Leo Trotzki‎ > ‎1929‎ > ‎

Leo Trotzki 19290925 Offener Brief an die Bolschewiken-Leninisten (Oppositionelle)

Leo Trotzki: Offener Brief an die Bolschewiken-Leninisten (Oppositionelle)

An die Genossen W. Kossior, M. Okudschawa und Ch. Rakowski die die Erklärung an das ZK und die ZKK unterschrieben haben.

[Nach Fahne des Kommunismus. Zeitung der orthodoxen Marxisten-Leninisten, 3. Jahrgang 1929, Nr. 37 (11. Oktober) S. 290 f.]

Werte Genossen!

Ihre „Erklärung" vom 22. August habe ich in Konstantinopel am 22. September erhalten.

Wenn ich auch an der Aufarbeitung Ihrer Erklärung nicht teilgenommen habe und darum auch nicht die Verantwortung für alle Ihre Formulierungen tragen kann, so füge ich ihr doch auch meine Unterschrift hinzu, denn im Grundlegenden steht sie auf der Linie der Bolschewiken-Leninisten (Opposition).

Wir haben immer danach gestrebt, den Mitgliedern der Partei das Recht zu sichern, die tiefen Differenzen seit 1923 im Rahmen einer einigen Partei zu prüfen und zu bewältigen. Wir waren der Meinung, dass beim Vorhandensein einer genügend biegsamen Parteidemokratie und des Gefühls der revolutionären Verantwortung der leitenden Elemente aller Strömungen der Partei man die faktische Prüfung und die Verbesserung der politischen Linie der Partei ohne Erschütterungen, die immer mehr und mehr die Diktatur des Proletariats untergraben, sichern kann. Diese Erwägungen diktierten unsere Erklärungen im Oktober 1926, im Juli 1927, während des 15. Parteitages und endlich während des 6. Kongresses der Komintern Jede dieser Erklärungen bestätigt unsere unerschütterliche Treue den theoretischen und politischen Ideen gegenüber, welche zum Bestandteil der Plattform der Bolschewiken-Leninisten (Opposition) geworden sind, und gleichzeitig gibt sie unsere volle Bereitwilligkeit wieder unseren Kampf um diese Ideen den Statuten und der Disziplin der Partei, die sich auf die proletarische Demokratie stützt, zu unterwerfen.

Diese Erklärungen haben wir gemacht, wie oben gesagt, zu einer Zeit, als die zentristische und rechte Strömung unserer Partei noch einen untrennbaren Block darstellten, da die Plattform der Bolschewiken-Leninisten (Opposition) als ein antiparteiliches Dokument erklärte.

Es ist wohl unnötig, hier zu beweisen, dass alle wichtigen Gegengründe, die von der offiziellen Leitung gegen unsere Plattform gerichtet waren, wenn man sie zusammennimmt sie die Plattform des heutigen rechten Flügels bilden. Ich werde mich hier auch nicht darüber aufhalten, in welchem Maße das Parteiregime durch die Tatsache charakterisiert wird dass die Spaltung der Leitung und die schroffe Änderung des Kurses zwischen zwei Parteitagen und am anderen Tage nach dem Kongress der Komintern stattgefunden haben und in welchem Maße dieser Umstand nicht nur die Festigkeit der Parteipolitik untergräbt, sondern auch die größten Gefahren in sich birgt. In sehr zurückhaltender, aber in sehr unzweideutiger Form spricht davon Ihre Erklärung.

Die Tatsache der Wendung der offiziellen Leitung liegt klar zutage. Seit 1926 haben wir mehr als einmal die Unausbleiblichkeit einer solchen Wendung unter den Schlägen des Klassenkampfes vorausgesagt, der unschwer der Rahmen der rechtszentristischen Politik zerstört hat. Es ist ebenfalls unnütz, hier jene unbestreitbare Tatsache zu beweisen dass wenn der Kampf gegen unsere Plattform mit Beweisen der heutigen rechten Gruppierung geführt worden ist, der offizielle Kampf gegen diese Gruppierung mit Beweisen geführt wird, die voll und ganz unserer Plattform entnommen sind. Unter diesen Umständen sich von diesem Kampfe loszusagen, würde nicht nur bedeuten, dass wir wissentlich ein falsches Verhältnis zu den ideellen Verpflichtungen zeigen, welche die Theorie des Marxismus und die revolutionäre Schule Lenins uns auferlegt hat, sondern würde eine neue ergänzende Wirrnis in das Bewusstsein der Partei hinein tragen, die ohnehin verwirrt und desorientiert ist

Aber es ist ganz klar, dass wenn wir sogar in der Periode des untrennbaren rechtszentristischen Blockes und der faktischen Herrschaft der rechten Ideen auf der ganzen Linie für möglich und für unsere Pflicht gehalten haben, unsere Position neu im Rahmen einer einigen Partei zu vertreten, wir jetzt umso sicherer diese Verpflichtung auf uns nehmen können, wo diese Probleme, die von uns durch politisches Voraussehen aufgerollt worden sind, jetzt offen und gebieterisch durch den Gang des Klassenkampfes aufgestellt werden und schon so bedeutende Umgruppierungen in der Partei hervorgerufen haben. Z. Z. der heftigsten Repressalien und der größten Hetze haben wir erklärt, dass unsere Treue der Partei Lenins und der Oktoberrevolution gegenüber unerschütterlich sei.

Der Marxist muss sich nur in dem Falle weigern, Ihre „Erklärung" zu unterschreiben wenn er zu der Schlussfolgerung kommen, würde, dass der Thermidor schon vollendete Tatsache sei, dass die Partei ein Leichnam sei und dass der Weg zur Diktatur des Proletariats über eine neue Revolution führt. Obgleich man um eine solche Position wohl ein dutzend Mal zugeschrieben hatte, haben wir mit ihr nichts gemeinsames. Darum ist die Erklärung vom 12. August eine natürliche Etappe auf dem politischen Weg der Opposition.

Wenn jedoch die formelle Trennung des Zentrums von den Rechten, der Ruck der offiziellen Leitung nach links und die breite Ausnutzung der Ideen und Losungen unserer Plattform im Kampf gegen die Rechten rein theoretisch genommen die Wiederherstellung der Einheit der Partei auf leninistischer Grundlage außerordentlich erleichtern müsste, so gibt leider die reale Lage keine Gründe zu optimistischen Schlussfolgerungen in Bezug auf die nächste Zukunft. Die Tatsache, dass viele Ideen, Losungen und Formulierungen unserer Plattform jetzt das offizielle Eigentum der Partei geworden sind, ist kein Hindernis, dass die Verfasser und Verteidiger der Plattform in den Gefängnissen und in der Verbannung bleiben. Wenn die jetzige Wendung der Leitung die grundlegenden Differenzen beseitigen würde, so würde das der Leitung ebenso klar kein wie uns. In diesem Falle würden die Repressalien der Opposition gegenüber ganz und gar unerklärlich sein, wenn man sie nicht einfach als bürokratisches Banditentum qualifizieren würde. Aber wir haben eine solche Bewertung weit von uns gewiesen und weisen sie auch heute von uns. Die Leitung verstärkt die Repressalien, weil die Übereinstimmung vieler äußerst wichtiger praktischer Maßnahmen seiner heutigen Politik mit den Losungen und Formulierungen unserer Plattform die Frage über die Verschiedenheit der theoretischen Vorbedingungen, von denen die Leitung und die Opposition in den Tagesfragen ausgehen, weiter bestehen. Die Leitung, die sogar offiziell eine Reihe unserer taktischen Schlussfolgerungen sich angeeignet hat, vertritt noch immer jene strategischen Vorbedingungen, aus denen die rechtszentristische Taktik des gestrigen Tages entstanden war. Hieraus folgt die Unruhe und das Misstrauen in Bezug auf den morgigen Tag von beiden Seiten.

Sie halten es für möglich, auf sich die Pflicht der Unterwerfung unter die Parteidisziplin zu nehmen, da sie nicht im Zweifel sind, dass unsere theoretische Kritik den Tatsachen helfen wird, die unrichtigen strategischen Prinzipien zu liquidieren, wie sie schon geholfen hat, eine Reihe von falschen taktischen Schlussfolgerungen zu liquidieren. Aber gerade aus diesem Grunde wird sich die Leitung mit verdoppelter Kraft gegen die Rückkehr der Opposition in die Reihen der Partei stemmen.

Sie weiten ganz richtig darauf hin, dass der Fünfjahresplan des sozialistischen Aufbaues zu einer wichtigen Etappe in der Entwicklung der Oktoberrevolution werden kann. In zurückhaltender, aber nicht zweideutiger Form weisen sie auf die Bedingungen hin, welche notwendig, aber heute noch nicht vorhanden sind. Während Sie weiter die Theorie des Sozialismus in einem Lande ablehnen, sagen Sie damit zugleich, dass sogar beim Vorhandensein der notwendigen inneren Bedingungen und der tatsächlichen Verwirklichung des Fünfjahresplanes das wichtigste Problem der Oktoberrevolution – die Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine sozialistische in keinem Falle zu Ende geführt werden kann ohne eine parallele Entwicklung der internationalen Revolution und ohne ihre Siege in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern.

Und dieses verlangt wiederum eine richtige Linie der Komintern. Und hier muss man sagen: Trotz der plötzlichen Wendung weicht die Leitung der Komintern heute nicht weniger von der leninistischen Linie ab. als in jener Zeit, als sie den Kurs auf die Kuomintang und auf das englisch-russische Komitee hielt. Sie schreiben ganz richtig, dass „die Leitung der Komintern aus der Periode der ideellen Schwankungen nicht herausgetreten ist, Hierzu muss man hinzufügen, dass die Zusammenlegung der ultralinken Schlussfolgerungen mit rechten Vorbedingungen sich auch weiterhin in der Tagespolitik der wichtigsten Sektion der Komintern widerspiegelt. Und als Resultat davon geht unter den Lärm von Artikeln und Reden, über die „dritte Periode" und „neuen Aufschwung die weitere tatsächliche Schwächung der Komintern organisatorisch wie politisch vor sich. Dieser Prozess ist noch in keinem Lande zum Stillstand gekommen, und darin besteht die wichtigste Gefahr, die der Oktober-Revolution wie auch dem Weltproletariat droht.

Sie sind mit Ihrer Erklärung gerade in dem Augenblick aufgetreten, wo die innere wie die äußere Lage der Sowjetrepublik äußerst kompliziert ist. Große Gefahren schlummern in der Zukunft. Sie können unter gewissen Bedingungen viel schneller heranrücken, als sie von vielen erwartet werden. Die Oppositionellen werden für die Oktoberrevolution unter dem Banner Lenins in jedem Falle und unter allen Bedingungen kämpfen. Diese Pflicht steht höher, als Organisationsnormen und formale Parteirahmen. Durch Ihre Erklärung sagen Sie nur, dass die Interessen der Revolution es verlangen, dass der Opposition die Möglichkeit gegeben wird, ihre Pflicht auf normalem Wege im Rahmen der Partei zu erfüllen. Ich erkläre mich solidarisch hierzu, wie ich mich auch mit Ihnen solidarisiere in der Hoffnung, dass, unabhängig von dem unmittelbaren praktischen Schicksal unserer Erklärung, die die Sympathie und die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der Partei und Arbeitermassen finden wird.

Mit kommunistischem Gruß

L. Trotzki

Konstantinopel, den 25. September 1929.

Comments