenen Dokumente verblüfften mich mit ihren Auslassungen. Die polizeiliche Untersuchung, wie auch die medizinische Expertise, suchen eindeutig nach der Linie des geringsten Widerstandes. Auf diesem Wege kann die Wahrheit nicht enthüllt werden.

Die Herren medizinischen Experten kommen zu dem Schluss, dass Sedows Tod durch natürliche Ursachen erklärt werden kann. Diese Schlussfolgerung ist in der betreffenden Lage fast ohne Inhalt. Jede Krankheit kann unter bestimmten Bedingungen zum Tode führen. Andererseits gibt es keine oder fast keine solche Krankheit, die gerade im betreffenden Moment zum Tode führen müsste. Bei der gerichtlichen Untersuchung geht es nicht um die theoretische Frage: Könnte die betreffende Krankheit selbst zum Tode führen? sondern um die praktische Frage: Hat jemand vorsätzlich bei der Krankheit nachgeholfen, um mit Sedow in kürzester Zeit Schluss zu machen?

Beim Bucharin-Rykow-Prozess in Moskau im März dieses Jahres wurde mit zynischer Offenheit aufgedeckt, dass eine der Methoden der GPU darin besteht, der Krankheit zu helfen, den Moment des Todes näher zu bringen. Der ehemalige Leiter der GPU, Menschinski, und der Schriftsteller Gorki waren keine jungen und waren kranke Menschen; ihr Tod konnte daher leicht durch „natürliche Ursachen" erklärt werden. Das war in der damaligen Zeit der offizielle Schluss der Ärzte. Doch aus dem Moskauer Gerichtsprozess erfuhr die Menschheit, dass Leuchten der Moskauer Medizin unter der Führung des ehemaligen Chefs der Geheimpolizei, Jagoda, den Tod von Patienten mit Methoden beschleunigten, die nicht zu beeinflussen oder schwer festzustellen sind. Aus der Sicht der uns interessierenden Frage ist es fast gleichgültig, ob in diesen besonderen Fällen die Aussagen der Angeklagten wahr oder falsch waren. Es genügt, dass geheime Methoden der Vergiftung, Infektion, Erkältungsförderung und generell der Beschleunigung des Todes offiziell in das Arsenal der GPU aufgenommen werden. Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den vom sowjetischen Justizkommissariats herausgegeben stenographischen Bericht über den Bucharin-Rykow-Prozess lenken.

Die Herren Experten sagen, der Tod „könnte" auch aus natürlichen Ursachen folgen. Natürlich könnte er das. Aber wie aus allen Umständen des Falles hervorgeht, erwartete keiner der Ärzte den Tod Sedows. Es ist klar, dass die GPU, die jeden Schritt Sedows überwachte, nicht darauf hoffen konnte, dass „natürliche Ursachen" ihre zerstörerische Arbeit ohne Hilfe von außen ausführen würden. Indessen eröffneten Sedows Krankheit und der chirurgische Eingriff außerordentlich günstige Bedingungen für das Eingreifen der GPU.

Meine Anwälte, Herr Richter, stellten die notwendigen Daten zu Ihrer Verfügung, die belegen, dass die GPU die Vernichtung Sedows als eine ihrer wichtigsten Aufgaben ansah. Es ist unwahrscheinlich, dass es bei der französischen Justiz daran Zweifel geben kann nach drei Moskauer Prozessen und insbesondere nach den Entdeckungen der Schweizer und der französischen Polizei im Zusammenhang mit der Ermordung Ignaz Reiss'. Im Verlauf einer langen Zeit und besonders in den letzten zwei Jahren, lebte Sedow in einer Atmosphäre der ständigen Blockade von Seiten der Bande der GPU, die auf dem Territorium von Paris über fast die gleiche Freiheit verfügt wie in Moskau. Die Attentäter bereiteten für Sedow eine Falle in Mulhouse vor, ganz analog der, der Reiss zum Opfer fiel. Nur der Zufall hatte Sedow jenes Mal gerettet. Die Namen der Verbrecher und ihre Rollen sind Ihnen bekannt, Herr Richter, und ich brauche nicht dabei zu verweilen.

Am 4. Februar 1937 veröffentlichte Sedow einen Artikel in der französischen Zeitschrift „Confessions“, in dem er mitteilte, dass er bei ausgezeichneter Gesundheit sei, dass die Verfolgung seinen Geist nicht breche, dass er nicht zu Verzweiflung oder Selbstmord neige und dass, wenn ihn plötzlich der Tod erfasse, die Täter im Lager Stalins gesucht werden müssten. Diese Nummer der „Confessions" schickte ich nach Paris zur Aushändigung an Sie, Herr Richter, und zitiere deshalb aus dem Gedächtnis. Die prophetische Warnung Sedows, die auf unverbrüchlichen und allen bekannten Fakten historischen Maßstabs beruhte, sollte meiner Meinung nach die Richtung und den Charakter der gerichtlichen Untersuchung bestimmen. Die Verschwörung der GPU, mit dem Ziel, Sedow zu erschießen, zu erwürgen, zu ertränken, zu vergiften oder zu infizieren, war ein konstanter und grundlegender Faktor in seinem Schicksal in den letzten zwei Jahren. Die Krankheit war nur eine Episode. Selbst in der Klinik war Sedow gezwungen, sich unter dem erfundenen Namen Martin anzumelden, um die Arbeit der ihm auf den Fersen folgenden Banditen, zumindest teilweise zu behindern. Unter diesen Bedingungen hat die Rechtspflege kein Recht, sich mit der abstrakten Formel zu beruhigen: „Sedow könnte an natürlichen Ursachen gestorben sein", bis das Gegenteil festgestellt ist, nämlich, dass die mächtige GPU eine günstige Gelegenheit verpasst hat, den „natürlichen Ursachen" nachzuhelfen.

Man kann argumentieren, dass die oben entwickelten allgemeinen Überlegungen, so stichhaltig sie für sich genommen auch sein mögen, die negativen Ergebnisse der medizinischen Expertise nicht ändern können. Ich behalte mir das Recht vor, auf diese Frage in einem speziellen Dokument zurückzukommen, nach einer Beratung mit kompetenten Ärzten. Dass keine Spuren von Gift gefunden wurden, bedeutet nicht, dass es keine gab, und bedeutet auf keinen Fall, dass die GPU keine anderen Maßnahmen ergriffen hat, um den operierten Organismus daran zu hindern, mit der Krankheit fertig zu werden. Wenn es die Angelegenheit eines gewöhnlichen Falles wäre, würde eine ärztliche Expertise, ohne die Frage an sich zu erschöpfen, dennoch volle Überzeugungskraft behalten. Aber vor uns liegt ein außergewöhnlicher Fall, der für die Ärzte selbst unerwartete Tod eines einsamen Vertriebenen nach einem langen Zweikampf zwischen ihm und einem mächtigen Staatsapparat mit unerschöpflichen materiellen, technischen und wissenschaftlichen Mitteln.

Die formale medizinische Expertise stellt sich als umso unzulänglicher dar, als sie den zentralen Punkt im Krankheitsverlauf hartnäckig ignoriert. Die ersten vier Tage nach der Operation waren Tage einer deutlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes des Operierten; der Zustand des Patienten galt als so gut, dass die Verwaltung der Klinik eine spezielle Krankenschwester abzog. Indessen wandert in der Nacht zum 14. Februar der Patient nackt im Delirium durch die Gänge und Räume des Krankenhauses, sich selbst überlassen. Ist diese monströse Tatsache einer Expertise wert?

Wenn natürliche Ursachen zum tragischen Ausgang führen gemusst hätten (gemusst, nicht gekonnt), womit und wie könnte man den Optimismus der Ärzte erklären, durch den der Patient im kritischsten Moment ohne Aufsicht gelassen wurde? Man kann natürlich versuchen, die ganze Sache auf einen Fehler in der Prognose und eine schlechte medizinische Überwachung zu reduzieren. In den Materialien der Untersuchung wird jedoch nicht einmal dies erwähnt. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum: Wenn es einen Mangel an Aufsicht gab, ist nicht die Schlussfolgerung, dass die Feinde, die Sedow im Auge behielten, diese günstige Situation für ihre kriminellen Zwecke nutzen konnten?

Die Mitarbeiter der Klinik, das stimmt, versuchten, diejenigen aufzulisten, die sich dem Patienten näherten. Aber welchen Wert hat dieses Zeugnis, wenn der Patient die dem Personal unbekannte Möglichkeit hatte, sein Bett und Zimmer zu verlassen und, ohne Einmischung von irgendeiner Seite, das Gebäude der Klinik in einem Zustand der Fieberwahns zu durchstreifen?

Herr Thalheimer, der Chirurg, der Sedow operierte, wurde jedenfalls von den Ereignissen der verhängnisvollem Nacht überrascht. Er fragte Sedows Frau, Jeanne Martin des Pallières: „Hat der Patient versucht, sich umzubringen?" Auf diese Frage, die nicht aus der allgemeinen Geschichte der Krankheit herausgestrichen werden kann, antwortete Sedow selbst im Voraus in dem oben zitierten Artikel, ein Jahr vor seinem Tod. Die Wendung zum Schlimmsten im Zustand des Patienten erwies sich als so scharf und plötzlich, dass der Chirurg, der weder die Persönlichkeit des Patienten noch die Bedingungen seines Lebens kannte, sich gezwungen sah, auf die Hypothese des Selbstmords zurückzugreifen. Dieses Faktum, wiederhole ich, kann nicht aus dem allgemeinen Bild der Krankheit und des Todes meines Sohnes herausgestrichen werden! Man kann, wenn man will, vielleicht sagen, dass der Verdacht der mit Sedow verwandten und befreundeten Menschen durch ihr Misstrauen verursacht wurde. Aber wir haben einen Arzt vor uns, für den Sedow ein gewöhnlicher Patient war, ein unbekannter Ingenieur mit dem Familiennamen Martin. Der Chirurg konnte daher weder von Misstrauen noch von politischer Leidenschaft angesteckt sein. Er ließ sich nur von den Hinweisen leiten, die aus dem Organismus des Patienten kamen. Und die erste Reaktion dieses hervorragenden und erfahrenen Arztes auf die unerwartete, also nicht durch „natürliche Ursachen" verursachte, Wendung im Krankheitsverlauf war der Verdacht auf einen Selbstmordversuch des Patienten. Ist es nicht klar, ist es nicht völlig offensichtlich, dass der Chirurg, wenn er in diesem Moment gewusst hätte, wer sein Patient war und was seine Lebensbedingungen waren, sofort gefragt hätte: „Gab es hier die Einmischung eines Mörders?"

Eben diese Frage stellt sich auch der gerichtlichen Ermittlung in ihrer gesamten Kraft. Die Frage wurde formuliert, Herr Richter, nicht von mir, sondern vom Chirurgen Thalheimer, wenn auch unfreiwillig. Und auf diese Frage finde ich keine Antwort in den Unterlagen der Voruntersuchung, die ich erhalten habe. Ich finde nicht einmal einen Versuch, eine Antwort zu finden. Ich finde kein Interesse an der Frage selbst.

Wahrhaft verblüffend erscheint das Faktum, dass das Geheimnis der kritischen Nacht bis heute nicht nur nicht aufgedeckt, sondern nicht einmal berührt wurde. Das Zeitversäumnis, das die Arbeit der nachfolgenden Untersuchung stark behindert, kann nicht durch Zufall erklärt werden. Die Klinikverwaltung war natürlich bestrebt, eine Untersuchung in diesem Punkt zu vermeiden, denn sie konnte nicht anders als grobe Fahrlässigkeit aufdecken, durch die der schwer kranke Patient ohne Aufsicht zurückgelassen wurde und für sich verhängnisvolle Handlungen vornehmen oder solchen Handlungen unterworfen werden konnte. Die ärztlichen Experten bestanden ihrerseits nicht darauf, die Umstände der tragischen Nacht zu klären. Die polizeilichen Ermittlungen beschränkten sich auf oberflächliche Zeugenaussagen von zumindest der Fahrlässigkeit Schuldigen, die daher an deren Verheimlichung interessiert waren. Unterdessen könnte sich hinter der Nachlässigkeit der einen leicht der kriminelle Wille anderer verstecken.

Französische Gerichtsverfahren kennen die Formel der Untersuchung „gegen X". Nach dieser Formel wird nun die Untersuchung des Todes Sedows durchgeführt. Aber X ist hier keineswegs „unbekannt", im wahrsten Sinne des Wortes. Die Sache handelt sich nicht um einen zufälligen Räuber, der einen Durchreisenden auf einer großen Straße tötete und nach dem Mord verschwand. Die Sache handelt sich um eine ganz bestimmte internationale Bande, die nicht das erste Verbrechen auf dem Territorium Frankreichs begeht und freundschaftliche diplomatische Beziehungen nutzt und sich hinter ihnen versteckt. Das ist der echte Grund, warum die Untersuchung des Diebstahls meines Archivs, der Verfolgung Sedows, des Versuchs, mit ihm in Mulhouse Schluss zu machen, schließlich die laufende Untersuchung des Todes Sedows, die fünf Monate gedauert hat, zu keinem Ergebnis geführt hat und führt. In dem Versuch, von den völlig realen und mächtigen politischen Faktoren und Kräften hinter dem Verbrechen abzulenken, geht die Untersuchung von einer Fiktion aus, als handele sich die Sache um einfache Episoden des Privatlebens, gibt einem Verbrecher den Namen X – und findet ihn nicht.

Die Verbrecher werden entlarvt werden, Herr Richter! Der Umfang der Verbrechen ist zu groß, sie betreffen zu viele Menschen und Interessen, oft widersprüchliche, die Enthüllungen haben bereits begonnen, und es wird in der nächsten Periode aufgedeckt werden, dass die Fäden von einer Reihe von Verbrechen zur GPU und, über die GPU, persönlich zu Stalin führen. Ich kann nicht wissen, ob an diesen Enthüllungen die französische Justiz aktiv Anteil nehmen wird. Ich würde es sehr wünschen und ich bin bereit, ihr mit aller Kraft zu helfen. Aber so oder so, die Wahrheit wird enthüllt werden!

Aus obigem folgt mit absoluter Sicherheit, dass die Untersuchung in der Sache des Todes Sedows kaum begonnen hat. In Übereinstimmung mit allen Umständen des Falles und mit den Worten Sedows selbst vom 4. Februar 1937, kann die Untersuchung nicht anders als von der Annahme ausgehen, dass der Tod gewaltsamen Charakter hatte. Die Organisatoren des Verbrechens waren Agenten der GPU, fiktive Beamte sowjetischer Institutionen in Paris. Die Vollstrecker waren Agenten dieser Agenten unter den weißen Emigranten, französischen oder ausländischen Stalinisten, etc. Die GPU musste einfach Agenten in der russischen Klinik in Paris oder in ihrem unmittelbaren Umfeld haben. Das sind die Wege, auf die sich die Untersuchung begeben sollte, wenn sie, wie zu hoffen ist, das Verbrechen aufdecken will, und nicht die Linie des geringsten Widerstands will.

Akzeptieren Sie, Herr Richter, die Zusicherung etc.2

Leo Trotzki.

Coyoacan, 19. Juli 1938

1 Fehlt in der französischen Übersetzung

2 In der französischen Übersetzung „Akzeptieren Sie, Herr Richter, die Zusicherung meiner größten Hochachtung“, in der englischen Übersetzung: „Ich bleibe, Herr Richter, mit freundlichen Grüßen Ihr“

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