Leo Trotzki: Das ist der Lauf der Welt [Nach New Yorker Volkszeitung, 28. Februar 1929, S. 1 und 11 Dort erschienen mit den Überschriften „Leon Trotzki hat UdSSR nicht freiwillig verlassen. Verbannter schildert die Situation und seine Haltung objektiv. Stalins Politik unfruchtbar und unleninistisch.“ und der Einführung „Dies ist der erste Artikel einer Serie von vier Artikeln, in denen Leon Trotzki, aus der UdSSR deportiert, die Situation in der Sowjet-Union und die Gründe seiner Ausweisung nach Konstantinopel schildert. Die Artikel sind aus dem Russischen übersetzt.“] KONSTANTINOPEL, 26. Feb. „C'est la marche des evenements". Sensation ist der unvermeidliche Schatten der Politik. Meine Ausweisung aus Russland hat einen viel zu gewaltigen Schatten geworfen. Jede Politik mit hohen Idealen sollte Sensation vermeiden. Mein Zweck beim Schreibe» dieser Depeschen ist nicht, meinen Fall noch sensationeller aufzubauschen, sondern im Gegenteil diese Sensation zu ersticken, indem ich alles objektiv schildere, soweit eine Objektivität in politischen Dingen möglich ist. Um dem Leser klaren Wein einzuschenken, will ich hier erklären, was informierte Leute bereits wissen, nämlich, dass meine Haltung zur Revolution, zur Sowjetmacht, zum Marxismus und Bolschewismus unverändert bleibt. Politik besteht nicht aus persönlichen Streitigkeiten. Es ist richtig, dass ich jetzt ein andres Mittel ergreife, um die öffentliche Meinung zu erreichen, als bisher. Dies geschieht jedoch nur, weil ich mich in einer ganz andern Situation befinde als jemals vorher. Viele Jahre lang war mein Leben Gegenstand wilder Einbildungen, Vermutungen und Erfindungen, über welche ich selbst hätte lachen können, wären nicht meine ganzen Lebensprinzipien dabei involviert. Ich habe keine Veranlassung, mich mit Geheimnis zu umhüllen, sondern im Gegenteil habe ich jetzt mehr als je vorher den Wunsch, meinen Feinden wie meinen Freunden die volle Wahrheit zu sagen. Unter Zwang nach Türkei. Mein Zweck ist nicht Propaganda, sondern die einfache Wahrheit. Ehe ich mich bereit erklärte, diese Artikel zu schreiben, forderte ich volle Freiheit des Ausdrucks und ich werde nur sagen was ich denke, oder überhaupt nichts. Ich schreibe dies in Konstantinopel, wohin der Sowjetdampfer „Iljitsch" mich am 12. Febr. brachte. Wenn auch einige Zeitungen das Gegenteil behaupten, so bin ich doch nicht aus freiem Willen hierher gekommen. Meine Freunde in Deutschland und Frankreich haben recht, wenn sie sagen, dass ich unter Zwang hierher kam. Niemand war an Bord außer meiner Familie und OGPU-Agenten, und als ich mich ausschiffte gab ich folgende Erklärung ab, die an Kemal Pascha gerichtet war: „Ich erkläre Ihnen hiermit formell, dass ich nicht freiwillig, sondern unter Zwang, Ihr Gebiet betrete. Ich gab dies schriftlich mit meiner Unterschrift. Aus Sowjetrussland verbannt, hätte ich es natürlich vorgezogen, in ein Land zu gehen, dessen Sprache und Sitte ich kenne Aber die Interessen der Verbannten sind selten mit den Interessen derjenigen vereinbar, welche sie verbannen. „Der Lauf der Welt.“ Im Jahre 1916 verbannte mich die französische Regierung nach Spanien, dessen Sprache ich nicht kannte. Die liberale Regierung von Romanones gab mir keine Zeit, die Sprache zu erlernen, sondern wies mich über den Ozean aus. Wenn bei einer vernünftigen politischen Diskussion Rache irgendwie mit hineinspielte, könnte ich bei dem Gedanken eine gewisse Befriedigung empfinden, dass der französische Minister Malvy, der mich auswies, einige Monate später selbst von Clemenceau aus Frankreich ausgewiesen wurde. Überdies wurde der Chef der französischen politischen Polizei, M. Bidel Fauxpax dessen Tätigkeit meine Ausweisung bewirkte, selbst im Jahre 1918 in Russland bei der Ausführung einer nicht grade freundschaftlichen Mission verhaftet. Als er mir als Kriegsminister vorgeführt wurde und ich ihn fragte: Wie ist das gekommen? erwiderte er „Es ist der Lauf der Welt", was ich als eine vorzügliche Antwort betrachtete. Die Welt wird noch lange Zeit in einer Situation sein wo diese Phrase bei vielen Gelegenheiten angebracht sein wird. Die zuverlässigsten Revolutionäre. Meine Ausweisung aus Russland ist noch lange nicht das letzte Wort, und ich will nicht über mein eigenes Schicksal sprechen. Ereignisse mögen gewundene Wege gehen, aber ich habe in der marxistischen Schule gelernt, die Geschichte zu betrachten. So wollen wir uns die Tatsachen ansehen, welche die gegenwärtige Situation erklären. Im Januar 1928 schloss der 15. Kongress der Kommunistischen Partei, der in Wirklichkeit ein Kongress der Parteigänger Stalins war, jeden aus, der zur Opposition gehörte und autorisierte Regierungs-Repressionen gegen mich. Bald danach wurden mehrere hundert und später mehrere tausend Mitglieder der Opposition nach verschiedenen Teilen Sibiriens und Zentral-Asiens deportiert Unter innen waren Rakowski, der frühere Präsident des Ukrainischen Volkskommissariats und Botschafter in Frankreich, der vierzig Jahre lang für die Rechte des Proletariats in Bulgarien, Russland, Frankreich und Rumänien kämpfte. Karl Radek, einer der bedeutendsten marxistischen Schriftsteller der Welt; Smirnow, ein früherer Volkskommissar und Mitbegründer der Partei; Preobraschenski, der große Volkswirtschaftler und Finanz-Experte in den Verhandlungen mit Frankreich; Mratschowski und Uralow, Organisatoren der Roten Armee und Marschälle des revolutionären Krieges; Beloborodow, Kommissar des Innern vor der Deportierung; Sosnowski, der glänzendste Propagandist der Partei; Kasparowa, welche die Arbeit der Komintern unter den orientalischen Frauen leitete; Boguslawski, Ex-Präsident des Unterausschusses des Volkskommissariats, etc. Stoff für Dramen. Ich nenne nur diese Wenigen, doch könnte ich andere nennen, die schon 1916 die Revolution vorbereiteten und auch an den beiden Revolutionen von 1917 teilnahmen. Das Leben manch eines von ihnen könnte Material für Dramen sein. Doch politisch gesprochen, will ich nur sagen, dass ihr revolutionärer Wert etwas höher steht, als der revolutionäre Wert derjenigen, die sie deportierten. Der Platz, der für mein Exil ausgewählt war, ist die neue Hauptstadt von Kasachstan, Almaata, eine von Malaria betroffene Stadt mit Erdbeben und Überflutungen am Flusse der Tjanjschanj-Berge, 2500 Meilen von Moskau und 150 Meilen vom nächsten Bahnhof entfernt. Meine Frau und mein Sohn wohnten hier mit mir, mit einigen Büchern und wirklich herrlicher natürlicher Umgebung. Briefe und Zeitungen kamen in Zwischenräumen von 14 Tagen, einem Monat, zwei Monaten oder länger, je nach der Jahreszeit oder den Launen der Regierung. Meine Freunde waren da, aber wir wohnten gänzlich abseits, denn diejenigen, die mit uns in Verbindung zw treten suchten, wurden schwer bestraft. Mein einziger Kontakt mit der Außenwelt war Jagen, was ich mit meinem Sohne tat, in Begleitung der Agenten der OGPU, und wochenlang lebten wir das Leben von Nomaden, schliefen unter den Sternen oder in Zigeunerwagen oder reisten auf Kamelen. Wild gab es genug. Wir schossen Ziegen, Wildschweine, Enten Gänse, Fasanen, aber auch Skorpione gab es. Tiger und der Kellogg-Pakt. Im Januar wurde ich telegraphisch davon informiert, dass drei Tiger nur 150 Meilen von Almaata entfernt wären, am Fluss entlang, auf dem Wege in der Richtung des Balkasch-Sees. Mein Sohn und ich beratschlagten, ob wir einen Verteidigungskrieg führen sollten, oder uns auf den Kellogg-Anti-Kriegs-Pakt berufen. Nach Clemenceaus Beispiel sollten Tiger für den Pakt sein, aber, vielleicht zu unserm Glück, wurden wir deportiert, ehe die Probe aufs Exempel gemacht werden konnte. In den ersten zehn Monaten unseres Exils erreichten unsere Briefe, wenn auch zensiert, ungefähr zur Hälfte ihren Bestimmungsort. Nur wenige vergegenwärtigen sich, ein wie weites Verbreitungsfeld Briefe von Ausgewiesenen haben. Manchmal wurden sie in Traktate umgewandelt und weit und breit veröffentlicht, daheim, wie im Ausland. Vorigen Oktober trat aber eine plötzliche Änderung ein. Unsere Korrespondenz mit politisch Sympathisierenden, selbst mit persönlichen Freunden hörte plötzlich auf, und keine Telegramme erreichten uns. Es war gerade zur Zeit des Jahrestages der Oktober-Revolution, und ich habe seitdem erfahren, dass hunderte an mich adressierte Glückwunsch-Telegramme sich im Moskauer Telegraphenamt ansammelten. Wir wurden enger und enger eingeschlossen Erhofftes Resultat blieb aus Man vergesse nicht, dass nicht nur die Massen in Russland, sondern Stalins eigene Zivilbeamte gegen die Behandlung rebellierten, die den alten ins Exil geschickten Revolutionären zuteil wurde. Sie wurden aber von den Behörden beschwichtigt, die erklärten, solche Maßnahmen wären notwendig, um die Parteieinheit zusammenzuhalten, um der Regierung zu gestatten, ihr Ziel in Frieden zu verfolgen. Stalins Anhänger dachten oder versprachen wenigstens, dass die Deportation der Oppositionsführer den Aktivitäten meiner Fraktion ein Ende machen würde. Dazu ist es aber nicht gekommen. Das dem 15. Kongress der KPSU folgende Jahr war das stürmischste der Partei. Ja, es war erst nach dem 15. Kongress, dass die Massen wirklich begannen, sich für den Zank unter den Führern zu interessieren und zu der Einsicht kamen, dass große Gegensätze bestehen, die hunderttausende exilierte und deportierte Führer berührten. Opposition wuchs. Trotz dieser-Repressionen wuchs die Opposition 1928 zu ansehnlichen Proportionen, besonders in Industriezentren. Es kam zu weiteren Unterdrückungsmaßregeln, darunter das Korrespondenzverbot unter den deportierten Führern. Wir erwarteten, dass es noch schlimmer kommen würde, und wir wurden nicht enttäuscht. Am 16. Dezember traf ein Spezialkommissar der OGPU ein und überreichte mir ein Ultimatum, das mir befahl, alle Oppositionstätigkeit einzustellen, sonst würden Maßnahmen getroffen werden, mich vom politischen Leben gänzlich zu isolieren. Von der Deponierung wurde nichts gesagt, und ich glaubte, es handle sich ausschließlich um Maßnahmen im Lande selbst. Ich erwiderte, indem ich dem Präsidium der Komintern einen Brief sandte, in welchem ich meine Prinzipien darlegte. Seine Prinzipien-Erklärung. Ich will hier die Hauptstellen dieses Briefes zitieren: „Eine mir gestellte Forderung, jede politische Aktivität zu unterlassen, bedeutet, dass man von mir verlangt, einen Kampf für proletarische Rechte aufzugeben, den ich seit 32 Jahren führe, oder mein ganzes Leben, seitdem ich erwachsen bin. Der Versuch, diese Aktivität als konterrevolutionär hinzustellen, kommt von jenen, die ich vor dem Proletariat der Welt anklage, die fundamentalen Grundlagen der Lehren von Marx und Lenin beiseite zu werfen und die historischen Prinzipien der Weltrevolution und der Traditionen und Lehren der Oktober-Revolution zu verletzen, womit sie unbewusst aber unvermeidlich einen neuen Thermidor vorbereiten." Nach Aufzählung unserer verschiedenen Meinungsverschiedenheiten über innere und internationale Fragen, fuhr ich fort: Die Reaktion auf dem Wege. „Die Reaktion mag nach einer proletarischen Revolution ebenso kommen, wie nach einer bürgerlichen Revolution. In den letzten sechs Jahren glitt Sowjet-Russland langsam, aber sicher in der Richtung zur Reaktion gegen die Oktober-Revolution, womit der Weg zum Thermidor geebnet wird. Da klarste Zeichen dieser Reaktion ist die wütende organisierte Verfolgung des linken Flügels der Partei. Stalin und seine Anhänger, in ihren letzten schwächlichen Anstrengungen des Widerstandes, haben keine Waffen, außer den zerfetzten Resten von Ideen, die von den Mitgliedern der jetzt verbannten Opposition beigebracht wurden. Ihre eigene schöpferische Kraft ist gleich null. Der Kampf gegen die Linken nimmt ihnen jede Stabilität. Ihre praktische Politik ist nicht konstruktiv, sondern falsch, von Widersprüchen erfüllt und schwankend. Ihre glänzende Kampagne gegen die Reaktionäre ist nur markiert um vor den Augen der Massen die wirkliche Vernichtungs-Kampagne gegen die Bolschewiki und die Leninisten zu maskieren." Nicht als reuige Sünder. Mein Brief schließt: „In unserer Erklärung an den 6. Kominternkongress beantworteten wir die Beschuldigungen des Fraktionalismus mit der Erklärung, dass der Fraktionalismus nicht enden würde, bis der Artikel 58, der uns in verräterischer Weise aufgedrungen wurde, widerrufen ist und wir wieder in die Partei eingesetzt sind, nicht als reuige Sünder, sondern als Revolutionäre, die niemals ihre Fahne verraten haben. In Erwartung des heutigen Ultimatums schrieben wir in unserer Erklärung an den Kongress: Nur die degeneriertesten Beamten können von Revolutionären verlangen, dass sie ihre politische Tätigkeit aufgeben. Nur die verächtlichsten Renegaten könnten solch ein Versprechen geben." Diesen Worten habe ich nichts hinzuzufügen. Jeder muss seine Verantwortung tragen. Wünscht Ihr damit fortzufahren, ein feindliches Volk zu unterdrücken? Wir für unsern Teil kennen unsere Pflicht. Wir werden sie bis zum Ende erfüllen. L. Trotzki. Almaata, 16. Dez. 1928." Das sind die Ereignisse, die zu meiner Deportation führten. Darüber will ich in meinem nächsten Artikel sprechen. |
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