Zentrismus „überhaupt" und Zentrismus der Stalinschen Bürokratie Die Fehler der Kominternführung und damit auch der deutschen Kommunistischen Partei gehören nach Lenins familiärer Terminologie in die Kategorie der «ultralinken Dummheiten». Auch kluge Menschen können Dummheiten begehen, besonders in jugendlichem Alter. Doch darf man mit diesem Recht, wie Heine rät, nicht Missbrauch treiben. Werden politische Dummheiten von bestimmtem Typus systematisch begangen, während längerer Zeit, dabei in wichtigen Fragen, hören sie auf, bloße Dummheiten zu sein und verwandeln sich in eine Richtung. Was ist das für eine Richtung? Welchen historischen Bedürfnissen entspricht sie? Welches sind ihre sozialen Wurzeln? Der Ultraradikalismus hat in verschiedenen Ländern, zu verschiedenen Zeitabschnitten verschiedene soziale Grundlagen. Vollendetster Ausdruck des Ultraradikalismus waren Anarchismus und Blanquismus sowie verschiedene ihrer Abarten, darunter auch eine spätere: der Anarchosyndikalismus. Sozialer Boden dieser vorwiegend in lateinischen Ländern verbreiteten Tendenzen war die alte klassische Kleinindustrie von Paris. Die Dauerhaftigkeit derselben verlieh den französischen Abarten des Ultraradikalismus eine unzweifelhafte Bedeutung und gestattete ihnen bis zu einem gewissen Grade, die Arbeiterbewegung anderer Länder zu beeinflussen. Die Entfaltung der Großindustrie in Frankreich, der Krieg und die russische Revolution haben dem Anarchosyndikalismus das Rückgrat gebrochen. Zurückgeworfen, verwandelte er sich in überlebten Opportunismus. In seinen beiden Stadien hat der französische Syndikalismus den gleichen Joahaux an der Spitze: die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen. Der spanische Anarchosyndikalismus bewahrte den Schein des Revolutionärtums bloß in den Bedingungen des revolutionären Stillstandes. Indem sie alle Fragen auf des Messers Schneide stellte, zwang die Revolution die anarchosyndikalistischen Führer, den Ultraradikalismus von sich zu werfen und ihr opportunistisches Wesen zu enthüllen. Man kann mit Gewissheit annehmen, dass die spanische Revolution die Vorurteile des Syndikalismus aus ihrer letzten lateinischen Zufluchtsstätte vertreiben wird. Anarchistische und blanquistische Elemente durchsetzen auch alle übrigen ultralinken Tendenzen und Gruppierungen. An der Peripherie einer großen revolutionären Bewegung lassen sich stets Erscheinungen von Putschismus und Abenteurertum beobachten, deren Träger bald rückständige, oft halb gewerbliche Schichten der Arbeiterschaft sind, bald intellektuelle Mitläufer. Doch pflegt diese Art Ultraradikalismus sich nie zu selbständiger historischer Bedeutung zu erheben und meist episodischen Charakter anzunehmen. In historisch zurückgebliebenen Ländern, die ihre bürgerliche Revolution unter den Bedingungen einer entwickelten Weltarbeiterbewegung durchzuführen haben, trägt die linke Intelligenz in die halb elementare Bewegung der Massen, vorwiegend der kleinbürgerlichen, die extremsten Losungen und Methoden hinein. Das ist das Wesen kleinbürgerlicher Parteien vom Typus der russischen «Sozialrevolutionäre» mit ihren Tendenzen von Putschismus, individuellem Terror usw. Dank dem Vorhandensein Kommunistischer Parteien im Westen dürften sich selbständige abenteuerliche Gruppen dort kaum zur Bedeutung der russischen Sozialrevolutionäre aufschwingen. Dafür aber können die jungen Kommunistischen Parteien in ihren eigenen Bestand Elemente von Abenteurertum einführen. Was die russischen Sozialrevolutionäre betrifft, so haben sie sich unter dem Einfluss der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in die Partei des imperialistischen Kleinbürgertums verwandelt und der Oktoberrevolution gegenüber eine konterrevolutionäre Haltung eingenommen. Es ist vollkommen augenscheinlich, dass der Ultraradikalismus der heutigen Komintern zu keiner der oben angeführten historischen Typen zählt. Die Hauptpartei der Komintern, die WKP, stützt sich bekanntlich auf das industrielle Proletariat und geht schlecht oder recht von den revolutionären Traditionen des Bolschewismus aus. Die Mehrheit der übrigen Sektionen der Komintern besteht aus proletarischen Organisationen. Spricht nicht schon der Unterschied der Bedingungen in den verschiedenen Ländern, wo gleichermaßen und gleichzeitig die ultralinke Politik des offiziellen Kommunismus wütet, dafür, dass dieser Strömung keine allgemeinen sozialen Wurzeln zugrunde liegen können? Wird doch der ultralinke Kurs dabei ein und desselben «prinzipiellen» Charakters in China wie in Großbritannien durchgeführt. Ist dem aber so, wo also die Enträtselung des neuen Ultraradikalismus suchen? Die Frage wird kompliziert, doch zugleich erhellt durch einen weiteren, äußerst wichtigen Umstand: Ultraradikalismus ist keineswegs der unveränderliche oder wesentliche Charakterzug der heutigen Kominternführung. Der in seinem Grundstock gleiche Apparat hat bis 1928 eine offen opportunistische Politik geführt, die sich in vielen entscheidenden Fragen auf den Geleisen des Menschewismus fortbewegte. Von 1924-27 hatte man Abkommen mit den Reformisten nicht nur für möglich gehalten, sondern überdies auch den Verzicht auf die Selbständigkeit der Partei, die Freiheit der Kritik, sogar auf ihre proletarische Klassenbasis zugelassen.* Es geht somit nicht um eine spezifisch ultralinke Strömung, sondern um den langanhaltenden ultralinken Zickzack einer Strömung, die in der Vergangenheit auch ihre Fähigkeit zu tiefen ultrarechten Zickzacks bewiesen hat. Schon diese äußerlichen Merkmale weisen darauf hin, dass es um Zentrismus geht. Formal und beschreibend ausgedrückt sind Zentrismus alle jene Strömungen im Proletariat und an dessen Peripherie, die sich zwischen Reformismus und Marxismus ausbreiten und zumeist verschiedene Entwicklungsetappen vom Reformismus zum Marxismus bedeuten und umgekehrt. Marxismus wie Reformismus haben eine feste soziale Stütze unter den Füßen. Der Marxismus drückt die historischen Interessen des Proletariats aus. Der Reformismus entspricht der privilegierten Stellung der proletarischen Bürokratie und Aristokratie im kapitalistischen Staate. Der Zentrismus. so wie wir ihn in der Vergangenheit gekannt hatten, besaß keine selbständige soziale Basis und konnte sie nicht besitzen. Die verschiedenen Schichten des Proletariats entwickeln sich auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeiten in der Richtung zur Revolution. In Perioden andauernden industriellen Aufschwungs oder in Perioden politischer Ebbe, nach Niederlagen, wandern verschiedene Schichten des Proletariats politisch von links nach rechts ab, wobei sie mit anderen Schichten zusammenstoßen, die sich erst nach links zu entwickeln beginnen. Verschiedene Gruppen machen bei einzelnen ihrer Entwicklungsetappen halt, finden ihre zeitweiligen Führer, schaffen eigene Programme und Organisationen. Es ist nicht schwer zu begreifen, welch verschiedenartige Tendenzen unter den Begriff «Zentrismus» fallen! Je nach ihrem Ursprung, sozialen Bestand und ihrer Entwicklungsrichtung können verschiedene Gruppierungen in erbittertem Kampfe untereinander stehen, ohne dabei aufzuhören, Variationen des Zentrismus zu sein. Pflegt Zentrismus überhaupt die Funktion der linken Deckung des Reformismus zu erfüllen, so lässt die Frage, welchem der Hauptlager, dem reformistischen oder dem marxistischen, der gegebene zentristische Einschlag angehört, keine allgemein gültige Entscheidung zu. Hier ist es mehr als sonstwo nötig, den konkreten Inhalt des Prozesses und seine inneren Entwicklungstendenzen zu analysieren. So lassen sich manche politischen Irrtümer Rosa Luxemburgs mit hinlänglicher theoretischer Berechtigung als linkszentristisch charakterisieren. Man kann weitergehen und sagen, dass die Mehrzahl der Differenzen Rosa Luxemburgs mit Lenin einen größeren oder kleineren Einschlag nach der Seite des Zentrismus hin bedeuteten. Aber nur die Frechlinge, Ignoranten und Scharlatane der Kominternbürokratie vermögen den Luxemburgismus als historische Strömung zum Zentrismus zu rechnen. Dass die heutigen «Führer» der Komintern, mit Stalin angefangen, theoretisch, politisch und moralisch der großen Revolutionärin nicht einmal bis zu den Knien reichen, muss gar nicht erst gesagt werden. Kritiker, die sich in den Kern der Sache nicht hineingedacht haben, beschuldigten in letzter Zeit den Autor dieser Zeilen mehr als einmal, er treibe Missbrauch mit dem Wort «Zentrismus», indem er allzu verschiedenartige Strömungen und Gruppen innerhalb der Arbeiterbewegung in diese Bezeichnung einbeziehe. In Wirklichkeit ergibt sich die Vielfältigkeit der Typen des Zentrismus, wie bereits aufgezeigt, aus dem Wesen der Erscheinung selbst und keineswegs aus terminologischem Missbrauch. Erinnern wir daran, wie oft die Marxisten, beschuldigt wurden, die verschiedenartigsten und gegensätzlichsten Erscheinungen dem Kleinbürgertum in Rechnung zu stellen. Und tatsächlich muss man der Kategorie «Kleinbürgertum» auf den ersten Blick vollkommen unvereinbare Tatsachen, Ideen u«d Tendenzen zuschreiben. Kleinbürgerlichen Charakter besitzt die Bauernbewegung wie die radikale Strömung in der städtischen Reformation, kleinbürgerlich waren die französischen Jakobiner und die russischen Narodniki; kleinbürgerlich die Proudhonisten, aber auch die Blanquisten; kleinbürgerlich ist die heutige Sozialdemokratie, aber auch der Faschismus; kleinbürgerlich sind: französische Anarchosyndikalisten, «Heilsarmee», Gandhibewegung in Indien usw. usw. Ein noch bunteres Bild ergäbe sich, würden wir auf das Gebiet von Philosophie und Kunst übergehen. Heißt das, dass der Marxismus sich mit terminologischem Spiel befasst? Nein, es bedeutet nur, dass die Kleinbourgeoisie durch außerordentliche Mannigfaltigkeit ihrer sozialen Natur gekennzeichnet ist. Nach unten hin fließt sie mit dem Proletariat zusammen und geht ins Lumpenproletariat über, nach oben geht sie in die kapitalistische Bourgeoisie über. Sie kann sich auf alte Produktionsformen stützen, sich aber auch auf Grundlage der modernen Industrie rasch entfalten (der neue «Mittelstand»). Kein Wunder, wenn sie ideologisch in allen Farben des Regenbogens spielt. Der Zentrismus versieht innerhalb der Arbeiterbewegung in gewissem Sinne die gleiche Rolle wie die kleinbürgerliche Ideologie aller Abarten der bürgerlichen Gesellschaft im Ganzen gegenüber. Der Zentrismus widerspiegelt die Entwicklungsprozesse des Proletariats, sein politisches Wachstum, wie auch seinen revolutionären Verfall im Zusammenhang mit dem Druck aller übrigen Gesellschaftsklassen auf das Proletariat. Kein Wunder, wenn die Palette des Zentrismus sich durch solche Buntheit auszeichnet! Daraus erhellt indes nicht, dass man auf den Begriff des Zentrismus verzichten soll, sondern nur, dass man in jedem einzelnen Falle durch konkrete soziale und historische Analyse das wirkliche Wesen der gegebenen Abart des Zentrismus aufdecken muss. Die leitende Kominternfraktion stellt nicht Zentrismus «überhaupt» dar, sondern eine vollkommen bestimmte historische Formation, die. wenn auch ganz frische, so doch mächtige soziale Wurzeln besitzt. Es handelt sich vor allem um die Sowjetbürokratie. In den Schriften der stalinschen Theoretiker existiert diese soziale Schicht überhaupt nicht. Man redet uns von «Leninismus», von einer körperlosen Führung, von ideologischen Traditionen, vom Geiste des Bolschewismus, der unwägbaren «Generallinie»; davon aber, dass der Beamte, der lebendige, aus Fleisch und Knochen bestehende Beamte diese Generallinie wendet wie der Feuerwehrmann seinen Schlauch, nein, davon hört man kein Wort. Indes ist dieser Beamte am allerwenigsten dem körperlosen Geist ähnlich. Er isst, trinkt, vermehrt sich und schafft sich einen ordentlichen Bauch. Er kommandiert mit schallender Stimme, sondert unten seine getreuen Leute aus, übt Treue der Obrigkeit, verbittet sich Kritik und sieht darin den Wesenskern der Generallinie. Solcher Beamten gibt es einige Millionen – einige Millionen! – mehr als Industriearbeiter während der Oktoberrevolution. Die Mehrzahl dieser Beamten hat nie am Klassenkampf teilgenommen, der mit Opfern und Gefahren verbunden ist. Diese Leute wurden in ihrer überwiegenden Masse bereits als herrschende Schicht geboren. Hinter ihrem Rücken steht die Staatsmacht. Diese sichert ihnen die Existenz und erhebt sie hoch über die umstehende Masse. Sie kennen nicht die Gefahr der Arbeitslosigkeit, wenn sie nur verstehen, die Hände an der Hosennaht zu halten. Die größten Fehler werden ihnen vergeben, wenn sie bereit sind, im nötigen Augenblick den Sündenbock zu spielen und dem nächsten Vorgesetzten die Verantwortung abzunehmen. Also, besitzt diese herrschende Millionenschicht irgendetwas an sozialem Gewicht und politischem Einfluss im Leben des Landes? Ja oder nein? Dass Arbeiterbürokratie und Arbeiteraristokratie die soziale Basis des Opportunismus abgeben, ist aus alten Büchern bekannt. In Russland hat die Erscheinung neue Formen angenommen. Auf den Grundlagen der proletarischen Diktatur in einem zurückgebliebenen Lande – in kapitalistischer Umkreisung, wurde zum ersten Male aus den oberen Schichten der Werktätigen ein mächtiger bürokratischer Apparat geschaffen, der sich über die Masse erhebt, sie kommandiert, ungeheure Vorrechte genießt, durch innere Zirkelbürgschaft verbunden ist. seine besonderen Interessen, Methoden, Griffe in die Politik des Arbeiterstaates hinein trägt. Wir sind keine Anarchisten. Wir begreifen die Notwendigkeit des Arbeiterstaates und folglich auch die historische Unvermeidlichkeit der Bürokratie in der Übergangsperiode. Doch begreifen wir ebenso die in dieser Tatsache begründeten Gefahren, besonders für ein rückständiges, isoliertes Land. Die Idealisierung der Sowjetbürokratie ist der schändlichste Fehler, den ein Marxist begehen kann. Lenin bemühte sich aus allen Kräften darum, dass die Partei als selbständige Avantgarde der Arbeiterklasse sich über dem Staatsapparat erhebe, ihn kontrolliere, überprüfe, ausrichte und säubere, indem sie die historischen Interessen des Proletariats – des internationalen, nicht nur des nationalen – über die Interessen der herrschenden Bürokratie stellt. Als erste Bedingung der Parteikontrolle über den Staat betrachtete Lenin die Kontrolle der Parteimasse über den Parteiapparat. Man lese aufmerksam seine Artikel, Reden und Briefe aus der Sowjetperiode, besonders der letzten zwei Jahre seines Lebens, und man wird sehen, mit welcher Besorgnis sein Gedanke jedes Mal zu dieser brennenden Frage zurückkehrt. Was geschah jedoch in der nachleninschen Periode? Die gesamte führende Partei- und Staatsschicht, welche Revolution und Bürgerkrieg durchgemacht hatte, wurde hinweggefegt, beseitigt, zerschlagen. Ihren Platz hat der unpersönliche Beamte eingenommen. Gleichzeitig wurde der Kampf gegen den Bürokratismus, der unter Lenin, wo die Bürokratie noch kaum den Windeln entwachsen war, so scharfen Charakter hatte, vollständig eingestellt, nun, wo der Apparat bis zum Himmel hoch aufgeschossen war. Wer könnte auch diesen Kampf führen? Die Partei als selbstverwaltende proletarische Avantgarde, gibt es jetzt nicht. Der Parteiapparat ist mit dem staatlichen verschmolzen. Hauptinstrument der Generallinie innerhalb der Partei ist die GPU. Die Bürokratie lässt nicht nur kein kritisches Wort von unten nach oben zu, sie untersagt ihren Theoretikern sogar, von ihr zu sprechen, sie nur zu erwähnen; Der wütende Hass gegen die Linke Opposition wird gerade dadurch hervorgerufen, dass die Opposition offen von der Bürokratie spricht, von ihrer besonderen Rolle, ihren Interessen, und jenes Geheimnis entlarvt, dass die Generallinie untrennbar ist von Fleisch und Blut der neuen nationalen, herrschenden Schicht, die durchaus nicht identisch ist mit; dem Proletariat. Aus dem Arbeitercharakter des Staates leitet die Bürokratie ihre Unfehlbarkeit ab: wie kann die Bürokratie eines Arbeiterstaates entarten! Staat und Bürokratie werden dabei nicht als historische Prozesse, sondern als ewige Kategorien angesehen: Wie können die heilige Kirche und ihre gotterfüllten Priester irren! Konnte aber die Arbeiterbürokratie, die sich über dem kämpfenden Proletariat in der kapitalistischen Gesellschaft erhoben hatte, in die Noske, Scheidemann, Ebert und Wels entarten, warum kann sie nicht entarten, wo sie sich über ein siegreiches Proletariat erhebt? Die herrschende und unkontrollierte Stellung der Sowjetbürokratie züchtet eine Psychologie hoch, die in Vielem der Psychologie des proletarischen Revolutionärs direkt entgegengesetzt ist. Ihre Berechnungen und Kombinationen in der inneren wie der internationalen Politik stellt die Bürokratie über die Aufgaben der revolutionären Massenerziehung und außerhalb jeder Verbindung mit den Aufgaben der internationalen Revolution. Während einer Reihe von Jahren hat die Stalinfraktion bewiesen, dass ihr Interessen und Psychologie des «starken Bauern», des Ingenieurs. Administrators, der chinesischen bürgerlichen Intellektuellen, britischen Trade-Union-Beamten näher und begreiflicher geworden waren als Psychologie und Bedürfnisse des einfachen Arbeiters, der Bauernarmut, der aufständischen chinesischen Volksmassen, der englischen Streikenden usw. Warum aber ist dann die Stalinfraktion auf der Linie des nationalen Opportunismus nicht bis zu Ende gegangen? Darum, weil sie die Bürokratie eines Arbeiterstaates ist. Beschirmt die internationale Sozialdemokratie die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft, so ist die Sowjetbürokratie, ohne einen Staatsstreich durchgeführt zu haben, gezwungen, sich den durch die Oktoberrevolution gelegten sozialen Grundlagen anzupassen. Daher das Doppelwesen von Psychologie und Politik der stalinschen Bürokratie. Zentrismus, aber ein Zentrismus auf dem Fundament des Arbeiterstaates, ist der einzig mögliche Ausdruck dieses Doppelwesens. Haben in den kapitalistischen Ländern zentristische Gruppierungen meist zeitweiligen Übergangs-Charakter als Widerspiegelung der Evolution bestimmter Arbeiterschichten nach rechts oder links, so erhielt in den Bedingungen der Sowjetrepublik der Zentrismus ein weitaus festere und organisiertere Basis in Gestalt der Millionenbürokratie. Während sie ein natürliches Milieu opportunistischer und nationaler Tendenzen darstellt, ist sie indes gezwungen, die Grundlagen ihrer Herrschaft im Kampfe gegen den Kulaken zu verteidigen und gleichzeitig um ihr «bolschewistisches» Prestige in der Weltarbeiterbewegung zu sorgen. Nach dem Versuch, der Kuomintang und der Amsterdamer Bürokratie nachzujagen, die ihr geistig in Vielem nahesteht, trat die Sowjetbürokratie jedes Mal in scharfen Konflikt mit der Sozialdemokratie, die die Feindseligkeit der Weltbourgeoisie zur Sowjetunion widerspiegelt. Das sind die Quellen des jetzigen linken Zickzacks. Die Eigenartigkeit der Lage besteht nicht darin, dass die Sowjetbürokratie mit einer besonderen Immunität gegen Opportunismus oder Nationalismus versehen wäre, sondern darin, dass sie, der Möglichkeit bar, eine abgeschlossene nationalreformistische Position zu beziehen, gezwungen ist, Zickzacks zwischen Marxismus und Nationalreformismus zu beschreiben. Die Schwankungen dieses bürokratischen Zentrismus haben, entsprechend seiner Macht, seinen Hilfsquellen und den scharfen Widersprüchen seiner Lage, ein ganz unerhörtes Ausmaß erreicht: von ultralinken Abenteuern in Bulgarien und Estland – zum Bündnis mit Tschiang Kai-schek, Raditsch und Purcell; von der schändlichen Verbrüderung mit den britischen Streikbrechern – zum völligen Verzicht auf die Einheitsfront mit Massengewerkschaften Ihre Methoden und Zickzacks überträgt die stalinsche Bürokratie auf andere Länder, soweit sie durch den Parteiapparat die Kommunistische Internationale nicht nur führt, sondern kommandiert. Thälmann war für die Kuomintang, als Stalin für die Kuomintang war. Auf dem VII. EKKI-Plenum, Herbst 1926, trat der Kuomintangdelegierte, Abgesandter Tschiang Kai-scheks, namens Schaolitsi in Einmütigkeit mit Thälmann, Semard und all den Remmele gegen den «Trotzkismus» auf. «Genosse» Schaolitsi sagte: «Wir sind alle überzeugt, dass unter Führung der Komintern die Kuomintang ihre historische Aufgabe erfüllen wird» (Russ. Prot. I. Band, S. 459). Das ist der historische Tatbestand! Nehmt «Die Rote Fahne» vom Jahre 1926 und ihr werdet dort eine Menge Artikel über das Thema finden, Trotzki beweise durch die Forderung nach dem Bruch mit dem britischen Generalrat der Streikbrecher seinen … Menschewismus! Heute aber besteht der «Menschewismus» schon in der Verteidigung der Einheitsfront mit Massenorganisationen, d.h. der Durchführung jener Politik, die unter Lenins Leitung vom III. und IV. Weltkongress formuliert wurde (gegen alle die Thälmann, Thalheimer, Bela Kun, Frossard usw.). Diese niederschmetternden Zickzacks wären unmöglich, hätte sich nicht in allen nationalen Sektionen eine selbstgenügsame, d. h. von der Partei unabhängige Bürokratenschicht herausgebildet. Hier liegt die Wurzel des Übels! Die Kraft einer revolutionären Partei besteht in der Selbsttätigkeit der Avantgarde, die ihre Kaders überprüft und aussondert, und – indem sie ihre Führer erzieht – sie allmählich durch ihr Vertrauen an die Spitze erhebt. Dies schafft ein untrennbares Band zwischen Kaders und Massen, zwischen Führern und Kaders und verleiht der gesamten Leitung die innere Selbstsicherheit. Nichts davon in den heutigen Kommunistischen Parteien! Die Führer werden ernannt. Sie wählen ihre Untergebenen aus. Die Mitgliedermasse wird gezwungen, die ernannten Führer zu akzeptieren, um die eine künstliche Reklameatmosphäre geschaffen wird. Die Kaders hängen von der Spitze statt von den unteren Schichten ab. Die Quellen ihres Einflusses, wie auch ihre Existenzquellen suchen sie in hohem Grade außerhalb der Massen. Ihre politischen Losungen beziehen sie nicht aus Kampferfahrung, sondern über die Telegraphenleitung. Gleichzeitig werden in Stalins Archiven für alle Fälle Anklagedokumente aufbewahrt. Jeder der Führer weiß, dass man ihn in einem Augenblick wie Federflaum fortblasen kann. So entsteht in der gesamten Komintern eine abgegrenzte bürokratische Schicht, die den Nährboden für den Bazillus Zentrismus abgibt. Organisatorisch sehr beständig und widerstandsfähig, da auf die Bürokratie des Sowjetstaates gestützt, zeichnet sich der Zentrismus der Thälmann, Remmele und Gebrüder in politischer Hinsicht durch äußerste Labilität aus. Jener Sicherheit bar, die nur von der organischen Verbindung mit den Massen kommen kann, ist das unfehlbare ZK zu den ungeheuerlichsten Zickzacks fähig. Je weniger es für ernste ideologische Kämpfe gerüstet ist, desto freigebiger ist es in Schmähungen, Kriechereien, Verleumdungen. Stalins Bild, nach Lenins Definition «grob» und «illoyal», ist die Personifikation dieser Schicht. Die hier gegebene Charakteristik des bürokratischen Zentrismus bestimmt das Verhältnis der Linken Opposition zur stalinschen Bürokratie: volle und uneingeschränkte Unterstützung, soweit die Bürokratie die Grenzen der Sowjetrepublik und die Grundlagen der Oktoberrevolution verteidigt: offene Kritik, soweit die Bürokratie durch ihre administrativen Zickzacks die Verteidigung der Revolution und des sozialistischen Aufbaus erschwert; unbarmherziger Widerstand, soweit sie durch ihr bürokratisches Kommando den Kampf des Weltproletariats desorganisiert. * Die eingehende Analyse dieses opportunistischen Kapitels der Komintern, das mehrere Jahre währte, s. unsere Arbeiten: «Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale» (Kritik des Programms der Komintern), «Die permanente Revolution», «Wer leitet heute die Komintern?» |
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