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Leo Trotzki 19291107 Vorwort zur deutschen Ausgabe

Leo Trotzki: Vorwort zur deutschen Ausgabe

[Nach der Broschüre „Wer leitet heute die Kommunistische Internationale?“, Verlag der Zeitschrift DIE AKTION (Franz Pfemfert), Berlin-Wilmersdorf 1930]

Seit diese Broschüre geschrieben wurde, die der Charakteristik des Personenbestandes der Kominternleitung gewidmet ist, ist ein Jahr vergangen. In dieser verhältnismäßig kurzen Zeit haben nicht wenige Veränderungen in dem regierenden Apparat der Komintern stattgefunden. Die vorliegende Arbeit ist dennoch nicht veraltet. Es ist ein Ruck der politischen Linie nach links erfolgt. Es hat eine Verschiebung der Personen stattgefunden. Aber das System ist geblieben. Noch mehr: die bösartigsten Eigenschaften des Systems äußern sich jetzt viel krasser als vor einem Jahr.

Den VI. Kongress der Kommunistischen Internationale hat formell Bucharin geleitet. Im Namen des Politbüros der Russischen Kommunistischen Partei wurde allen Delegationen des Kongresses erklärt, es gäbe im russischen Zentralkomitee keine Meinungsverschiedenheiten. Unter der Deckung des offiziellen Kongresses tagte aber gleichzeitig ein zweiter, inoffizieller, oder, wie man ihn nannte, der Korridor-Kongress, auf dem die Vorbereitungsarbeiten für die Absetzung Bucharins und der Rechten überhaupt geleistet wurden. Für die Operation hatte man sich schon während des Kongresses der Mehrheit des Apparates versichert. Dies hinderte die Zeitungen nicht im Geringsten, die „stürmischen Ovationen" zu registrieren, die der Kongress Bucharin nach jeder seiner zahllosen Reden bereitete. Die Zweideutigkeit der bürokratischen Leitung war dabei bis auf die Spitze getrieben. Der ideologische Kampf trat hier auf wie eine musikalische Begleitung zu einer organisatorischen Pantomime. Auf dem Kongress hielt man Reden und in den Korridoren handelte man. Bucharin wurde liquidiert kurze Zeit nach demselben Kongress, auf dem man versicherte, zwischen Stalin und Bucharin bestünden keinerlei Meinungsverschiedenheiten. Nachdem Bucharin organisatorisch erledigt war, begann man, ihm die „theoretischen" Grabesgesänge zu singen: Plötzlich entdeckte man, dass Bucharin, der fünf Jahre lang den Kampf gegen den Trotzkismus theoretisch leitete, in Wirklichkeit sein Lebtag nichts anderes getan hat als sich zu irren. Über dieses Thema schreiben in Moskau jetzt die „roten Professoren", die sich von den weißen, schwarzen und gelben Professoren kaum unterscheiden, Hunderte von Artikeln.

Die neue Staatsumwälzung in der Kommunistischen Internationale hat eine Umgruppierung in der Leitung einer Reihe kommunistischer Parteien hervorgerufen, vor allem in dem Apparat der Komintern selbst. Pepper. der noch vor wenigen Tagen über das Schicksal einiger Parteien entscheiden konnte, ist heute aus der Komintern ausgeschlossen. Ausgeschlossen ist auch der Amerikaner Lovestone. Ausgeschlossen sind die gestrigen Führer der Tschechoslowakei, Schwedens und einer Reihe anderer Länder. Durch wen sind sie ersetzt worden? Durch jene, die unter Sinowjew Sinowjewisten. unter Bucharin Bucharinisten waren und die rechtzeitig Molotowisten geworden sind.

Ja, der Führer der Komintern ist jetzt … Molotow! Er hat auf dem X. Plenum des EKKI die Programmrede gehalten. Wer Molotow kennt, für den genügt allein diese Tatsache (die man nicht anders als einen Alpdruck bezeichnen kann), um den Verfall der heutigen Leitung der Kommunistischen Internationale ermessen zu können. Wer Molotow nicht kennt, für den genügt es. Molotows Rede zu lesen.

Molotow ist zweifellos die vollendetste Verkörperung jener Bürokratie, die mit der Welle der Reaktion 1924-29 emporgekommen und die tief davon überzeugt ist, dass alle Fragen durch finanzielle und administrative Maßnahmen gelöst werden. Diese Herrschaften sind blind in allen grundlegenden Fragen der Weltentwicklung. Sie sind dagegen Meister in der Mechanik der Korridorpolitik. Mit Hilfe der blinden administrativen Macht haben sie bereits mehreren Parteien und einigen Revolutionen das Genick gebrochen.

Nachdem Bucharin aus der Komintern entfernt ist, bleibt kein einziger Mensch mehr übrig, der auch nur die kleinste Beziehung zur Leitung der Internationale in der Epoche ihrer Entstehung und der vier ersten Kongresse gehabt hätte. Dasselbe bezieht sich ausnahmslos auf die nationalen Sektionen der Komintern. Der Bestand der Führung ist hundertprozentig erneuert worden.

Die offizielle Philosophie der Ablösung der Revolutionäre durch Beamte besteht in Folgendem: Da das Sowjetland in eine aufbauende Epoche eingetreten ist, so braucht es Praktiker, sachliche Menschen, – nicht solche, die im Gebiet der „permanenten" Revolution leben, sondern die fest auf dem Boden des nationalen Sozialismus stehen. Das ist die typische Ideologie der Reaktion nach einer stürmischen Vorwärtsbewegung. Durch ihre nationale Beschränktheit bezeugen die Autoren der konstruktiv-bürokratischen Philosophie, ohne es zu wollen und ohne es zu merken, ihre ganze tiefgehende Verachtung für die Kommunistische Internationale. In der Tat: selbst wenn man anerkennen wollte, dass in der Sowjetrepublik die Ablösung des leitenden Personals durch den Übergang vom Kampfe um die Macht zum praktischen Aufbau hervorgerufen wurde, wie ist es dann mit der Komintern bestellt, bei der nicht der sozialistische Aufbau auf der Tagesordnung steht, sondern gerade der Kampf um die Macht? Jedoch wurde in diesen Jahren ausnahmslos in allen Ländern die Führung Stalin angepasst und sogar Molotow. Und die Auslese ist mit solchem Erfolge getroffen worden, dass die Delegierten des X. Plenums des EKKI Molotow nach seiner analphabetesken Rede nicht nur nicht mit Schmach und Schande davon jagten, sondern im Gegenteil ihn mit Beifall belohnten, den die Zeitungen nur aus Vorsicht nicht als Ovationen bezeichnen.

Persönliche Charakteristiken erledigen natürlich die Frage nach den geistigen Richtungen nicht. Im Gegenteil, im Lichte dieser Richtungen erhalten sie erst ihre volle Bedeutung. Um seine schroffe Zickzackpolitik vor inneren Reibungen und Gegenwirkungen zu sichern, muss der bürokratische Zentrismus seine Kaders aus gefügigen, sich leicht anpassenden, rückgrat- und geistlosen oder zynischen Administratoren auswählen. Menschen, die ehrfurchtsvoll und ängstlich jeden Wechsel der Leitung mitmachen, – der sich ohne ihr Zutun, ohne ihr Wissen, hinter ihren Rücken vollzieht – werden niemals die Fähigkeit besitzen, die Arbeitermassen zum Angriff gegen die bürgerliche Gesellschaft zu führen.

Das Problem der Führung ist kein selbständiges Problem. Es ist eng mit der Politik und mit dem ganzen Regime verbunden. Aber es hat trotzdem eine gewaltige Bedeutung. Alle Behauptungen, die Arbeiterklasse könne „ohne Führer" auskommen, entstammen einer unbewussten Idealisierung des Kapitalismus, denn sie setzen voraus, dass in einer Gesellschaft, die auf Lohnsklaverei beruht, die unterdrückteste Klasse der Bevölkerung fähig wäre, sich zu einer solchen politischen Selbständigkeit zu erheben, dass sie einer weitsichtigen, erfahrenen, mutigen und gestählten Führung nicht bedarf. Wäre die bürgerliche Gesellschaft in der Lage, den proletarischen Massen ein solches politisches Niveau zu sichern, wir wären nicht ihre Todfeinde. Andererseits: wäre das Proletariat in seiner Gesamtheit fähig, unter der Herrschaft des Kapitalismus eine solche geistige Höhe zu erreichen, dann wäre es imstande, die Umwälzung der Gesellschaft auf friedlichem Wege zu erreichen.

Die Wirklichkeit ist von solchen Schwärmereien fern wie Himmel von Erde. Gerade um die Volksmassen aus Rückständigkeit und Finsternis zu reißen, ist die Revolution notwendig. Für den Sieg der Revolution ist aber notwendig, dass die unterdrückten Massen ihre Hoffnungen und ihren Kampf mit der Partei verbinden, die sie wiederholt auf die Probe gestellt haben, und mit deren Leitung, die die Massen mit ihrem eigenen Kampfe identifizieren. Weder eine Partei, noch eine Führerschaft kann für die Bedürfnisse der Revolution improvisiert werden. Solche Menschen wie der Pope Gapon, der Advokat Chrustaljew oder der Advokat Kerenski, tauchen auf und verschwinden, wie Schaum im Wasserstrudel. Aber die echte revolutionäre Führung entsteht durch eine lange Auswahl und Erziehung. Das ist ein Problem von größter Wichtigkeit. Ohne seine richtige Lösung kann das Proletariat nicht zum Siege kommen.

Die Frage der personellen Führung ist auf diese Weise untrennbar verbunden mit der Frage der Gesamtrichtung der Politik der Komintern, mit ihren Fähigkeiten, die Lage richtig einzuschätzen, den morgigen Tag vorauszusehen und in jeder Situation das Maximum dessen zu erreichen, was für die Befreiung der Arbeiterklasse zu erobern möglich ist.

Um die führenden Personen zu erneuern, muss man die Politik ändern. Man muss den Zentrismus durch den Marxismus ersetzen. Darin besteht die Aufgabe der internationalen Linken der kommunistischen Opposition.

Prinkipo, den 7. November 1929,

am 12. Jahrestag der Oktoberrevolution.

L. Trotzki

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