Leo Trotzki: An der Reihe ist Österreich [Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 2 (Anfang April 1933), S. 3 und Nr. 3 (Mitte April 1933), S. 4 und nach Schriften über Deutschland, Band 2, S. 503-513] Der österreichische „Bonapartismus" Die Lage in Österreich unterscheidet sich qualitativ nicht von der Lage in Deutschland, nur bleibt sie dieser gegenüber in ihrer Entwicklung zurück. Nachdem das politische Leben Österreichs unter die Presse des faschistischen Umsturzes in Deutschland geraten ist, nähert sich die Entscheidung in Österreich nicht nur mit jedem Tage, sondern mit jeder Stunde. Österreich macht eine Periode durch, die analog ist der Periode Brüning-Papen-Schleicher in Deutschland oder der Periode Held in Bayern, d. i. eine Periode der halb bonapartistischen Diktatur, die sich hält durch gegenseitige Neutralisierung des proletarischen und des faschistischen Lagers. Wir geben auch für Österreich der Bezeichnung Bonapartismus (entgegen allerlei anderen, lediglich umschreibenden, nichts sagenden Definitionen wie Klerikalfaschismus u. ä.) den Vorzug als einer Benennung, die sehr klar die Physiognomie einer Regierung charakterisiert, die zwischen zwei unversöhnlichen Lagern laviert und in immer größerem Ausmaße gezwungen ist, die unter den Füßen schwindenden sozialen Stützpunkte durch den militärisch-polizeilichen Apparat zu ersetzen.* In der Tendenz zum Bonapartismus äußert sich das Bestreben der besitzenden Klassen, mit Hilfe von militärisch-polizeilichen Maßnahmen, die durch Paragraphen, aus der Reserve der demokratischen Verfassung gedeckt werden, den offenen Bruch mit der Legalität, eine lange Periode des Bürgerkrieges und einer blutigen faschistischen Diktatur zu vermeiden. Es kommen historische Epochen vor, wo die soziale Basis einer „über den Klassen stehenden" Regierung auf Kosten der äußersten Flügel der Gesellschaft wächst – dann vermag der Bonapartismus einer ganzen geschichtlichen Epoche seinen Stempel aufzudrücken. Der österreichische „Bonapartismus" von heute kann – ähnlich wie der gestrige deutsche – nur episodischen Charakter haben, indem er die kurze Frist zwischen dem Regime der Demokratie und dem Regime des Faschismus ausfüllt. Freilich haben die „Bonapartisten" in Österreich eine breitere parlamentarische Grundlage und die Faschisten sind unvergleichlich schwächer als in Deutschland. Aber erstens gehen die Christlichsozialen zurück, während die Nazis rasch wachsen; zweitens steht im Rücken der Nazis das faschistische Deutschland. Die Frage wird durch die Dynamik entschieden. Die theoretische Analyse wie auch die frische Erfahrung mit Deutschland sprechen gleicherweise dafür, dass sich die Wiener polizeilich-bürokratische Diktatur nicht lange wird halten können. Die Dinge streben rasch der Entscheidung zu. Die Macht werden entweder die Faschisten oder die Arbeiter ergreifen müssen. 1{Die Möglichkeit eines Aufschubs Wir wissen nicht, was hinter den Kulissen vorgeht. Aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Regierungen der Länder, die Österreich umgeben und unterdrücken, alles in Bewegung gesetzt haben. Nicht eine dieser Regierungen, nicht einmal die italienische, hat ein Interesse daran, dass die Macht in Österreich in die Hände der Faschisten übergeht. Die Führer der österreichischen Sozialdemokratie sehen in diesem Umstand zweifellos den Haupttrumpf all ihrer Spiele: Der finanzielle und sonstige Druck der Länder der früheren Entente ist in ihren Augen dazu berufen, die revolutionäre Aktivität des österreichischen Proletariats zu ersetzen. Diese Berechnung erweist sich als die fehlerhafteste. Die Feindseligkeit der Siegermächte gegen den Nationalsozialismus erwies sich als einer der Gründe für sein explosionsartiges Anwachsen in Deutschland. Je mehr die österreichische Sozialdemokratie sich mit der Politik Frankreichs und der Kleinen Entente verbinden wird, deren Aufgabe darin besteht, Österreich im Zustand der „Unabhängigkeit" zu erhalten, das heißt der Isolierung und Machtlosigkeit, umso mehr wird der Faschismus in den Augen der kleinbürgerlichen Massen als die Partei der nationalen Befreiung erscheinen. Auf diesem Wege könnte nur das bewaffnete Eingreifen der Entente, die direkte Okkupation den Faschismus an der Machtergreifung hindern. Aber hier mündet die Frage nach Österreich in die Frage nach dem faschistischen Deutschland ein. Wenn Hitler einen modus vivendi mit Frankreich findet – und daran ist kaum zu zweifeln –, dann wird Frankreich auch einen modus vivendi mit dem faschistischen Österreich finden. In beiden Fällen natürlich auf dem Rücken des deutschen und österreichischen Proletariats. Glauben, dass das faschistische Österreich sofort die Grenzen durchbrechen werde, die es von dem faschistischen Deutschland trennen, würde bedeuten, dass man den „nationalen" Phrasen zu viel Bedeutung beimisst und die Fähigkeit des Faschismus unterschätzt, sich vor denen, die stärker als er sind, zu ducken. Man kann mit Sicherheit sagen, dass von allen strategischen Erwägungen die aller unglücklichste, erniedrigendste und verderblichste für das Proletariat die Spekulation auf das Mitwirken der imperialistischen Regierungen der Österreich umgebenden Länder ist.} Sogar wenn man annimmt, dass infolge der traditionellen Schlaffheit aller österreichischen Parteien, sowie auch unter der Einwirkung äußerer und zeitlich beschränkter Ursachen (Druck Frankreichs und der Kleinen Entente, Angst der Hitlerleute, die Dinge schon jetzt dem Ende zuzuführen) die Entscheidung vermittels irgendeines faulen austro-bonapartischen Kompromisses auch diesmal noch hinausgezögert wird, so könnte diese Verschiebung nur einen äußerst hoffnungslosen und kurzfristigen Charakter haben. Der aufgehaltene Prozess würde schon im Verlaufe der nächsten Monate oder auch Wochen mit verdoppelter Kraft und in verzehnfachtem Tempo hervorbrechen. Seine Politik auf Bremsen, auf Maskierung, auf Ausfüllung von Breschen, auf kleine politische Moratorien zu bauen, würde für das Proletariat bedeuten, dem bislang noch schwachen österreichischen Faschismus die Möglichkeit zu geben, seine räuberische Mission etappenweise zu verwirklichen. „Kampf um die Demokratie" Otto Bauer beschränkt sich auf hohles Moralisieren über die „Vorzüge" der bürgerlichen Demokratie gegenüber der faschistischen Diktatur. Als ob der Kampf zwischen zwei Schulen des Staatsrechts geführt würde! Engels hat nicht schlecht gesagt, dass jeder Staat auf bewaffnete Menschengruppen mit materiellen Anhängseln wie Gefängnisse u. ä. hinausläuft. Dieses „Wesen" des Staates wurde jetzt in Österreich bis zum Letzten enthüllt. Der bisher während einer Reihe von Jahren auf den Grundlagen der Demokratie vor sich gehende politische Kampf ist auf einmal unmittelbar beim Zusammenstoß bewaffneter Abteilungen angelangt. Man muss die Tatsache klar und deutlich beim Namen nennen und aus ihr alle notwendigen praktischen Schlussfolgerungen ziehen. Stattdessen fordern von uns die österreichischen Sozialdemokraten, anzuerkennen, dass der Kampf „um die Demokratie" geführt wird. Als ob das jetzt die Frage wäre! Es versteht sich, dass wir uns nicht anschicken, hinsichtlich der theoretischen und historischen Bewertung der Demokratie den Austromarxisten die geringsten Zugeständnisse zu machen. In der Tat: Wenn die Demokratie über dem sozialen Regime stände, aus dem sie geboren wurde; wenn sie fähig wäre, die bürgerliche Gesellschaft in die sozialistische umzugestalten, so müssten sich diese ihre Eigenschaften vor allem in Österreich offenbaren, wo die Konstitution von der Sozialdemokratie geschaffen wurde, wo das Proletariat die entscheidende Kraft der Nation und die Sozialdemokratie – die entscheidende Kraft im Proletariat darstellt. Indessen das, was Österreich in Wirklichkeit erlebt, zeigt, dass die Demokratie Fleisch vom Fleische des Kapitalismus ist und mit ihm zusammen zerfällt. Irgendeine andere Einschätzung können die Herren Demokraten von uns nicht erwarten. Wir begreifen jedoch andererseits allzu gut, dass die theoretische Diagnose allein absolut nicht dazu ausreicht, die Demokratie durch das Sowjetregime zu ersetzen. Es handelt sich um die lebendige Erkenntnis der Klasse selbst. Wenn im Prozess des gemeinsamen Kampfes gegen die Faschisten die Mehrheit des Proletariats erfasst, dass die Sowjetdiktatur notwendig ist, so wird es bei den Kommunisten kein Zögern geben. Aber wenn ungeachtet aller gewonnenen Erfahrungen die Mehrheit der Arbeiter auch nach der Zertrümmerung der Kräfte der Gegenrevolution noch einmal einen Versuch mit der formalen Demokratie machen will, so werden die Kommunisten genötigt sein, sich in der Rolle der Opposition auf die gleiche Grundlage zu stellen. Heute jedenfalls folgt die überwiegende Mehrheit der österreichischen Arbeiter der Sozialdemokratie. Das bedeutet, dass von der revolutionären Diktatur als aktueller Aufgabe auch nicht die Rede sein kann. Nicht die Antithesis der bürgerlichen Demokratie und der Sowjetdemokratie steht jetzt auf der Tagesordnung, sondern die Antithesis der bürgerlichen Demokratie und des Faschismus. Wir klagen die Austromarxisten nicht deshalb an, dass sie für die Demokratie kämpfen, sondern darum, weil sie für sie nicht kämpfen. Der Kapitalismus nimmt seine Zuflucht zum Faschismus nicht aus Grillenhaftigkeit, sondern kraft der Ausweglosigkeit. Wenn die Sozialdemokratie nur fähig ist, zu kritisieren, zu murren, zu bremsen, zu drohen und abzuwarten, aber nicht fähig, die Geschicke2 der Gesellschaft in ihre eigenen Hände zu nehmen, wenn es um Leben und Tod der Nation und ihrer Kultur geht, so wird diese Partei, welche die Hälfte der Nation vertritt, selbst zu einem Werkzeug des sozialen Zerfalls und zwingt die Ausbeuterklassen, die Rettung im Faschismus zu suchen. Unter Benützung der alten Gegenüberstellung der Ermattungsstrategie und der Niederwerfungsstrategie ist es nötig zu sagen, dass die Anwendung der Ermattungsstrategie, die unter gewissen Bedingungen ihre Berechtigung hatte, gegenwärtig, wo dem Kapitalismus nichts übrig bleibt als die Niederwerfungsstrategie, undenkbar ist. Die reformistische Strategie ermattet jetzt nicht den Klassenfeind, sondern das eigene Lager. Die Politik Otto Bauers und Co. führt schicksalsmäßig zum Siege der Faschisten, mit den geringsten Opfern und Schwierigkeiten für diese, mit den größten Opfern und dem größten Elend für das Proletariat. Der Austromarxismus narkotisiert das Proletariat Ungeachtet der Erfahrungen in Italien und Deutschland verstehen die Führer der österreichischen Sozialdemokratie nicht die Lage. Um zu leben und zu atmen, müssen diese Leute sich selbst betrügen. Sie können das nur tun, indem sie das Proletariat betrügen. Die Schuld an der Niederlage in Deutschland schiebt Bauer den Kommunisten zu. Es ist nicht an uns, die Politik der deutschen Stalinisten zu verteidigen! Aber ihre hauptsächliche Schuld besteht darin, dass sie der Sozialdemokratie die Möglichkeit gegeben haben, trotz allen von ihr begangenen Verbrechen und allem von ihr begangenen Verrat sich ihren Einfluss auf den entscheidenden Teil des Proletariats zu bewahren und diesem die Taktik der schändlichen und verhängnisvollen Kapitulation aufzudrängen. Die Politik Bauers unterscheidet sich dem Wesen nach nicht von der Politik Wels'-Stampfers. Aber ein Unterschied besteht: Bauer kann die Verantwortung nicht auf die österreichischen Stalinisten abwälzen, die es zuwege gebracht haben, sich zu völliger Kraftlosigkeit zu verurteilen. Die österreichische Sozialdemokratie ist nicht nur die führende Partei des Proletariats, sondern im Verhältnis zur Bevölkerung ist sie auch die stärkste sozialdemokratische Partei der Welt. Die politische Verantwortung liegt voll und ganz bei der österreichischen Sozialdemokratie. Umso verheerender werden sich die Folgen ihrer vernichtenden Politik erweisen. Die Austromarxisten sagen: Wenn man uns der Freiheit entledigt, so werden wir „bis zum Ende" kämpfen. Durch solche Ausflüchte und Verklausulierungen wollen sie Zeit für ihre Schwankungen „gewinnen". In Wirklichkeit verlieren sie die kostbarste Zeit für die Vorbereitung der Abwehr und Verteidigung. Nachdem der Feind die Freiheit geraubt haben wird, wird es sich hundertmal schwerer kämpfen, denn die Liquidierung der Freiheiten wird von der militärisch-polizeilichen Zertrümmerung der proletarischen Presse und des proletarischen Apparats begleitet sein. Der Feind rüstet und handelt, die Sozialdemokraten warten ab und zetern. Der „Vorwärts" wiederholte auch dutzende Mal: wehe dem Faschismus, wenn er uns anfällt. Die Ereignisse haben den Wert solcher Rhetorik gezeigt. Eine Partei, die sich unfähig erwies zu kämpfen, als sich in ihren Händen fast unerreichbare Positionen und Machtmittel befanden, zerfliegt wie Staub, wenn sie endgültig vom legalen Wege herab gestoßen wird. Durch ihr scheinbar furchterregendes, in Wirklichkeit aber klägliches Lied „Wenn man uns angreift …" enthüllen die Austromarxisten ihre eigentliche Verfassung: Sie hoffen noch immer, dass man sie in Ruhe lassen wird und dass die Dinge, so Gott will, sich auch diesmal auf gegenseitige Drohungen und auf Erheben der Fäuste beschränken werden. Das eben bedeutet, das Proletariat zur Erleichterung der faschistischen Chirurgie zu narkotisieren. Der wahrhaft proletarische Politiker müsste umgekehrt den österreichischen Arbeitern erläutern, dass der Klassenfeind selbst in den geschichtlichen Schraubstock geraten ist, dass es für ihn keinen anderen Ausweg gibt als die Vernichtung der proletarischen Organisationen, dass diesmal der Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich und dass es notwendig ist, zu diesem Kampf nach allen Regeln der revolutionären Strategie und Taktik zu rüsten. Der Generalstreik Otto Bauer deutet an, dass die Arbeiter im Falle eines direkten Angriffs seitens des Feindes zum Generalstreik greifen werden. Aber das ist nur eine leere Drohung. In Deutschland haben wir sie mehr als einmal gehört. Ein Generalstreik lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln. Man kann die Arbeiter zum Generalstreik hinführen, aber dazu ist notwendig, nicht mit der Wirklichkeit Verstecken zu spielen, sondern zu kämpfen, zum Kampf aufzurufen, zum Kampf zu organisieren, zum Kampf zu bewaffnen, die Kampfsphäre zu erweitern und zu vertiefen, sich nicht auf die legalen Kampfformen, d.h. auf die Schranken, die der bewaffnete Feind diktiert, zu beschränken. Vor allem muss die Partei selbst durch und durch von dem Gedanken durchdrungen sein, dass sie ohne Entscheidungskampf zugrunde ginge. Es kann sehr leicht dazu kommen, dass das ZK, nachdem der „offene", d.i. der entscheidende Schlag geführt worden ist, wirklich zum Generalstreik auffordert. Aber das würde bedeuten, von der Szene abtretend die Massen zu einem leeren Proteste oder einer Manifestation der Kraftlosigkeit aufzufordern. So forderte die liberale Opposition, wenn sie der Monarch zum Teufel schickte, das Volk auf, keine Steuern zu zahlen. Dabei ist gewöhnlich nie etwas herausgekommen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Arbeiter auf die verspätete und hoffnungslose Parole der schon vernichteten Partei überhaupt nicht reagieren würden. Aber nehmen wir an, dass die Faschisten den Sozialdemokraten Zeit lassen, im letzten Augenblick zum Generalstreik aufzurufen, und dass die Arbeiter ihrem Ruf solidarisch Folge leisten. Aber was weiter? Welchen Zweck hat der Generalstreik? Was soll er erreichen? In welchen Formen soll er verlaufen? Wie soll er sich vor den militärisch-polizeilichen Repressalien und der faschistischen Vernichtung schützen? Die Gescheiten werden sagen, dass man eine solche Frage nicht im Vorhinein beantworten kann. Das ist gewöhnlich die Ausflucht von Leuten, die nichts zu sagen haben, die innerlich hoffen, ohne Kampf auszukommen, und die sich deshalb entsetzt und abergläubisch gegen die Fragen nach den Mitteln und Methoden des Kampfes wehren. Der Generalstreik ist nur die Mobilisierung der revolutionären Kräfte, aber noch nicht der Krieg. Mit Erfolg zum Generalstreik als einer Demonstration oder Drohung zu greifen, d.h. sich bloß auf die Mobilisierung allein zu beschränken, ohne Kampf, war nur unter scharf umrissenen historischen Bedingungen möglich: Wenn es sich um eine zwar ernste, aber doch nur um eine Teilaufgabe handelte, wenn der Feind schwankte und nur auf einen Anstoß wartete, um den Rückzug anzutreten, wenn den besitzenden Klassen noch ein großes Feld zum Rückzug und zum Manövrieren verblieb. Nicht aber jetzt, wo alle Widersprüche die höchste Spannung erreicht haben und jeder ernste Konflikt das Problem der Macht und die Perspektive des Bürgerkrieges auf die Tagesordnung stellt. Der Generalstreik konnte sich als hinlängliches Mittel zur Abwehr eines gegenrevolutionären Umsturzes erweisen nur bei Unvorbereitetheit des Gegners, dem es an Kraft und Erfahrung mangelte (Kapp-Putsch). Aber auch in diesem Falle stellte der Generalstreik, nachdem er den abenteuerlichen Vorstoß zurückgeschlagen hatte, nur die Lage wieder her, die am Vorabend des Konflikts bestanden hatte, und eröffnete folglich dem Feinde die Möglichkeit, die Lehre aus der eigenen Niederlage zu ziehen und sich für eine neue Aktion besser vorzubereiten. Der Generalstreik erweist sich jedoch als völlig unzulänglich selbst zu defensiven Zielen, wenn der Feind stark ist und Erfahrung besitzt, umso mehr wenn er sich auf den Staatsapparat stützt oder sich auch nur dessen wohlwollender „Neutralität" erfreut. Welche auch die Ursache ist, von wo der Konflikt seinen Ausgang nimmt, der Generalstreik schließt unter den gegenwärtigen Bedingungen die Reihen der bürgerlichen Parteien, des Staatsapparates und der faschistischen Banden, und in dieser Einheitsfront der Bourgeoisie gewinnen das Übergewicht unvermeidlich die extremsten und entschlossensten Elemente, d.h. die Faschisten. Angesichts eines Generalstreiks wird die Gegenrevolution gezwungen sein, alle ihre Kräfte aufs Spiel zu setzen, um die drohende Gefahr mit einem Schlag zu brechen. Insolange der Generalstreik nur ein Streik bleibt, verurteilt er sich unter diesen Bedingungen unausweichbar zur Niederlage. Um den Sieg zu erringen, muss die Streikstrategie in die Strategie der Revolution hinüber wachsen, sich auf die Höhe der entscheidenden Ereignisse erheben, auf jeden Schlag mit doppeltem Schlage antworten. Mit anderen Worten: Unter den jetzigen Bedingungen kann der Generalstreik nicht selbstgenügsames Mittel zur Verteidigung der leblosen Demokratie, sondern nur eines der Werkzeuge im kombinierten Kampfe zweier Lager sein. Der Streik muss begleitet und ergänzt werden durch Bewaffnung der Arbeiter, Entwaffnung der faschistischen Banden, Beseitigung der Bonapartisten von der Macht, Erfassung des materiellen Staatsapparates. Wir wiederholen nochmals: wenn das Sowjetregime nicht ohne Ergreifung der Macht durch die Kommunistische Partei realisiert werden kann – und wir geben zu, dass dies in der nächsten Periode infolge des ungünstigen Kräfteverhältnisses vollkommen ausgeschlossen ist –, so ist die Wiederherstellung der Demokratie, sogar nur provisorisch, in Österreich schon nicht mehr denkbar ohne vorherige Eroberung der Macht durch die Sozialdemokratie. Wenn der führenden Arbeiterpartei die Bereitschaft fehlt, den Kampf bis zu Ende zu führen, so kann der Generalstreik, indem er die Lage verschärft, die Niederwerfung des Proletariats nur beschleunigen. Der Austro-Philister wird sich an diese Worte klammern, um hier sofort Schlussfolgerungen zugunsten der „Gemäßigtheit" und der „Vorsicht" zu ziehen: Ist es für die Partei zulässig, ein so grandioses „Risiko" auf sich zu nehmen, das mit revolutionären Kampfmethoden verknüpft ist? Als ob das österreichische Proletariat freie Wahl hatte. Wie wenn Millionen von Arbeitern nach dem Beispiel Otto Brauns in die Schweiz zur Erholung fahren könnten. Als wenn die Klasse tödlicher Gefahr ohne jegliche Gefahr entrinnen könnte. Wie wenn die Opfer der Faschisierung Europas mit der Konsequenz neuer imperialistischer Kriege nicht hundertmal die Opfer aller Revolutionen, der vergangenen wie der zukünftigen, überträfen. Der Schlüssel zur Lage ist jetzt in den Händen des österreichischen Proletariats Otto Bauer hat mit begeistertem Staunen die Tatsache begrüßt, dass die deutschen Arbeiter, ungeachtet der Einstellung der Zeitungen usw., bei den Wahlen der Sozialdemokratie sieben Millionen Stimmen gegeben haben. Diese Leute glauben, dass das Empfinden und Denken des Proletariats durch ihre Artikelchen zustande kommt. Sie haben den Marxismus und die Geschichte Europas studiert, aber sie haben nicht den geringsten Begriff davon, welche unerschöpflichen Quellen von Kraft, Enthusiasmus, Hartnäckigkeit und schöpferischer Fähigkeit das Proletariat zu erschließen imstande ist, wenn es eine nur einigermaßen der historischen Lage entsprechende Führung hat. Ist es denn jetzt nicht klar, dass beim Vorhandensein einer weitsichtigen revolutionären Politik von oben die deutschen Arbeiter schon längst die Hindernisse auf dem Wege zu ihrer Herrschaft beseitigt hätten, dazu mit unermesslich und unvergleichlich geringeren Opfern, als es die unausbleiblichen Opfer des faschistischen Regime sind? Das gleiche muss auch vom österreichischen Proletariat gesagt werden. Die Einheitsfrontpolitik ist jetzt, wie sich versteht, auch für Österreich verbindlich. Aber die Einheitsfront ist kein Spielzeug: Alles liegt an dem Inhalt der Politik, an den Losungen, an den Methoden der Aktion der Massen. Unter der Bedingung völliger gegenseitiger Freiheit der Kritik – und diese Bedingung ist unabänderlich – müssen die Kommunisten bereit sein, mit der Sozialdemokratie eine Vereinbarung für die bescheidensten Massenaktionen zu treffen. Aber die Kommunisten selbst müssen sich dabei klar Rechenschaft geben über die von dem Gang der Entwicklung gestellten Aufgaben, um an jeder Etappe die Nichtübereinstimmung zwischen dem politischen Ziel und den reformistischen Methoden aufzuzeigen. Die Einheitsfront kann nicht bloße Summierung der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter sein, denn außerhalb des Rahmens dieser zwei Parteien und des Rahmens der Gewerkschaften stehen noch die katholischen Arbeiter und die unorganisierten Massen. Keine einzige der alten Organisationsformen, die vom Konservatismus und vom Erbe der Zusammenstöße der Vergangenheit belastet sind, kann den jetzigen Aufgaben der Einheitsfront Genüge leisten. Eine wirkliche Mobilisierung der Massen ist nicht denkbar ohne die Schaffung wählbarer Organe, die unmittelbar die Industrie-, Handels- und Transportunternehmen, Schächte und Betriebe, die Arbeitslosen und die zum Proletariat neigenden Zwischenschichten der Bevölkerung vertreten. Mit anderen Worten, die Situation in Österreich wirft die Frage der Arbeiterräte auf, wenn nicht dem Namen, so der Funktion nach. Pflicht der Kommunisten ist es, diese Losung im Prozess des Kampfes beharrlich zu erheben, Der Umstand, dass Österreich staatlich von Deutschland getrennt ist und hinter diesem in seiner inneren Entwicklung zurückbleibt, könnte – bei kühner und mutiger Politik der proletarischen Avantgarde – eine entscheidende Rolle für die Rettung Deutschlands und ganz Europas spielen. Ein proletarisches Österreich würde unverzüglich zum Piemont für das ganze deutsche Proletariat. Der Sieg der österreichischen Arbeiter brächte den deutschen Arbeitern das, was ihnen jetzt fehlt: eine materielle Rückendeckung, einen anschaulichen Aktionsplan, die Siegeshoffnung. Einmal in Bewegung gekommen, würde das deutsche Proletariat sogleich zeigen, dass es unermesslich stärker ist als alle seine Feinde zusammengenommen. Hitler mit seinen 44% menschlichen Kunterbunts sieht viel eindrucksvoller auf der parlamentarisch-demokratischen Tribüne aus als in der Arena der realen Kräfteverhältnisse. Die österreichische Sozialdemokratie hat beiläufig den gleichen Prozentsatz von Stimmen. Aber während sich die Nazis auf soziale Abfälle stützen, die im Leben des Landes eine zweitrangige, in bedeutendem Maße eine parasitäre Rolle spielen, steht hinter der österreichischen Sozialdemokratie die Blüte der Nation. Das wirkliche spezifische Gewicht der österreichischen Sozialdemokratie übertrifft zehnfach das spezifische Gewicht aller deutschen Faschisten. Völlig zu offenbaren vermag dies nur die Aktion. Die Initiative zur revolutionären Aktion kann gegenwärtig nur vom österreichischen Proletariat ausgehen. Was ist dazu nötig? Kühnheit, nochmals Kühnheit und zum wiederholten Male Kühnheit! Verlieren können die österreichischen Arbeiter nichts als ihre Ketten. Erobern aber können sie durch ihre Initiative Europa und die ganze Welt! L. Trotzki Prinkipo, 23. März 1933 * Die „Arbeiter-Zeitung" selbst war von dem Schatten Bonapartes beunruhigt, als sie vom „19. Brumaire Dollfuss'" schrieb, aber bei einer sozialdemokratischen Zeitung ist das nur literarisches Geklingel. Überhaupt würden wir bei den Austromarxisten vergeblich eine klassenmäßige Analyse der Politik suchen. Den Marxismus brauchen sie bloß zur Erklärung der Vergangenheit, in der aktuellen Politik dagegen lassen sie sich von zweitrangigen psychologischen Kombinationen und von der Hoffnung leiten, dass sich alles irgendwie regeln wird. 1 Die folgende Passage in geschweiften Klammern {} fehlt in „Unser Wort“ und ist nach „Schriften über Deutschland“, Band II ergänzt 2 Sowohl „Unser Wort“ als auch „Schriften über Deutschland“ schreiben „Geschichte“. Die Übersetzung der Linksopposition der KPÖ hat „Schicksal“ |
Leo Trotzki > 1933 >