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Leo Trotzki 19380703 Aus den Sowjets muss man die Bürokratie und die neue Sowjetaristokratie verjagen

Leo Trotzki: Aus den Sowjets muss man die Bürokratie und die

neue Sowjetaristokratie verjagen

(Zum Entwurf des Übergangsprogramms der Vierten Internationale)

[eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Бюллетень Оппозиции
(большевиков-ленинцев) Nr. 68, August-September 1938, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung]

Was die Losung in der Überschrift dieses Artikels betrifft, so habe ich kritische Anmerkungen erhalten, die von allgemeinem Interesse sind und daher eine Antwort nicht in einem privaten Brief, sondern in einem Artikel verdienen.

Geben wir zunächst die Haupteinwände.

Die Forderung, die Bürokratie und die neue Aristokratie aus den Sowjets zu vertreiben, ignoriert, so mein Korrespondent, die akuten sozialen Konflikte innerhalb der Bürokratie und Aristokratie; namhafte Teile der Bürokratie und die Aristokratie selbst werden infolge dieser Konflikte in das Lager des Proletariats übergeben, wie in einem anderen Teil derselben Thesen (des Programmentwurf) gesagt wird.

Die Forderung (die Bürokratie zu verjagen…) schaffe eine unrichtige („falsch bestimmte") Grundlage für den Entzug der Rechte von zig Millionen, einschließlich qualifizierter Arbeiter.

Die Forderung stehe im Widerspruch zu dem Teil der These, der besagt, dass eine „Demokratisierung der Sowjets […] undenkbar ohne Legalisierung sowjetischer Parteien [ist]. Die Arbeiter und Bauern selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind."

Auf jeden Fall", so der Verfasser des Briefes weiter, „kann man keine vernünftige politische Grundlage für einen A-priori-Entzug von Rechten einer ganzer gesellschaftlicher Gruppen der heutigen russischen Gesellschaft erkennen. Der Entzug von Rechten sollte auf gewalttätigen politischen Handlungen von Gruppen oder Einzelpersonen gegen die neue Sowjetmacht beruhen."

Schließlich weist der Verfasser des Schreibens auch darauf hin, dass die Losung „Entzug von Rechten" zum ersten Mal vorgebracht werde, dass es zu diesem Thema keine Diskussion gegeben habe und dass es besser sei, das Thema auf eine gründliche Diskussion nach der bevorstehenden internationalen Konferenz zu verschieben.

Das sind die Argumente und Überlegungen meines Korrespondenten. Leider kann ich ihnen nicht zustimmen. Sie drücken eine formale, juristische, rein konstitutionelle Position zu diesem Thema aus, an die man aus einem revolutionär-politischen Blickwinkel herangehen muss. Die Sache geht überhaupt nicht darum, wem die neuen Räte, wenn sie schließlich eingerichtet sind, die Macht vorenthalten werden: die Ausarbeitung einer neuen Sowjetverfassung können wir jetzt ruhig der Zukunft überlassen. Die Sache geht darum, wie man die Sowjetbürokratie los wird, die die Arbeiter und Bauern unterdrückt und plündert, zum Tod der Oktober-Eroberungen führt und das Haupthindernis auf den Wegen der internationalen Revolution ist. Wir sind längst zu dem Schluss gekommen, dass dieses Ziel nur durch den gewaltsamen Sturz der Bürokratie, also auf dem Weg einer neuen politischen Revolution erreicht werden kann.

Natürlich gibt es in den Reihen der Bürokratie ehrliche und revolutionäre Elemente vom Typ Reiss. Aber sie sind nicht zahlreich, und auf jeden Fall bestimmen sie nicht die politische Physiognomie der Bürokratie als zentralisierte Kaste der Thermidorianer, gekrönt von der bonapartistischen Clique Stalins. Man kann nicht zweifeln, dass, je entschlossener die Unzufriedenheit der Werktätigen wird, desto tiefer die politische Differenzierung innerhalb der Bürokratie wird. Aber um dies zu erreichen, muss man den Hass der Massen auf die Bürokratie als herrschende Kaste theoretisch begreifen, politisch mobilisieren und organisieren. Die wirklichen Sowjets der Arbeiter und Bauern können nur im Prozess eines Aufstandes gegen die Bürokratie entstehen. Solche Sowjets werden sich unversöhnlich dem militärisch-polizeilichen Apparat der Bürokratie entgegenstellen. Wie kann man dann Vertreter des Lagers, gegen das sich der Aufstand entfaltet, zu den Sowjets zulassen?

Mein Korrespondent hält, wie wir gehört haben, das Kriterium der Bürokratie und Aristokratie für falsch, „falsch bestimmt", weil es zur A-priori-Vertreibung von zig Millionen führe. Hier liegt der zentrale Fehler des Autors des Briefes. Es geht nicht um eine konstitutionelle „Definition", die auf der Grundlage unbeweglicher juristischer Merkmale angewendet wird, sondern um die reale Selbstdefinition der kämpfenden Lager. Sowjets können nur im Prozess des entschlossenen Kampfes entstehen. Sie werden von jenen Schichten von Arbeitern geschaffen, die an der Bewegung beteiligt sein werden. Die Bedeutung von Sowjets besteht gerade darin, dass ihre Zusammensetzung nicht durch formale Kriterien, sondern durch die Dynamik des Klassenkampfes bestimmt wird. Namhafte Schichten der Sowjet„aristokratie" werden zwischen dem Lager der revolutionären Arbeiter und dem Lager der Bürokratie schwanken. Ob diese Sektionen in die Sowjets eintreten und wann genau, hängt vom allgemeinen Verlauf des Kampfes ab, von der Stellung, die verschiedene Gruppen der Sowjetaristokratie in diesem Kampf einnehmen. Jene Elemente der Bürokratie und der Aristokratie, die sich im Prozess der Revolution auf die Seite der Aufständischen stellen werden, werden natürlich einen Platz in den Sowjets finden. Aber nicht als Bürokraten und „Aristokraten", sondern als Teilnehmer an einem Aufstand gegen die Bürokratie.

Der Forderung nach Vertreibung der Bürokratie steht in keinem Fall die Forderung nach Legalisierung der Sowjetparteien entgegen. Jetzt sind die Sowjets dekorative Anhängsel der Bürokratie. Nur die Vertreibung der Bürokratie, die ohne einen revolutionären Aufstand undenkbar ist, kann den Kampf verschiedener Tendenzen und Parteien in den Sowjets wiederbeleben. „Die Arbeiter und Bauern selbst werden durch ihre freie Stimmabgabe zeigen, welche Parteien sowjetisch sind", heißt es in den Thesen. Aber dazu ist es zunächst notwendig, die Bürokratie aus den Sowjets zu vertreiben.

Es ist auch nicht wahr, dass diese Losung etwas Neues in den Reihen der Vierten Internationale darstellt. Neu ist vielleicht die Formulierung, aber nicht das Wesen. Wir standen lange auf dem Standpunkt der Reform des Sowjetregimes. Wir hofften, dass die Linke Opposition, indem sie den Druck der fortgeschrittenen Arbeiter organisiert, mit Hilfe der fortschrittlichen Elemente der Bürokratie selbst in der Lage sein werde, das Sowjetsystem zu reformieren. Diese Etappe zu überspringen war unmöglich. Aber der weitere Verlauf der Ereignisse hat auf jeden Fall die Aussicht auf eine friedliche Umgestaltung der Partei und der Sowjets widerlegt. Von der Position der Reform sind wir zur Position der Revolution übergegangen, d.h. zum gewaltsamen Sturz der Bürokratie. Aber wie kann man die Bürokratie stürzen und ihr gleichzeitig einen legalen Platz in den Organen dieses Umsturzes geben? Wenn wir die revolutionäre Aufgabe, vor der die sowjetischen Arbeiter und Bauern stehen, vollständig durchdenken, muss die Losung im Titel dieses Artikels als richtig, selbstverständlich und dringend anerkannt werden. Deshalb sollte die internationale Konferenz meiner Meinung nach diesen Slogan sanktionieren.

C[rux]

3. Juli 1938

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