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Leo Trotzki 19330828 Wohin geht die unabhängige Arbeiterpartei Englands

Leo Trotzki: Wohin geht die unabhängige Arbeiterpartei Englands?

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der Internationalen Linken Opposition, Jahrgang 1, Nr. 12 (Ende September 1933), S. 3 f.]

Aus den letzten politischen Beschlüssen des Nationalrats der Britischen Unabhängigen Arbeiterpartei geht ganz deutlich hervor, dass die Partei nach ihrem Bruch mit den Reformisten fortfährt, sich nach links zu bewegen. Verwandte Prozesse sind in vielen Ländern zu beobachten: innerhalb der sozialdemokratischen Parteien formiert sich ein linker Flügel, der sich im weiteren Stadium von der Partei abspaltet und versucht, sieh aus eigener Kraft einen revolutionären Weg zu bahnen. In diesen Prozessen widerspiegelt sich einerseits die tiefe Krise des Kapitalismus und des mit ihm untrennbar verbundenen Reformismus, und andererseits die Unfähigkeit der Komintern, die revolutionären Strömungen des Proletariats um sich zu scharen.

In England kompliziert sich jedoch die Lage durch eine bislang nicht dagewesene Kombination. In der Zeil, wo die Komintern in den anderen Ländern weiterhin die linkssozialistischen Organisationen als „linke Sozialfaschisten“ und „gefährlichste Konterrevolutionäre“ behandelt, wurde zwischen der Unabhängigen Arbeiterpartei und der Kompartei Britanniens eine ständige Zusammenarbeit hergestellt. Auf welche Weise die Führer der Komintern diese Zusammenarbeit mit der Theorie des „linken Sozialfaschismus“ vereinbaren, bleibt ein Rätsel. In der Julinummer des theoretischen Organs der Komintern wird Fenner Brockway, der neu ernannte Sekretär der ILP, nach wie vor als „Konterrevolutionär“ bezeichnet. Warum die britische Kompartei diesmal die Einheitsfront nicht nur von unten, sondern auch an der Spitze schloss, wo diese spitzen doch „Konterrevolutionäre" sind, und die Einheitsfront nicht für eine einzelne praktische Aktion geschlossen wurde, sondern für gemeinsame Arbeit überhaupt diese Widersprüche zu entwirren, ist keinem Sterblichen gegeben. Aber lässt man die Prinzipien beiseite, so erklärt sieh die Sache recht einfach: unter den außerordentlich günstigen Bedingungen Großbritanniens brachte es die Komintern mit Hilfe der verderblichen Politik des Anglorussischen Komitees, der „Dritten Periode", des „Sozialfaschismus“ usw. fertig, ihre britische Sektion restlos zu isolieren und zu entkräften; andererseits stieß die tiefe soziale Krise des britischen Kapitalismus die ILP scharf nach links: sich weder um Folgerichtigkeit noch Logik kümmernd, klammerte sich die ganz und gar entmutigte Komintern mit beiden Händen an das ihr angebotene Bündnis.

Man könnte und müsste die Zusammenarbeit von ILP und Kompartei begrüßen und warm unterstützen, wenn sie nicht gegründet wäre auf Verschweigen, Unausgesprochenheiten und Zweideutigkeiten auf beiden Seiten.

Über die Kompartei äußert sich der Nationalrat so: „sie ist ihren Ansichten nach revolutionär wie wir auch". Das ist alles, was wir an Einschätzung der Kompartei und ihrer Politik erfahren. Jeder ernste und nachdenkende Arbeiter fragt unvermeidlich: wozu denn zwei Parteien, wenn sie beide gleich revolutionäre Anschauungen haben? Dieser Arbeiter wird sich noch mehr wundern, wenn er erfährt, dass die Führer der einen dieser gleich revolutionären Parteien die Führer der anderen Partei als „Konterrevolutionäre" und „linke Sozialfaschisten" betrachten. Vielleicht enthält sich der Nationalrat der ILP eines kritischen Urteils über seinen Verbündeten, um nicht das Bündnis selbst bersten zu lassen. Doch ein Bündnis von revolutionären Organisationen, das nicht auf offener gegenseitiger Kritik, sondern auf Diplomatie fußt, wird beim ersten Stoß des politischen Sturmes umfallen wie ein Kartenhaus,

Die Thesen des Nationalrats erklären den Block mit der Kompartei erstens für einen Schritt auf dem Wege der Einheitsfront, zweitens für eine Etappe auf dem Weg der Schaffung einer großen revolutionären Partei. Jedes dieser beiden Argumente hat seine Schwere; aber mechanisch gegeneinander gereiht, widersprechen sie sich. Die Thesen wiederholen, dass die Einheitsfront alle und jede Organisation des Proletariats erfassen muss, wenn sie nur am Kampf teilnehmen will: Labour Party, Trade Unions, selbst die „„Kooperativpartei“. Aber wir wissen gut, und zwar nicht aus der Literatur, sondern aus der tragischen Erfahrung der deutschen Katastrophe, dass die Komintern die Einheitsfront mit den reformistischen („sozialfaschistischen") Organisation ablehnt. Wie gedankt denn die ILP im Bunde mit der Kompartei die Einheitsfront mit den reformistischen Organisationen aufzubauen: nur von unten und unter der im Voraus garantierten Führung der kommunistischen Bürokratie? Diese Frage bleibt unbeantwortet.

Beiläufig erwähnend, dass der Block mit der Kompartei schon mehrere Teile der „offiziellen Bewegung" nach rechts abstieß, bringt das Nationalkomitee die Hoffnung zum Ausdruck, dass derartige Vorurteile durch die aktive Teilnahme am alltäglichen Kampf überwunden werden muss. Der Umstand, dass die reaktionären Vorurteile der Führer der Labour Party oder des Generalrats der Trade Unions die ILP-Führer nicht abschrecken, macht diesen Ehre. Leider handelt es sich jedoch nicht nur um Vorurteile: Wenn die kommunistische Bürokratie Reformismus und Faschismus zu Zwillingen stempelt, so übt sie nicht nur eine falsche Kritik an den reformistischen Führern, sondern versetzt sie auch die reformistischen Arbeiter in gerechte Empörung. In den Thesen heißt es zwar, dass die Kritik am Reformismus den wirklichen Verhältnissen entsprechen und die reformistischen Arbeiter vorwärts stoßen muss, und nicht sie zurückwerfen darf; doch die Kompartei wird in diesem Zusammenhang mit keinem Wort erwähnt. Wie aber steht es denn mit der Theorie vom Sozialfaschismus? Und wie soll man auf dieser Theorie die Einheitsfrontpolitik aufbauen? Solche Fragen in den Resolutionen verschweigen heißt nicht, sie aus der Welt zu räumen. Eine offene Diskussion könnte vielleicht die Kompartei bewegen, die richtige Stellung einzunehmen, doch diplomatisches Ausweichen häuft nur die Widersprüche und bereitet eine neue Katastrophe bei der nächsten Massenbewegung vor.

Während sie ihr prinzipielles Verhältnis zum offiziellen Kommunismus (Stalinismus) nicht festlegen, bleiben die Thesen des Nationalrats auch in ihrem Verhältnis zum Reformismus auf halbem Wege stehen. Die Reformisten muss man kritisieren als konservative Demokraten, und nicht als Faschisten, doch muss man sie darum durchaus nicht weniger unversöhnlich bekämpfen; denn die britischen Reformisten sind heute die Hauptbremse auf dem Wege der Befreiung nicht nur des britischen, sondern auch des europäischen Proletariats. Die Politik der Einheitsfront mit den Reformisten ist Pflicht, doch sind ihre Grenzen notwendigerweise beschränkt auf Teilaufgaben, besonders aber auf Verteidigungskämpfe. Es kann nicht die Rede sein davon, dass die sozialistische Revolution auf dem Wege über die Einheitsfront mit den reformistischen Organisationen durchgeführt werde. Die Hauptaufgabe der revolutionären Partei besteht darin, die Arbeiterklasse von dem Einfluss der Reformisten zu befreien. Der Fehler der Kominternbürokratie besteht nicht darin, dass sie die wichtigste Vorbedingung für den Sieg des Proletariats in der Führung der revolutionären Partei erblickt – das ist unbedingt richtig, – sondern darin, dass sie – unfähig, als Minderheit mit bescheidenen Rollen beginnend, das Vertrauen der Arbeitermassen im alltäglichen Kampf zu gewinnen – das Vertrauen vorweg fordert, dem Proletariat Ultimaten stellt und Einheitsfrontversuche mit der Begründung sprengt, dass die anderen Organisationen nicht einverstanden seien, freiwillig den Marschallstab ihr auszuhändigen. Das ist nicht marxistische Politik, sondern bürokratische Sabotage. Der sichere und feste Sieg der proletarischen Revolution – wiederholen wir es noch einmal – ist möglich nur unter der Voraussetzung, dass es der revolutionären, d.h. wirklich kommunistischen Partei gelingt, bis zum Umsturz das feste Vertrauen der Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern. Diese zentrale Frage ist in den Thesen fast gar nicht beleuchtet. Warum? Aus „Takt" gegenüber dem Verbündeten? Nicht nur. Es gibt tiefere Gründe. Die nicht genügende Deutlichkeit der Thesen in Bezug auf die Einheitsfront entspringt einer unvollkommenen Vorstellung von den Methoden der proletarischen Revolution. Die Thesen sprechen von der Notwendigkeit, „die Kontrolle über Wirtschaftssystem und Staat der kapitalistischen Klasse zu entreißen und der Arbeiterklasse zu übergeben". Wie kann man diese grandiose Aufgabe lösen? Auf diese Zentralfrage unserer Epoche antworten die Thesen mit dem nackten Satz: „dies kann erreicht werden nur durch die Einheitsaktion der Arbeiterklasse". Der Kampf um die Macht und die Diktatur des Proletariats bleiben Abstraktionen, die sich mühelos in den formlosen Einheitsfrontperspektiven auflösen …

Was fertige revolutionäre Formeln betrifft, so ist die britische Kompartei damit unvergleichlich besser ausgestattet. Darin besteht heule ihre Überlegenheit über die Führung der ILP. Und man muss offen sagen: diese oberflächliche, rein formale Überlegenheit kann in den gegebenen Verhältnissen zur Liquidierung der ILP führen ohne jeglichen Nutzen für die Kompartei und die Revolution. Die objektiven Bedingungen haben schon des öfteren auf die Seite der britischen zehn-, ja hunderttausende von Arbeitern gestoßen, doch die Führung der Komintern zeigte sich nur fähig, sie zu enttäuschen und zurückzustoßen. Träte heute auch die gesamte Unabhängige Arbeiterpartei als Ganzes in die Kompartei ein, schon im Laufe der nächsten Monate würde ein Drittel der neuen Mitglieder In die Labour Party zurückkehren, ein weiteres Drittel würde wegen „Versöhnlertum gegenüber dem Trotzkismus" und anderen derartigen Verbrechen ausgeschlossen werden, das letzte Drittel endlich, in allen seinen Erwartungen "getäuscht, verfiele in völlige Indifferenz. Am Schluss des Experimentes wäre die Kompartei noch schwächer und isolierter als heute.

Um die Arbeiterbewegung Englands vor dieser neuen Gefahr zu behüten, gibt für die ILP ein Mittel: sich jeglicher Unklarheit und Unausgesprochenheit betreffend Wege und Methoden der sozialistischen Revolution zu entledigen und die wirklich revolutionäre Partei des Proletariats zu werden. Auf diesem Gebiet braucht nichts Neues gefunden werden: alles Grundlegende ist gesagt – und gut gesagt – von den ersten vier Kongressen der Komintern. Anstatt sich mit dem bürokratischen Ersatz der Epigonen zu füttern, müssen alle Mitglieder der ILP zum Studium der Resolutionen der ersten Weltkongresse angehalten werden. Das allein ist jedoch wenig. Man muss in der Partei eine Diskussion eröffnen über die Lehren des letzten Jahrzehnts, das im Zeichen des Kampfes zwischen Stalin-Bürokratie und Linker Opposition stand. Inhalt dieses Kampfes waren die wichtigsten Etappen der revolutionären Weltbewegung: die wirtschaftlichen und politischen Aufgaben der UdSSR: das Problem der chinesischen Revolution; die Politik des anglorussischen Komitees: die Methoden der „Dritten Periode"; die Theorie des Sozialfaschismus und die Einheitsfrontpolitik; die Fragen der Parteidemokratie; die Ursachen der deutschen Katastrophe. An diesem großen Problemkreis kann man nicht vorübergehen. Das sind nicht russische, sondern internationale Fragen.1

Eine revolutionäre Partei in unserer Epoche muss international sein. Wie steht es in dieser Hinsicht mit der ILP? Ein Bündnis mit der Kompartei eingehend, hat die ILP ihre internationale Stellung nicht festgelegt. Sie hat mit der Zweiten Internationale gebrochen und ein Abkommen mit der Dritten getroffen, doch tritt sie auch in die Arbeitsgemeinschaft der linkssozialistischen Parteien ein. Diese Gemeinschaft ist ihrerseits nicht gleichförmig. Es gibt auch Elemente, die zur Norwegischen Arbeiterpartei hinneigen, d.h. im Grunde zur Sozialdemokratie. Welche Stellung nimmt in diesen Fragen die ILP ein? Gedenkt sie das Schicksal der geschichtlich schon verurteilten Kominternbürokratie zu teilen; will sie versuchen, sich auf einer Zwischenstellung zu halten (dies hieße auf Umwegen zum Reformismus zurückkehren); oder will sie bewusst teilnehmen am Aufbau der Neuen Internationale auf den von Marx und Lenin gelegten Grundlagen?

Für den ernsten Leser ist es klar, dass unsere Kritik am allerwenigsten von feindlichen Gefühlen zur lLP beseelt ist. Im Gegenteil, wir verstehen zu gut, dass, wenn diese Partei schmählich von der Bühne abträte, die Sache des Sozialismus einen neuen grausamen Schlag davontrüge. Indes, eine solche Gefahr besteht, und in gar nicht so großer Entfernung. In unserer Epoche darf man nicht lange auf Zwischenstellungen verharren. Die Die ILP für die proletarische Revolution retten kann nur völlige politische Klarheit. Aufgabe dieser Zeilen ist es, der revolutionären Klarheit nachzuhelfen, sich Bahn zu brechen.

28. August 1933.

1Siehe die Erklärung der Linken Opposition (Bolschewiki-Leninisten) zur Pariser Konferenz.

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