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Leo Trotzki 19330805 Selbst Verleumdungen müssen einen Sinn haben

Leo Trotzki: Selbst Verleumdungen müssen einen Sinn haben

(Eine Erklärung für den denkenden Teil der Stalinisten)

[Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 746, International Institute of Social History, Amsterdam]

Die Stalinisten wiederholen bei jeder Gelegenheit, dass die Bolschewiki-Leninisten, die sie „Trotzkisten" nennen, auf eine militärische Intervention in der UdSSR hinarbeiten. Derlei frecher Unsinn ist darauf berechnet, unerfahrene Leute zu hypnotisieren. Namentlich ein schlichter Kerl muss sich unvermeidlich sagen: „es kann doch nicht angehen, dass sie sich so etwas einfach ausdenken – irgendetwas wird daran schon wahr sein". Und solche schlichten Kerle gibt es auf der Welt leider nicht wenig.

Wie soll man jedoch den Beistand auffassen, den die „Trotzkisten" der Intervention leisten sollen? Heißt das, dass die Bolschewiki-Leninisten an der Seite des Imperialismus im Kampf gegen die Sowjetunion stünden, d.h., dass sie materiell oder politisch interessiert wären am Sturz der Arbeiterstaates mit Hilfe der Militärmacht der imperialistischen Bourgeoisie? Es gibt Subjekte, die auch vor solchen Behauptungen nicht zurückschrecken. In den meisten Fällen sind das einfach dreckige Streber, denen weder an der Intervention noch an der Revolution, weder am Marxismus noch an Ideen überhaupt etwas gelegen ist. Sie dienen einfach ihren heutigen Herrn und werden diesen Herrn in der Minute der Gefahr ohne Zögern preisgeben.

Im Grunde genommen setzen diese „Stoßbrigadler“ der Verleumdung die Tradition der Reaktionäre fort, die seit 1914 und besonders seit 1917 unermüdlich wiederholten, dass Lenin und Trotzki Agenten des deutschen Generalstabs seien. Nach fünfzehn, zwanzig Jahre, in denen Ereignisse wie die Oktoberrevolution, der Bürgerkrieg, die Schaffung der Dritten Internationale und der unversöhnliche Kampf der Bolschewiki-Leninisten um das Banner Marx' und Lenins gegen die entartete Bürokratie stattfanden, heben die Stalinisten aus dem Schmutz die Beschuldigungen auf, die seinerzeit von der Militärspionage, Miljukow, Burzew, Kerenski & Co fabriziert wurden.

Übrigens hüten sich die vorsichtigeren Bürokraten, die Frage offen im Geiste der britischen und zaristischen Konterspionage zu stellen. Sie fügen ein gelahrtes Wörtchen hinzu: die Trotzkisten helfen „objektiv“ der Konterrevolution und der Intervention. Eine solche Formel, die selbst auf „Objektivität“ Anspruch erhebt, ist in Wirklichkeit jedes Inhalts bar. Jeder Fehler der revolutionären Partei hilft mittelbar oder unmittelbar dem Feind; doch besteht die ganze Frage darin: auf welcher Seite liegt der Fehler? Die Bolschewiki-Leninisten (und Ereignisse haben unsere Beweisführung bestätigt) zeigten, dass die Politik der Stalinbürokratie in China der Bourgeoisie und den ausländischen Imperialismus half gegen die Arbeiter und Bauern; den britischen Reformisten half gegen die Kommunisten; in der UdSSR den Thermidorianern und Bonapartisten half und hilft gegen die Oktoberrevolution; schließlich in Deutschland Hitler half gegen das Proletariat. Stimmt das oder stimmt das nicht? Das ist die entscheidende Frage.

Selbstverständlich trägt unsere Kritik nicht zur Erhöhung der Autorität der Stalinfraktion bei; doch kann man etwa das Prestige der Bürokratie und die Lebensinteressen des Weltproletariats auf eine Stufe stellen? Die Stalinbürokratie, die über reiche Verlage, Zeitungen, „Theoretiker" und Journalisten verfügt, hat nicht einmal eine Widerlegung unserer Kritik versucht. Ist es etwa nicht auffallend, dass es in der Komintern nicht ein Buch gibt, das die Lehren aus der chinesischen Revolution, den deutschen Ereignisse von 1923, dem bulgarischen Aufstand, dem Anglorussischen Komitee und der Reihe von anderen Ereignissen geringeren Ausmaßes zöge? Und das wird immer schlimmer. So wurde nach dem elenden Bericht Heckerts das Kreuz gemacht über Studium und Erörterung der Ursachen für den Sieg des deutschen Faschismus. Wenn die Stalinbürokratie unsere Kritik konterrevolutionär nennt, so will sie damit einfach sagen, dass wir es auf das Prinzip ihrer Unfehlbarkeit abgesehen haben. Dies Prinzip bedarf keines Beweisen: Wer daran zweifelt, wird aus der Organisation ausgeschlossen und in der UdSSR gar eingesperrt, wobei der Familie des Verbrechers Wohnung und Brot entzogen wird.

Doch sei die Opposition mit ihrer Kritik im Recht oder im Unrecht. was soll bei all dem hier die militärische Intervention? Indes, auf der Jagd nach immer stärkeren Argumenten zur Rechtfertigung der Maßnahmen zur physischen Ausrottung der Leninisten kehren die Stalinisten immer häufiger und mit hartnäckiger das Argument der Intervention hervor. Ihre Ausführungen sind ungefähr nach folgendem Muster aufgebaut: die „Trotzkisten" sagen, dass der Sozialismus in einem Land unmöglich sei; dass in der UdSSR das Kulakentum nicht vernichtet sei, dass die Sozialdemokratie kein Faschismus sei, folglich … drängen die „Trotzkisten" auf den Weg der Intervention. Die Folgerung ergibt sich hier nicht im Geringsten aus den Voraussetzungen. Ein wenig Nachdenken genügt, um einen zu überzeugen, dass die Folgerung sogar in direktem Widerspruch zu den Voraussetzungen steht. Die Stalinisten haben viele Male wiederholt, dass gerade die Erfolge des sozialistischen Aufbaus den Hass der Imperialisten auf die UdSSR verschärften und dadurch die Gefahr der Intervention näher brächten. Die Bolschewiki-Leninisten erklären aber doch, dass die wirklichen Erfolge des sozialistischen Aufbaus bei weitem nicht so groß sind, wie es die Stalinfraktion behauptet. Wieso kann diese Kritik die Bourgeoisie auf den Weg der Intervention drängen? Man möge uns das verdeutlichen!

Niemand wird leugnen, dass die Feindschaft der Weltbourgeoisie zur Komintern aus der Angst vor der Ausbreitung der proletarischen Revolution auf andere Länder stammt: diese Gefahr berührt die die Weltbourgeoisie jedenfalls unmittelbarer als die „Liquidierung der Klassen“ in der UdSSR. Die Bolschewiki-Leninisten klagen bekanntlich die Stalinbürokratie an, dass sie faktisch auf die Politik der Weltrevolution verzichtet hat. Sei dies nun seinem Wesen nach richtig oder nicht, auf jeden Fall muss eine solche Anklage die Interventionsgefahr verringern und nicht vergrößern. Und wirklich, Dutzende und Hunderte von Beweisen könnte man erbringen, dass die Bourgeoisie die Politik des „Sozialismus in einem Lande" für sehr viel realistischer, klüger, „nationaler" hält als die Politik des „Trotzkismus", d.h. der internationalen proletarischen Revolution. Die Kritik der Linken Opposition festigt nur die diplomatischen Positionen des Stalinismus. Ein solider amerikanischer Bourgeois, Campbell, berief sich, als er die Notwendigkeit der Anerkennung der Sowjetunion dartat, auf eine Äußerung Stalins, dass der Kurs auf die internationale Revolution zugleich mit der Ausstoßung Trotzkis liquidiert sei. Stalin hat diese Äußerung allerdings abgestritten. Nehmen wir also deshalb an, dass nicht Stalin selbst sie zu Campbell gesagt hat, sondern irgendjemand aus seiner nächsten Umgebung; nehmen wir sogar an, dass Campbell zwecks größeren Eindrucks Stalin dies Argument in den Mund legte. Im Grunde ändert das an der Sache nicht das i-Tüpfelchen. Campbell rechnet Stalin dieselbe Politik als ein Plus an, welche die Opposition ihm als ein Minus ankreidet – und von seinem Standpunkt hat der amerikanische Bourgeois recht. Jedenfalls, die Stalinbürokratie nationaler Beschränktheit anzuklagen, erschwert nicht, sondern erleichtert ihr die „normalen" und selbst „freundschaftlichen" Beziehungen zu den bürgerlichen Staaten. Was hat nur das Gerede von der Intervention damit zu tun?

Stellten wir jedoch vielleicht das Wesen der Beweisführung der Stalinisten nicht richtig dar? Nehmen wir die offizielle Presse zur Hand. Vor uns liegt die letzte Nummer der Humanité (2. August 2). Überwinden wir den natürliche Ekel vor der Verleumdung und bücken wir uns, die Argumente der Beamten von der Humanité zu betrachten. Als Musterbeispiel für die „trotzkistische“ Konterrevolution werden hier Worte von Simone Weill zitiert: „Die Diplomatie des russischen Staates muss uns Misstrauen einflößen, im Kriegs-, wie im Friedensfalle, ganz wie die Diplomatie der kapitalistischen Länder, wenn nicht im selben Grade.“ Weiter unten werden die Äußerungen des angeblichen „Trotzkisten“ Prader zitiert: „Die Macht, die in der UdSSR herrscht, hat nichts – außer ihren Lügen (?) – mit der Oktoberrevolution gemein". Nachdem sie diese beiden Zitate gedruckt hat, für deren Gewissenhaftigkeit des Wortlauts wir uns nicht verbürgen, schreibt die Redaktion: „das sind Wort für Wort die gleichen Schmutzereien, die in der Presse der anderen Konterrevolutionäre, weißrussischen wie französischen erscheinen, in der ,Wiederauferstehung' des Generals Miller, den ,Letzten Nachrichten' Miljukows und im Populaire der Blum-Rosenfeld." Auf diese Weise kommt heraus, dass die russischen Weißgardisten die sowjetischen Diplomatie beschuldigen auf das Niveau der bürgerlichen Diplomatie gesunken zu sein, sowie das Vermächtnis der Oktoberrevolution verraten zu haben. Kann man sich etwas Alberneres oder Lächerlicheres vorstellen? Und wie um sich restlos zu entblößen, versteigt sich der unglückliche Beamte schließlich zu diesem Gipfel: „Die Beschuldigungen der beiden Lager fallen zusammen Wort für Wort". So steht es da: „Wort für Wort“! In Wirklichkeit müht sich die weißgardistische Presse aus Leibeskräften ab, der bürgerlichen Regierung zu beweisen, dass die Stalinbürokratie das verbrecherische Werk der Oktoberrevolution fortsetze, sich durchaus nicht auf nationale Ziele beschränke, wie früher nach der internationalen Revolution trachte, und dass darum der von Frankreich mit der UdSSR abgeschlossene Nichtangriffspakt oder die Anerkennung der Sowjets durch Spanien verhängnisvolle Fehler seien. Die reaktionäre russische und Weltpresse möchten, anders ausgedrückt, beweisen, dass die Sowjetdiplomatie mitnichten „europäisiert", d.h, nicht verbürgerlicht sei; und in ihrer Weigerung zu verbürgerlichen erblickt sie einen Grund für die Intervention: das ist wenigstens logisch. Bei den Stalinisten gibt es nichts als Ungereimtheiten. Die Weißen hassen die Sowjets mit glühendem Hass und gerade darum suchen sie Argumente zu bringen, die politischen Sinn besitzen. Etwas ganz anderes, wenn ein bezahlter Beamter eine ihm im Grunde fremde Sache verteidigt: er wirft auf einen Haufen allen Unsinn, der ihm durch seinen unglücklichen Schädel geht.

Dem Beamten stellt man die Tagesaufgabe: Trotzki mit den Weißen Emigranten in Verbindung zu bringen, um damit die Repressalien gegen Rakowski und Tausende von untadeligen Bolschewiki zu rechtfertigen. Wie geht der gleichgültige Beamte vor? Er lässt sich natürlich nicht in eine Polemik mit Trotzki oder seinen Gesinnungsgenossen ein: so eine Polemik verspricht nichts Gutes. Er bringt weder Tatsachen noch Argumente: woher sollte er auch Tatsachen und Argumente nehmen? Der Beamte findet zwei zufällige Zitate, die in keiner Beziehung zu Trotzki stehen, und bringt es fertig, diese Zitate mit weißgardistischen Ansichten zu identifizieren, die ihnen in Sinn und Wortlaut genau entgegengesetzt sind. Um seinen Eifer zu zeigen, fügt der Beamte hinzu: „Wort für Wort"! Verleumdend schert es ihn nicht, seiner Verleumdung auch nur den Schein eines Sinns zu geben! Kein Wunder, wenn die fortgeschrittenen Arbeiter mehr und mehr den gewissenlosen, unwissenden und treubrüchigen Beamten den Rücken kehren.

G. G.

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