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Leo Trotzki 19370706 Die Fragen von Wendelin Thomas

Leo Trotzki: Die Fragen von Wendelin Thomas

[Nach W. I. Lenin, L. Trotzki, V. Serge, Kronstadt, Frankfurt/Main 1981, S. 74-76. Dort übersetzt aus „Socialist Appeal" vom 21. August 1937 und „Writings of Leon Trotsky (1936 – 37). Hier auch verglichen mit dem russischen Text]

Geschätzter Genosse!

Ich glaube nicht, dass die Fragen, die Sie mir gestellt haben, eine direkte Beziehung zu den Untersuchungen der New Yorker Kommission haben oder Einfluss auf deren Schlussfolgerungen haben könnten. Nichtsdestoweniger bin ich vollkommen bereit, Ihre Fragen zu beantworten, um alle, die sich dafür interessieren, mit meinen wirklichen Ansichten vertraut zu machen.

Wie viele andere sehen Sie die Wurzel allen Übels im Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel". Dieses Prinzip ist in sich selbst sehr abstrakt und rationalistisch. Es lässt die allerverschiedensten Deutungen zu. Aber ich bin bereit, die Verteidigung dieses Prinzips auf mich zu nehmen – vom materialistischen und dialektischen Standpunkt. Ja, ich schätze dass es keine Mittel gibt, die an sich oder in Verbindung mit einem absoluten, über der Geschichte stehendem Prinzip gut oder schlecht sind. Diejenigen Mittel, die dazu beitragen, die Macht des Menschen über die Natur zu vergrößern und die Macht von Menschen über Menschen abzuschaffen, sind gut. In diesem breiten historischen Sinn können die Mittel nur durch den Zweck gerechtfertigt werden.

Bedeutet das jedoch nicht, dass Falschheit, Verrat und Betrug zulässig und gerechtfertigt sind, falls sie zum „Zweck" führen? Alles hängt von der Natur des Ziels ab. Falls das Ziel die Befreiung der Menschheit ist, dann können Falschheit, Verrat und Betrug nicht die geeigneten Mittel sein. Die Epikuräer wurden von ihren Gegnern angeklagt, zu den Idealen eines Schweins hinab zu sinken, als sie „Glücklichsein" verteidigten. Worauf die Epikuräer nicht ohne Berechtigung antworteten, dass ihre Gegner Glücklichsein auf eine … schweinische Art verstanden.

Sie beziehen sich auf Lenins Worte, dass eine revolutionäre Partei das „Recht" hat, ihre Gegner in den Augen der Massen verhasst und verächtlich zu machen. In diesen Worten sehen Sie eine prinzipielle Verteidigung des Unmoralischen. Allerdings vergessen Sie herauszustreichen wo, in welchem politischen Lager die Vertreter erhabener Moral sich befinden. Meine Beobachtungen zeigen mir, dass im politischen Kampf im Allgemeinen weitverbreitete Übertreibung, Verzerrung, Falschheit und Verleumdung benutzt werden. Die Revolutionäre sind immer die am meisten Verleumdeten: in ihrer Zeit Marx und Engels und ihre Freunde; später die Bolschewiki, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg; zur heutigen Zeit die Trotzkisten. Der Hass der Besitzenden gegenüber der Revolution; der bornierte Konservativismus des Kleinbürgertums; die Eitelkeit und Überheblichkeit der Intellektuellen; die materiellen Interessen der Arbeiter-Bürokraten – alle diese Faktoren fließen zusammen in der Jagd nach dem revolutionären Marxisten. Zur selben Zeit vergessen die Herren Verleumder nicht, über die Unmoral der Marxisten entrüstet zu sein. Diese heuchlerische Entrüstung ist nichts als eine Waffe des Klassenkampfs.

In den von Ihnen zitierten Worten wollte Lenin lediglich sagen, dass er die Menschewiki nicht länger als proletarische Kämpfer betrachtet, und er macht es sich zur Aufgabe, sie in den Augen der Arbeiter hassenswert zu machen. Lenin drückte seinen Gedanken mit charakteristischer Leidenschaft aus und machte zweideutige und unwürdige Interpretationen möglich. Aber auf der Basis von Lenins Gesamtwerk und seiner Lebensarbeit erkläre ich, dass dieser unversöhnliche Kämpfer ein sehr loyaler Gegner war, denn trotz aller Übertreibungen und Extreme strebte er immer danach, den Massen zu sagen, was ist. Der Kampf der Reformisten gegen Lenin auf der anderen Seite war durch und durch mit Heuchelei, Falschheit, Betrügerei und Verleumdungen durchzogen, unter dem Vorwand universeller Wahrheiten.

Ihre Einschätzung des Kronstädter Aufstands von 1921 ist grundsätzlich falsch. Die besten, aufopferungsvollsten Matrosen waren vollständig von Kronstadt abgezogen worden und spielten eine wichtige Rolle an den Fronten und in den lokalen Sowjets. Übrig blieb die graue Masse mit großen Ansprüchen („Wir sind von Kronstadt"), aber ohne politische Erziehung und unvorbereitet für revolutionäre Opfer. Das Land war am Verhungern. Die Kronstädter forderten Privilegien. Der Aufstand wurde getragen vom Wunsch, bevorzugt Nahrungsmittelrationen zu bekommen. Die Matrosen hatten Kanonen und Schlachtschiffe. Alle reaktionären Elemente, sowohl in Russland und im Ausland, stürzten sich sofort auf diesen Aufstand. Die Weißen Emigranten forderten Hilfe für die Aufständischen. Der Sieg dieses Aufstandes konnte nicht anderes mit sich bringen, als den Sieg der Konterrevolution, vollkommen unabhängig von den Ideen, die die Matrosen in ihren Köpfen hatten. Aber sogar die Ideen selbst waren zutiefst reaktionär. Sie spiegelten die Feindseligkeit der rückständigen Bauernschaft dem Arbeiter gegenüber wider, die Wichtigtuerei des Soldaten oder Matrosen gegenüber dem „zivilen" Petersburg, den Hass des Kleinbürgertums gegenüber revolutionärer Disziplin. Die Bewegung hatte deshalb konterrevolutionären Charakter und konnte von dem Zeitpunkt, als die Aufständischen Besitz von den Waffen in den Forts ergriffen, nur noch mit Hilfe von Waffen niedergeschlagen werden.

Nicht weniger irrtümlich ist Ihre Einschätzung von Machno. Er war in sich selbst eine Mischung von Fanatiker und Abenteurer. Er wurde zur Konzentration derselben Tendenzen, die den Aufstand von Kronstadt herbeiführten. Die Kavallerie ist im allgemeinen der reaktionärste Teil der Armee. Der Reiter verachtet das Fußvolk. Machno schuf eine Armee von Bauern, die sich ihre eigenen Pferde besorgten. Dies waren nicht die heruntergekommenen Dorfarmen, die die Oktoberrevolution zuerst aufweckte, sondern die starken und gut genährten Bauern, die sich davor fürchteten, ihren Besitz zu verlieren. Die anarchistischen Ideen von Machno (das Ignorieren des Staates, Nichtanerkennung der Zentralgewalt) entsprach so sehr dem Geist dieser Kulaken-Kavallerie wie nichts anderes es vermochte. Ich sollte noch hinzufügen, dass der Hass gegenüber der Stadt und dem städtischen Arbeiter von Seiten der Gefolgschaft Machnos durch einen militanten Antisemitismus ergänzt wurde. Zur selben Zeit als wir einen Kampf auf Leben und Tod gegen Denikin und Wrangel ausfochten, versuchten die Anhänger von Machno eine unabhängige Politik auszuführen. Sich gegen die Zügel sträubend, dachte der Kleinbürger (Kulak), er könne seine widersprüchlichen Ansichten auf der einen Seite den Kapitalisten und auf der anderen Seite den Arbeitern aufzwingen. Dieser Kulak war bewaffnet; wir mussten ihn entwaffnen. Das ist genau was wir taten.

Ihr Versuch, zu schlussfolgern, dass Stalins Verleumdungen von der „Unmoral" der Bolschewiki herrühren, ist grundsätzlich falsch. In der Periode, als die Revolution für die Befreiung der unterdrückten Massen kämpfte, nannte sie alles beim richtigen Namen und bedurfte keiner Verleumdungen. Das System der Fälschungen beruht auf der Tatsache, dass die stalinistische Bürokratie für die Vorrechte der Minderheit kämpft und gezwungen ist, ihre wirklichen Ziele zu verbergen und zu maskieren. Anstatt eine Erklärung in den materiellen Bedingungen der geschichtlichen Entwicklung zu suchen, schaffst Du die Theorie von der „Erbsünde", die zur Kirche passt, aber nicht zur Sozialistischen Republik.

Mit freundlichen Grüßen,

L. Trotzki

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