Leo Trotzki: Was ist mit Rakowski? [Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 6 (Anfang Juni 1933), S. 1] Die Frage von Rakowskis Schicksal ist in ein tragisches Geheimnisdunkel gehüllt. Man kann es für bestimmt ansehen, dass Rakowski sich nicht mehr in seinem alten Verbannungsort Barnaul befindet. Aufgrund von Nachrichten aus zwei verschiedenen Quellen, einer „offiziellen“, d.h. mit den Stalinisten im Zusammenhang stehenden, kann man für bestimmt ansehen, dass der kranke Rakowski aus Barnaul nach Moskau überführt wurde. Die Oppositionsquelle berichtete ferner, Rakowski sei im Krankenhaus des Kreml gestorben. Nach der „offiziellen“ Quelle hat Rakowski die Operation überstanden und ist genesen. In der „Humanité“ bestritt Stalin in unbestimmter Form die Nachricht von Rakowskis Tod. Über sein weiteres Schicksal jedoch teilen die führenden Kreise nichts mit. Das bekannte Reutersche Telegramm aus Moskau meldete, dass Rakowski im Jakutsker Bezirk eine medizinische Praxis ausübe“. Reuter konnte sich dies nicht ausgedacht haben: die Mitteilung wurde ihm offenbar aus Moskau zugeflüstert. Wie soll man sich diese Angaben zusammenreimen? Die Überführung Rakowskis aus Barnaul in das Kremlkrankenhaus muss scheinbar von einer außergewöhnlichen Anteilnahme für Rakowski zeugen. Warum aber wurde in einem solchen Falle Rakowski nach der Operation nicht nur nicht nach dem Süden geschickt, was die Ärzte schon längst verlangten, sondern auch nicht nach Barnaul zurück gesandt und vielmehr in die für ihre mörderischen Verhältnisse des Polarkreises verbannt? Wir haben keinerlei Nachrichten, die diesen Widerspruch auflösen. Wir sind gezwungen, eine Hypothese aufzustellen, die der Nachprüfung bedarf. Auf jeden Fall scheint sie uns sich aus allen Umständen zu ergeben. Die Erkrankung Rakowskis fiel zeitlich einerseits mit der neuen Flut antitrotzkistischen Wütens, und andererseits mit jenen Verhandlungen hinter den Kulissen zusammen, die zu der neuen Kapitulation Sinowjews und Kamenews führten. Aus dem Text der Erklärungen Kamenews und Sinowjews ist deutlich zu ersehen, in welchem Maße Stalin autoritative Zeugnisse gegen die Linke Opposition braucht. Man darf durchaus annehmen, dass die Stalinisten den Versuch machten, Rakowskis Krankheit auszunützen, um von ihm die eine oder andere Erklärung zu erpressen. In dieser Absicht wurde Rakowski offenbar in das bevorzugte Krankenhaus des Krems geschafft, d.h. in Bedingungen versetzt, von denen ein Verbannter nicht einmal zu träumen wagt. Die Operation wurde durchgeführt, und zwar, wie berichtet wird, glücklich. Danach muss Stalin – das entspricht vollkommen dem moralischen Wesen Stalins – Rakowski einen politischen Schuldschein vorgelegt haben. Rakowski muss – das entspricht vollkommen dem moralischen Wesen Rakowskis – mit Entrüstung den vorgelegten Schein zurückgewiesen haben. Darum eben kehrte der alte Ringer nicht nach Barnaul zurück, sondern wurde bis an den Polarkreis vertrieben. Wir sehen keine andere Erklärung. Die Stalinisten haben alle Möglichkeiten, unsere Hypothese zu widerlegen. Wir werden mit Ungeduld die Widerlegung erwarten. Oder ist vielleicht unsere Hypothese zu … optimistisch, und werden es die Stalinisten für sich vorteilhafter finden, zu schweigen? Prinkipo, 25. Mai 1933 Leo Trotzki |
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