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Leo Trotzki 19330429 Probleme des Sowjetregimes

Leo Trotzki: Probleme des Sowjetregimes

Theorie der Entartung und Entartung der Theorie

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 6 (Anfang Juni 1933), S. 5 f.]

1. Das Absterben des Staates

Der vollendete Sozialismus (Kommunismus) bedeutet eine Gesellschaft ohne Staat. Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus aber braucht eine außerordentliche Verstärkung der Staatsfunktionen (Diktatur des Proletariats). Diese historische Dialektik des Staates ist von der Theorie des Marxismus hinlänglich aufgezeigt worden.

Die wirtschaftliche Grundlage für das vollständige Absterben eines Arbeiterstaats bildet eine so hohe Entfaltung der wirtschaftlichen Macht, dass die Produktion schon keines Ansporns und die Verteilung der Lebensgüter keiner rechtlichen Kontrolle mehr bedarf.

Der Übergang von der revolutionären Diktatur zur staatenlosen Gesellschaft kann folglich nicht bewerkstelligt werden durch die Herausgabe eines Erlasses. Der Staat wird nicht durch einen besonderen Akt aufgelöst, sondern verschwindet allmählich von der Bildfläche, „stirbt ab" in dem Maße, wie die mächtige und kulturell hochstehende sozialistische Gesellschaft alle Lebensfunktionen mit Hilfe ihrer zahlreichen und geschmeidigen Organe, die des Zwangs nicht mehr bedürfen, übernimmt.

Der Prozess der Liquidierung des Staates geht auf zwei verschiedene Wege. In dem Maße, in dem die Klassen liquidiert werden, d.h. sich in einer gleichförmigen Gesellschaft aufgehen, stirbt der Zwang im eigentlichen Sinne des Wortes ab, für immer aus dem gesellschaftlichen Verkehr verschwindend; die organisatorischen Funktionen des Staates aber werden im Gegensatz dazu verwickelter, vervollkommnen sich, gehen ins Einzelne, dringen ständig vor in immer neue Gebiete, die vordem gleichsam an der Schwelle der Gesellschaft geblieben waren (Haushalt, Kindererziehung) und unterstellen sie zum ersten Male der Kontrolle des kollektiven Denkens.

Die allgemeine Fragestellung verändert sich nicht dadurch, ob nun von einem einzelnen Land oder dem ganzen Erdball die Rede ist. Nimmt man an, dass die sozialistische Gesellschaft in nationalen Grenzen zu verwirklichen ist, dann muss auch das Absterben des Staates im Rahmen eines einzelnen Landes vor sich gehen. Die Notwendigkeit, sich vor der von außen drohenden kapitalistischen Feinden zu schützen, ist an sich völlig vereinbar mit der Abschwächung des staatlichen Zwanges im Innern: Die Solidarität und die bewusste Disziplin in der sozialistischen Gesellschaft müssen ja die höchsten Ergebnisse auf dem Schlachtfeld wie auf dem Felde der Produktion bringen.

Die Stalin-Fraktion hat schon vor zwei Jahren verkündet, dass die Klassen in der UdSSR „im Großen und Ganzen" liquidiert seien; dass die Frage Wer wen? „ein für allemal" gelöst sei, mehr noch: dass „wir in den Sozialismus eingetreten seien". Hieraus müsste nach den Gesetzen der marxistischen Logik der Schluss gezogen werden, dass die Notwendigkeit eines Klassenzwanges „im Großen und Ganzen" liquidiert sei und dass die Periode des Absterbens des Staates eingesetzt habe. Aber diese Folgerung wurde, sobald ihr die einzelnen unvorsichtigen Doktrinären die Nähe kamen, unverzüglich für „konterrevolutionär" erklärt.

Lassen wir jedoch die Perspektive des Sozialismus in einem Lande beiseite. Wir werden nicht von der bürokratischen Konstruktion, die ad absurdum zu führen dem Gang der Entwicklung schon gelungen ist, sondern von der tatsächlichen Lage der Dinge ausgehen: Die UdSSR ist selbstverständlich keine sozialistische Gesellschaft, sondern nur ein sozialistischer Staat, d.h. das Werkzeug zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft; die Klassen sind noch lange nicht aufgehoben; die Frage wer wen? ist noch nicht entschieden; die Möglichkeit einer kapitalistischen Restauration ist nicht ausgeschlossen; die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats besteht folglich in vollem Umfange. Aber noch bleibt die Frage nach dem Charakter des Sowjetstaats, der im Verlauf der gesamten Übergangszeit keineswegs unverändert bleibt. Je erfolgreicher der wirtschaftliche Aufbau ist und je gesünder die Wechselbeziehungen von Stadt und Land sind, um so breiter muss sich selbstverständlich die Sowjetdemokratie entfalten. Hier geht es noch nicht um das Absterben des Staates, denn die Sowjetdemokratie ist ebenfalls eine Form des staatlichen Zwanges. Die Fassungskraft und die Schmiegsamkeit dieser Form spiegelt jedoch besser als alles andere die Einstellung der Massen zum Sowjetregime wider. Je mehr das Proletariat durch die Ergebnisse der eigenen Arbeit zufriedengestellt ist und je fruchtbringender seine Rückwirkung auf das Dorf ist, um so mehr muss der Sowjetstaat – nicht auf dem Papier, nicht im Programm, sondern in der Tat, in der täglichen Erfahrung – das Werkzeug einer wachsenden Mehrheit gegen eine schwindende Mehrheit werden. Das Aufblühen der Sowjetdemokratie, das noch nicht das Absterben des Staates bedeutet, kommt jedoch der Vorbereitung dieses Absterbens gleich.

Die Frage wird konkreter, wenn wir die grundlegenden Veränderungen im Klassenaufbau zur Zeit der Revolution in Betracht ziehen. Die Diktatur des Proletariats als Organisation zur Vernichtung der Ausbeuter war notwendig gegen die Gutsbesitzer, die Kapitalisten, die Generale und das Kulakentum, soweit es die oberen besitzenden oberen Schichten unterstützten. Ausbeuter kann man nicht für den Sozialismus gewinnen. Ihren Widerstand muss man um jeden Preis brechen. Die Jahre des Bürgerkriegs bedeuteten die höchste Kraftanspannung der Diktatur des Proletariats.

In Bezug auf die Bauernschaft als Ganzes war und ist die Aufgabe eine ganz andere. Die Bauernschaft muss man für das Sowjetregime gewinnen. Den Bauern an der Erfahrung zeigen, dass die Staatsindustrie imstande ist, ihnen Waren zu günstigeren Bedingungen zu liefern, als es der Kapitalismus tat, und dass die kollektive Landbebauung vorteilhafter ist als die individuelle. Solange diese wirtschaftliche und kulturelle Aufgabe nicht gelöst ist – und bis dahin ist es noch sehr weit, um so weiter als sie vollständig nur in internationalem Maßstab gelöst werden kann –, sind Klassenreibungen und folglich auch staatlicher Zwang unvermeidlich. War aber im Kampf mit den Gutsbesitzern und Kapitalisten die revolutionäre Gewalt die Hauptmethode, so war die Frage in Bezug auf den Kulaken schon eine andere: unerbittlich den unmittelbaren konterrevolutionären Widerstand des Kulakentums erstickend, ging der Staat jedoch in wirtschaftlicher Beziehung Kompromisse mit ihm ein. Er entkulakisierte den Kulaken nicht, sondern schränkte nur dessen ausbeuterischen Tendenzen ein. In Bezug auf das Bauerntum als Ganzes durfte die revolutionäre Gewalt nur eine Hilfs- und darüber hinaus schrumpfende Rolle spielen. Die realen Fortschritte in der Industrialisierung und der Kollektivierung hätten sich in der Milderung der Form und der Methoden des staatlichen Zwanges, in der zunehmenden Demokratisierung des Sowjetregimes ausdrücken müssen.

2. Das politische Regime der Diktatur und seine soziale Grundlage

Am 30. Januar 1932 schrieb die „Prawda“: „Im zweiten Fünfjahresplan werden die letzten Splitter kapitalistischen Elemente in unserer Wirtschaft liquidiert sein." Es ist vollkommen klar, dass der Staat vom Standpunkt dieser offiziellen Perspektive im Verlauf des zweiten Fünfjahresplans endgültig absterben müsste, denn wenn die „letzten Splitter" (!) der Klassenunterschiede liquidiert sind, hat der Staat nichts mehr zu tun.

In Wirklichkeit aber sind wir Zeugen von Vorgängen geradezu entgegengesetzten Charakters. Die Stalinisten selbst wagen nicht einmal zu behaupten, dass die Diktatur in den letzten Jahren demokratischere Formen angenommen habe, sondern beweisen im Gegenteil unermüdlich die Unvermeidlichkeit einer weiteren Verschärfung der Methoden des staatlichen Zwangs. Sehr viel wichtiger jedoch als alle Perspektiven und Prognosen ist das, was in der Wirklichkeit selbst geschieht.

Betrachtet man die Sowjetwirklichkeit durch das Prisma des politischen Regimes – eine solche Betrachtung ist ungenügend, aber vollauf zu Recht und außerordentlich wichtig –, so empfängt man ein nicht nur dunkles, sondern geradezu unheilverkündendes Bild. Die Sowjets haben den letzten Rest von selbständiger Bedeutung verloren, indem sie aufhörten, Sowjets zu sein. Die Partei besteht nicht mehr. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die rechte Strömung hat man die Gewerkschaften endgültig zertrümmert. Die Frage der Entartung und der Erstickung der Partei und der Sowjets haben wir mehr als einmal untersucht. Hier ist es notwendig, wenigstens mit einigen Zeilen bei dem Schicksal der Gewerkschaftsorganisationen in der Periode der Sowjetdiktatur zu verweilen.

Eine verhältnismäßige Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist ein notwendiges und wichtiges Gegengewicht in dem System eines Sowjetstaates, der sich unter dem Druck der Bauernschaft und der Bürokratie befindet. Solange die Klassen nicht liquidiert sind, müssen die Arbeiter sich auch in einem Arbeiterstaat mit Hilfe ihrer Gewerkschaftsorganisationen verteidigen. Anders ausgedrückt: Die Gewerkschaften bleiben Gewerkschaften, solange der Staat ein Staat bleibt, d.h. ein Zwangsapparat. Die Verstaatlichung der Gewerkschaften kann nur parallel gehen mit der Entstaatlichung des Staates selbst. Das bedeutet: in dem Maße, wie die Liquidierung der Klassen dem Staat seine Zwangsfunktionen nimmt und ihn in der Gesellschaft auflöst, verlieren die Gewerkschaften ihre besondere Klassenaufgabe und lösen sich in dem „absterbenden" Staat auf.

In Worten erkennen die Stalinisten diese Dialektik der Diktatur, die im Programm der bolschewistischen Partei niedergelegt ist, an. Aber die wirklichen Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und dem Staat entwickeln sich in einer völlig entgegengesetzter Richtung. Der Staat stirbt nicht nur nicht ab (trotz der verkündeten Liquidierung der Klassen), mildert nicht nur seine Methoden nicht (trotz den Wirtschaftserfolgen), sondern wird im Gegenteil immer nackter ein bürokratischer Zwangsapparat. Gleichzeitig haben die in Beamtenkanzleien verwandelten Gewerkschaften endgültig die Möglichkeit verloren, die Rolle eines Puffers zwischen dem Staatsapparat und den proletarischen Massen zu erfüllen. Schlimmer noch: der Apparat der Gewerkschaft selbst ist zu einem Werkzeug des wachsenden administrativen Drucks auf die Arbeiter geworden.

Die vorläufige Schlussfolgerung aus dem oben Gesagten ist die: die Entwicklung der Sowjets, der Partei und der Gewerkschaften verläuft nicht in aufsteigender, sondern absteigender Linie. Unterstellt man die offiziellen Beurteilung der Industrialisierung und der Kollektivierung als wahr, so müsste man fortfahren: der politische Überbau des proletarischen Regimes entwickelt sich in genau entgegengesetzter Richtung als die Entwicklung der wirtschaftlichen Grundlage. Bedeutet das, dass die Gesetze des Marxismus falsch sind? Nein, falsch, und das gründlich, ist die offizielle Beurteilung der sozialen Basis der Diktatur.

Konkreter ist die Frage so zu formulieren: warum war es 1917 -1921, als die alten herrschenden Klassen noch mit der Waffe in der Hand kämpften, die Imperialisten der ganzen Welt sie aktiv unterstützten, und die Kulaken bewaffnet die Armee und die Versorgung des Landes sabotierten, möglich, offen in der Partei zu diskutieren über die brennende Frage des Brest-Litowsker Friedens, die Organisationsmethoden der Roten Armee, die Zusammensetzung des ZK, die Gewerkschaften, den Übergang zur NEP, die nationale Politik und die Politik der Komintern; und warum kann man jetzt, nach Beendigung der Intervention, nach der Zertrümmerung der Ausbeuterklassen, nach den Erfolgen der Industrialisierung, nach der Kollektivierung der überwiegenden Mehrheit der Bauernschaft, keine Diskussion zulassen über die Fragen des Tempos der Industrialisierung und der Kollektivierung, über das Verhältnis zwischen Schwer- und Leichtindustrie oder über die Einheitsfrontpolitik in Deutschland ? Warum wird jedes Mitglied der Partei, das die Einberufung des regelmäßigen Parteitags in Übereinstimmung mit den Satzungen fordern würde, unverzüglich ausgeschlossen oder Repressalien ausgesetzt? Warum wird jeder Kommunist, der laut einen Zweifel an Stalins Unfehlbarkeit äußerte, sofort verhaftet? Woher kommt diese fürchterliche ungeheuerliche, unerträgliche Gespanntheit des politischen Regimes?

Hinweise auf die Bedrohung von außen – seitens der kapitalistischen Staaten – erklären an sich nichts. Wir gedenken selbstverständlich nicht, die Bedeutung der kapitalistischen Umgebung für das innere Regime der Sowjetrepublik herabzumindern: schon die Notwendigkeit, eine mächtige Armee zu unterhalten, stellt eine bedeutende Quelle des Bürokratismus dar. Jedoch die feindliche Umgebung ist kein neuer Faktor, sie begleitet die Sowjetrepublik seit den ersten Tagen ihres Bestehens. Bei gesunden Verhältnissen im Inland müsste der Druck des Imperialismus nur die Solidarität der Massen, insbesondere den Zusammenschluss der revolutionären Vorhut steigern. Das Eindringen ausländischer Agenten vom Schlage der Ingenieur-Saboteure usw. rechtfertigt und erklärt auf keinen Fall die allgemeine Verstärkung der Zwangsmethoden. Ein solidarisches gesellschaftliches Milieu müsste immer leichter die feindlichen Elemente aus sich ausscheiden, wie ein gesunder Organismus Gift ausscheidet.

Man könnte, das ist wahr, sich darauf zu berufen versuchen, dass der Druck von außen gestiegen sei, da in der ganzen Welt sich das Kräfteverhältnis zugunsten des Imperialismus verschoben hat. Jedoch selbst wenn man die Frage der Kominternpolitik als eine der Ursachen für die Schwächung des Weltproletariats beiseite lässt, bleibt doch unbestritten, dass die Verstärkung des äußeren Drucks nur in dem Grade zu einer Bürokratisierung des Sowjetsystems führen kann, als diese mit dem Anwachsen der inneren Widersprüche zusammentrifft. Unter solchen Umständen, wo man den Arbeiter in den Schraubstock des Passsystems und den Bauern in den Schraubstock der politischen Abteilungen zwängt, muss der Druck von außen unabwendbar den inneren Zusammenhalt noch mehr lockern. Und umgekehrt: Das Anwachsen der Widersprüche zwischen Stadt und Land muss die Gefahr seitens der kapitalistischen Staaten zuspitzen. Diese beiden Faktoren zusammen drängen die Bürokratie auf den Weg immer größeren Zugeständnisse an den Druck von außen und zu immer größeren Repressionen gegen die werktätigen Massen im eigenen Lande.

3. Die offiziellen Erklärungen für den bürokratischen Terror

Einige Genossen", sagte Stalin auf dem Januarplenum des ZK, „verstanden die These von der Aufhebung der Klassen, der Schaffung der klassenlosen Gesellschaft und vom Absterben des Staates als Rechtfertigung der Faulheit (?) und Gleichmütigkeit (?), als eine Rechtfertigung der konterrevolutionären Theorie vom Erlöschen des Klassenkampfes und von der Schwächung der Staatsmacht." Die Formlosigkeit der Ausdrucksweise dient Stalin wie auch in anderen Fällen dazu, die logischen Lücken zu verdecken. Eine Programm„these" über die Untergang der Klassen in der Zukunft bedeutet selbstverständlich noch kein Erlöschen des Klassenkampfs in der Gegenwart. Aber es geht nicht um eine theoretische These, sondern um die offiziell verkündete Tatsache des Untergangs der Klassen. Stalins Sophismus besteht darin, dass er den Gedanken von der unvermeidlichen Verstärkung der Staatsmacht in der Übergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus – einen Gedanken, den Lenin, Marx folgend, entwickelte, um die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats überhaupt zu erklären – anwendet auf die bestimmte Periode der Diktatur nach der angeblich schon vollzogenen Liquidierung alle kapitalistischen Klassen.

In der Erklärung der Notwendigkeit einer weiteren Verstärkung der bürokratischen Maschine sagte Stalin auf demselben Plenum: „Das Kulakentum als Klasse ist zertrümmert, bis auf den Garaus." Bejaht man diese Formel, so heißt das: um dem zertrümmerten Kulakentum den Garaus zu machen, bedarf es einer konzentrierteren Diktatur, als um das Kulakentum in voller Blüte zu zertrümmern. Die „größtmögliche Verstärkung" der Staatsmacht ist, nach der wörtlichen Aussage Stalins notwendig, um „den Splittern der absterbenden Klassen den Garaus zu machen".

Molotow, der überhaupt die verhängnisvolle Neigung hat, die Gedanken Stalins bis zu Ende zu führen, gibt dem Paradox des Bürokratismus einen in seiner Art vollkommen[en] Ausdruck: „Obgleich", so sprach er auf dem Januarplenum, „die Kräfte der Splitter der bürgerlichen Klassen in unserem Lande dahinschmelzen, wächst ihr Widerstand, ihre Bosheit und ihre Wut, keine Grenzen mehr kennend." Die Kräfte schmelzen, aber die Bosheit wächst! Molotow merkt nicht, dass man die Diktatur gegen Kraft, nicht gegen Bosheit braucht: mit Kraft nicht ausgerüstete Bosheit hört auf eine Gefahr zu sein.

Man kann nicht sagen", bekennt seinerseits Stalin, „dass diese Leute von einst mit ihren Schädlings- und Diebstahlsmachinationen irgend etwas an der heutigen Lage in der UdSSR ändern könnten. Sie sind zu schwach und zu ohnmächtig, um den Maßnahmen der Sowjetmacht widerstehen zu können." Es ist, scheint es, klar: wenn von den einstigen Klassen nur „Leute von einst" übrig sind, wenn sie zu schwach sind, um „irgend etwas“ (!) an der „Lage in der UdSSR ändern" zu können, so müsste sich daraus ein Verlöschen des Klassenkampfs und eine Milderung des Regimes ergeben. Nein, antwortete Stalin, „die Leute von einst können noch allerhand Schmutz aufwirbeln“. Aber die revolutionäre Diktatur braucht man nicht gegen kraftlosen Schmutz, sondern gegen die Gefahr der kapitalistischen Restauration. Sind für den Kampf mit den mächtigen Klassenfeinden zwei bewaffnete Fäuste nötig, reicht gegen den „Schmutz“ der Leute von einst der kleine Finger aus.

Hier aber führt Stalin ein neues Element ein: die absterbenden Splitter der zertrümmerten Klassen „appellieren an die rückständigen Schichten der Bevölkerung und mobilisieren sie gegen die Sowjetmacht". Aber hat sich denn die Rückständigkeit der Massen in den Jahren des ersten Fünfjahresplans vergrößert? Offenbar nicht. Es heißt dann also, dass sich ihre Einstellung zum Staat zum schlechteren entwickelt hat. Dann ergibt sich, dass die „größtmögliche Verstärkung" der Sowjetmacht (richtiger der Repressalien) notwendig ist für den Kampf gegen die wachsende Unzufriedenheit der Massen. Stalin fügt hinzu: auf dem Boden der Mobilisierung der rückständigen Schichten der Bevölkerung „können die Splitter der konterrevolutionären oppositionellen Elemente der Trotzkisten und rechten Strömungen wiederaufleben und wieder anfangen, sich zu regen". Das ist das letzte Argument: da die Splitter (nur Splitter!) wiederaufleben können (nur können!) ist... die höchste Konzentration der Diktatur notwendig.

Hoffnungslos verwickelt in die „Splitter" der eigenen Gedanken, fügt Stalin unerwartet hinzu: „Das ist bestimmt nicht so schrecklich.“ Warum aber sich und anderen Schrecken einjagen, wenn „das bestimmt nicht so schrecklich" ist? Und wozu ein Terrorregime gegen die Partei und das Proletariat einführen, wenn es sich nur um ohnmächtige Splitter handelt, die unfähig sind, „irgend etwas in der UdSSR zu ändern"?

Diese ganze Aufhäufung von zu glattem Unsinn gewordener Verwirrung ist das Ergebnis der Unmöglichkeit, die Wahrheit aufzudecken. Eigentlich müssten Stalin-Molotow sagen: angesichts der wachsenden und bedrohlichen Unzufriedenheit der Massen und dem immer stärkeren Zustrom der Arbeiter in die Opposition ist es notwendig, die Repressalien zur Verteidigung der Vorrechtsstellung der Bürokratie zu verdoppeln. Dann wäre alles an seinen Platz.

4. Das Absterben des Geldes und das Absterben des Staates

Der Knoten der Widersprüche, in die sich die Theorie und Praxis des bürokratischen Zentrismus so hoffnungslos verwickelt hat, zeigt sich von einer neuen Seite, wenn wir die Analogie zwischen der Rolle des Geldes und der Rolle des Staates in der Übergangsperiode untersuchen. Das Geld wie auch der Staat stellen ein unmittelbares Erbe des Kapitalismus dar: sie müssen verschwinden; sie können aber nicht durch ein Dekret abgeschafft werden, sondern sterben ab. Die verschiedenen Funktionen des Geldes wie auch des Staates sterben einen verschiedenen Tod. In seiner Eigenschaft als Werkzeug der privaten Spartätigkeit, zum Wucher und zur Ausbeutung stirbt das Geld parallel mit der Liquidierung der Klassen. Als Tauschmittel, als Maßstab für den Wert der Arbeit, als Regulator der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verschwindet das Geld allmählich in der planmäßigen Organisation der gesellschaftlichen Wirtschaft; zu allerletzt wird es zu einer Quittung, einem Scheck auf einen bestimmten Anteil am gesellschaftlichen Gut zur Zufriedenstellung der Bedürfnisse der Produktion und der Menschen.

Der Parallelismus in den beiden Verlöschungsprozessen – des Geldes und des Staates – ist nicht zufällig: sie haben ein und dieselbe soziale Wurzel. Der Staat bleibt Staat, solange er die Beziehungen zwischen den verschiedenartigen Klassen und Schichten regeln muss, deren jede ihre Bilanz aufstellt und ein Aktivsaldo zu erzielen strebt. Die endgültige Verdrängung des Geldes als Preismesser durch eine statistische Berechnung der lebendigen Produktivkräfte, der Ausrüstung, der Rohstoffe und des Bedarfs wird erst auf der Stufe möglich sein, wo der ganze soziale Reichtum alle Glieder der Gesellschaft von der Notwendigkeit befreit, sich untereinander um das Maß ihres gesellschaftlichen Anteils zu streiten.

Bis zu dieser Stufe ist es noch sehr weit. Das Rolle des Geldes in der Sowjetwirtschaft ist nicht nur noch nicht zu Ende, sondern soll sich in einem bestimmten Sinne erst jetzt voll entfalten. Die Übergangsperiode im Ganzen genommen bedeutet nicht eine Einschränkung des Warenverkehrs, sondern im Gegenteil seine außerordentliche Erweiterung. Alle Zweige der Wirtschaft wandeln sich, dehnen sich aus und sind gezwungen, mengen- und wertmäßig ihr Verhältnis untereinander zu bestimmen. Viele Produkte, die unter dem Kapitalismus nur einer kleinen Minderheit zugänglich sind, sollen jetzt in sehr viel größerer Menge hergestellt werden. Die Liquidierung der bäuerlichen Eigenverbrauchswirtschaft und der in sich abgeschlossenen Familienwirtschaft bedeutet die Übertragung all jener Arbeitsenergie, die sich heute im Gehege des Dorfes und innerhalb der Wände der Privatwohnungen verausgabt, in die Sprache des gesellschaftlichen (Geld-)Verkehrs.

Alle Produktivkräften der Gesellschaft in Rechnung stellend, ist es die Aufgabe des sozialistischen Staates, ihnen die für die Gesellschaft produktivste Verteilung und Anwendung zu geben. Die von dem Kapitalismus ausgearbeitete Methode der Wirtschaftsrechnung – die Geldrechnung – wird nicht verworfen, sondern vergesellschaftet. Der sozialistische Aufbau ist undenkbar ohne Einführung der persönlichen Interessiertheit der Erzeuger und Verbraucher in das Plansystem. Diese Interessiertheit aber kann aktiv nur in dem Falle in Erscheinung treten, wenn ihr ein zuverlässiges und geschmeidiges Werkzeug zur Verfügung steht: ein festes Geldsystem. Insbesondere die Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit und die Verbesserung der Produktionsqualität sind vollkommen unerreichbar ohne einen genauen Gradmesser, das frei in alle Poren der Wirtschaft dringt, d.h. eine feste Geldeinheit.

Wenn für die kapitalistische Wirtschaft, die zu ihrer unzuverlässigen inneren Gliederung mit Hilfe der verschwenderischen Konjunkturschwankungen kam, ein dauerhaftes Geldsystem notwendig ist, so ist es um so unerlässlicher für die Vorbereitung, Ausarbeitung und Regulierung einer Planwirtschaft. Es genügt nicht, neue Unternehmungen zu errichten; nötig ist, dass die Wirtschaft sie in sich einfügt. Einfügung heißt Prüfung durch die Erfahrung, Anpassung, Auslese. Eine Prüfung der Produktion durch die Massen, das ganze Volk kann nichts anderes bedeuten als eine Prüfung durch den Rubel. Einen Wirtschaftsplan auf einer gleitenden Valuta aufzubauen, ist dasselbe, wie Maschinenzeichnungen mit Hilfe eines wackligen Zirkels und eines verbogenen Lineals herzustellen. Gerade so verhält es sich heute. Die Inflation des Tscherwonez ist eine der böartigsten Folgen und zugleich ein Werkzeug der bürokratischen Desorganisation der Sowjetwirtschaft.

Die offizielle Theorie der Inflation steht völlig auf gleicher Höhe wie die weiter oben untersuchte offizielle Theorie der Diktatur. „Die Festigkeit der Sowjetvaluta", sagte Stalin auf dem Januarplenum, „wird vor allem durch eine ungeheure Menge von Warenmassen in den Händen des Staates, die zu festen Preisen in den Handel gebracht werden, gesichert." Wenn diese Phrase irgendeinen Sinn hat, so nur den einen: das Sowjetgeld hat aufgehört , Geld zu sein; es dient nicht mehr zum Messen des Wertes und dadurch zur Preisbildung; die „festen Preise" werden von der Staatsmacht bestimmt: der Tscherwonez ist nur ein Verrechnungsgutschein der Planwirtschaft. Dieser Gedanke ist ganz parallel und von gleichem Wert wie die Gedanken von der „Liquidierung der Klassen" und dem „Eintritt ins Reich des Sozialismus". Unberührt in seiner Halb-und-Halbstellung wagt Stalin jedoch nicht, auf die Theorie der Golddeckung zu verzichten. Nein, die Golddeckung schadet „auch" nicht, aber ihre Bedeutung ist bloß helfender Art. Man braucht sie auf alle Fälle für den Außenhandel, wo man in klingender Münze zahlen muss. Aber für das Gedeihen der Binnenwirtschaft genügen feste, vom Sekretariat des ZK oder seinen Bevollmächtigten bestimmte Preise.

Dass die Geschwindigkeit, mit der die Kaufkraft der Geldscheine sinkt, nicht nur von der Umdrehungszahl der Druckpresse, sondern auch von der „Menge der Warenmassen" abhängt ist jedem Studenten der Volkswirtschaftlichen Fakultät bekannt. Dies Gesetz gilt sowohl für die kapitalistische wie für die Planwirtschaft. Der Unterschied ist der, dass man in der Planwirtschaft mit Hilfe von Verwaltungsmaßnahmen die Inflation oder wenigstens ihr Ausmaß länger verschleiern kann. Um so furchtbarer muss der Zahltag aussehen! In jedem Fall verliert das durch administrative Warenpreise regulierte Geld die Fähigkeit, die Preise und infolgedessen auch den Plan zu regulieren. Auf diesem Gebiete wie auch auf den anderen besteht der „Sozialismus" für die Bürokratie darin, dass sie ihren Willen frei macht von jeglicher Kontrolle durch die Partei, die Sowjets, die Gewerkschaften oder das Geld.

Die heutige Sowjetwirtschaft ist weder eine Geld- noch eine Planwirtschaft: sie ist der fast reine Typus einer bürokratischen Wirtschaft. Die übertriebene und ungleichmäßige Industrialisierung untergräbt die Grundlagen der Landwirtschaft. Die Bauernschaft versucht einen Ausweg in der Kollektivierung zu finden. Die Erfahrung zeigte bald, dass die Kollektivierung der Verzweiflung noch nicht die sozialistische Kollektivierung ist. Der weitere Verfall der Landwirtschaft schlug auf die Industrie zurück. Um die undurchführbaren und nicht zusammenstimmenden Tempi durchzuhalten, wurde ein verstärkter Druck auf das Proletariat notwendig. Indem die Industrie sich von der materiellen Kontrolle der Massen als Verbraucher und von der politischen Kontrolle der Erzeuger freimachte, nahm die Industrie einen übersozialen, d.h. bürokratischen Charakter an. Sie erwies sich im Endergebnis als unfähig, die menschlichen Bedürfnisse auch nur in dem Grade zu befriedigen, wie es die niedrig entwickelte kapitalistische Industrie tut. Die Landwirtschaft hat den impotenten Städten mit einem Ermattungskrieg geantwortet. Unter dem ständigen Joch des Nichtübereinstimmens der Anspannung der Arbeitskraft mit den Lebensbedingungen verlieren die Arbeiter, die Kolchosbauern und die Einzelbauern alles Interesse an der Arbeit und werden von Unwillen auf den Staat erfüllt. Daraus – eben daraus, und nicht aus dem schlechten Willen der „Splitter" – entspringt die Notwendigkeit, Zwang in alle Zellen des Wirtschaftslebens zu leiten (Verstärkung der Macht der Direktoren, Gesetze gegen die Bummelei, Todesstrafe für die Entwendung von Kolchoseigentum durch Kolchosmitglieder, militärische Maßnahmen während der Aussaat und der Einbringung der Ernte, Zwingung der Einzelbauern, den Kolchosen Pferden abzutreten, das Passsystem, die politischen Abteilungen in den Kolchosdörfern, usw., usw.).

Der Parallelismus zwischen dem Schicksal des Geldes und des Staates steht hier in einer neuen und grellen Beleuchtung vor uns. Die Missverhältnisse in der Wirtschaft führen die Bürokratie auf den Weg der steigenden Papiergeldinflation. Die Unzufriedenheit der Massen mit den materiellen Ergebnissen der wirtschaftlichen Missverhältnisse stößt die Bürokratie auf den Weg des nackten Zwanges. Die Wirtschaftsplanung macht sich von der Wertkontrolle frei, wie das bürokratische Gutdünken sich von der politischen Kontrolle frei macht. Die Leugnung „objektiver Ursachen", d. h. materieller Grenzen für das Anpeitschen der Tempi sowie das Abgehen von der Geldgrundlage für das Sowjetgeld stellen zwei „theoretische" Wahnsinnsträume bürokratischen Subjektivismus dar.

Wenn das heutige sowjetische Geldsystem auch abstirbt, so doch nicht im sozialistischen, sondern im kapitalistischen Sinne: in der Form der Inflation. Das Geld wird nicht zu einem nützlichen Werkzeug der Planwirtschaft, sondern zum Werkzeug ihrer Zersetzung. Man kann sagen, dass auch die Diktatur des Proletariats abstirbt in der Form der bürokratischen Inflation, d.h. der äußersten Aufblähung von Gewalt, Repressalien und Willkür. Die Diktatur des Proletariats löst sich nicht in der klassenlosen Gesellschaft auf, sondern entartet zur Allmacht der Bürokratie über die Gesellschaft.

In der Sphäre der Geldinflation wie auch der bürokratischen Willkür kommt die ganze Falschheit der Politik des Zentrismus auf dem Gebiet der Sowjetwirtschaft wie auch auf dem Gebiet der internationalen proletarischen Bewegung zum Ausdruck. Das stalinistische System ist restlos erschöpft und verurteilt. Sein Zusammenbruch nähert sich mit einer ebensolchen Unabwendbarkeit, wie sich der Sieg des Faschismus in Deutschland näherte. Aber der Stalinismus steht nicht allein da: wie eine Schmarotzerpflanze hat er sich um den Stamm der Oktoberrevolution gewunden. Der Kampf um die Rettung der Diktatur des Proletariats ist nicht zu trennen vom Kampf gegen den Stalinismus. Dieser Kampf tritt in ein entscheidendes Stadium ein. Die Lösung rückt näher. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Oktoberrevolution wird sich zu verteidigen wissen.

Prinkipo, 29. April 1933

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