Leo Trotzki: Brief an die russischen Genossen! [Nach Die Aktion, 19. Jahrgang, Heft 5-8 (Ende September 1929), Spalte 147-149] Teure Freunde! Die letzten Mitteilungen der Presse melden die Ankunft Preobraschenskis in Moskau zu Verhandlungen mit dem Zentralkomitee. Es besteht kein Zweifel, dass die Kapitulanten und Kompromissler des 3. Aufgebots nichts erreichen werden. Man kann absolut nicht verstehen, über welche Teilnahme an der Parteiarbeit außer der Sinowjewschen sie phantasieren. Als Kapitulant gezeichnet, sitzt Sinowjew schweigend, wagt nicht sich zu bewegen und weiß nicht, worauf er warten soll. Wir bereiten, wenn auch langsam, so doch aktiv, die Zukunft vor, formieren Kader der jungen Bolschewiken. Welche Stelle hoffen die neuen Kapitulanten zwischen uns und den Sinowjewisten einzunehmen? Sie sind wohl kaum fähig, sich darüber selbst Rechenschaft abzulegen. Man muss hoffen, dass Jaroslawski ihnen das Gehirn säubern wird, worauf sie aus dem Sumpf auf einen reinen Platz werden hinauf krabbeln müssen. Keineswegs wird das ihre Autorität erhöhen. 1. Sie konstatieren, dass die Meinungsverschiedenheiten fast verschwunden seien. Wie erklären sie aber die tolle Art der Repressalien? Verbannung und Zuchthaus für Bolschewiken ohne die tiefste und unversöhnlichste Meinungsverschiedenheit könnten nur ein Ergebnis eines völlig ideenlosen bürokratischen Banditentums sein. So ist die Politik der Stalinisten, wenn man auf dem Standpunkt Radeks und anderer stehen will. Wie können sie aber dann auch nur an eine Vereinigung mit politischen Banditen denken, welche ohne prinzipielle Begründungen unsere Gesinnungsgenossen ins Zuchthaus werfen, der Ausweisung und manchmal auch dem Tode weihen. Wir haben niemals die Stalinisten so schonungslos und vernichtend charakterisiert, wie es Radek ohne seinen Willen tut, weil er sich in „drei Fichten verirrt" hat und dabei kriecht, stürzt, zappelt, aufzustehen versucht und wieder umfällt. Wir hielten und halten noch jetzt dafür, dass die Stalinisten keine ideenlosen, politischen Banditen sind, denn sie haben tiefe und prinzipielle Gründe zu einem schonungslosen Kampf gegen uns. Bedauerlich ist derjenige Politiker, welcher die politische Linie in einem kleinen Abschnitt nimmt, ohne sich selbst zu, fragen, für welche Elemente und aus welchen Ursachen diese Linie durchgeführt wird. Die Stalinschen Kader sind in die wirtschaftliche Sackgasse geraten, machen zwangsweise einen linken Zickzack durch, welcher sie dank der Verhältnisse und dem Kampfe selbst viel weiter nach links gerissen hat, als sie wollten. Neun Zehntel dieser Kader denken daran, bei der ersten Möglichkeit zu einer viel gesünderen, normaleren, nationalen Linie zurückzukehren, und sie hassen uns tödlich gerade deshalb, weil wir sie mit unserer Unversöhnlichkeit stören. Die Kapitulation der Opposition würde bedeuten: a) das Vegetieren derselben à la Sinowjew, d. h. auf die schändlichste Art, und b) einen sofortigen Ruck der Stalinisten nach rechts 2. Die Fragen der Komintern interessieren die Anhänger der Kapitulanten „im einzelnen Lande" überhaupt nicht. Das national-sozialistische Programm verursacht ihnen wenig Sorgen. Mit leichtem Herzen versöhnen sie sich mit der Politik des Abenteuertums, welche den revolutionären Ruhm des Zentrismus in Berlin wie in Kanton herstellen muss. Inzwischen zersetzt die Fortsetzung der Hetze gegen die Opposition hoffnungslos die Kader der Komintern. Bei den Leuten bleibt im Kopfe kein vernünftiger marxistischer Begriff. Alles ist zertreten, besudelt von dem Stiefel des Bürokratismus. Wie hilft man diesem Unglück ab? Sehr einfach: Kapitulieren vor diesem Stiefel. 3. Die Revolution ist eine große Menschenfressserin. Unter der führenden Mehrheit ist von der älteren Generation ein großer Prozentsatz zersetzt und kein kleiner Prozentsatz innerhalb der Opposition. Die Reaktion in der Partei und Komintern ist noch im vollen Gange und spiegelt die allgemeine Verschiebung der Klassenkräfte im Weltmaßstab wider. Unter solchen Bedingungen stehen Abgänge durch Kapitulationen unvermeidlich auf der Tagesordnung Der Bolschewismus der Jahre 1907 bis 1910 und später der Jahre 1914 bis 1917 ging durch eine ganze Serie solcher Abgänge, Spaltungen, gruppenweiser und individueller Kapitulationen. Nur auf solche Art der Selbstreinigung und Selbstaufklärung konnte er sich entwickeln und erstarken für den Oktobersieg. Uns schrecken diese Abgänge der Genossen, sogar der mit den ganz „ehrfurchtsvoll" genannten Namen, nicht im Geringsten. Mit den Erfahrungen ihrer Schwankungen werden wir die Jungen Standhaftigkeit lehren. 4. Wie elend feig und falsch klingen die Zustimmungen von Seiten der Neukapitulanten zu Jaroslawski und Co. wegen des Nichtzulassens des Auftretens in der bürgerlichen Presse. Mussten sie sich zu einer solchen Abgeschmacktheit herbei lassen? Durch die „Tass" verkünden die Stalinisten in der bürgerlichen Presse der ganzen Welt gegen uns ungeheuerliche Lügen und Verleumdungen, um damit allmählich für sich eine Rechtfertigung für die blutigen Repressalien vorzubereiten. Wir sollen nicht wagen, in denselben Zeitungen die Wahrheit über uns selbst zu sagen?!! Die Stalinisten kommen mit der bourgeoisen Polizei und mit der reaktionären Diplomatie wegen Nichtgenehmigung unserer Einreise in die Länder überein. Sie veranlassen die norwegischen Kommunisten, zusammen mit der Reaktion das Asylrecht niederzutreten. Sie veranlassen die offiziöse kommunistische Presse, diese polizeiliche reaktionäre Arbeit mit einer wilden Hetze und Verleumdung zu begleiten, welche dann hineindrängt auf die Spalten der ganzen bürgerlichen Presse, Und wir sollen bescheidentlich schweigen, zurückschauen auf die Revolution vom Jahr 1905, während die reaktionäre Arbeit der thermidorianischen Bürokratie in einem heiligen Bündnis mit der kapitalistischen Polizei ganz Europas auftritt? 5. Es ist klar: Vor uns liegt eine Perspektive langen, hartnäckigen Kampfes und schwerer Erziehungsarbeit. Man muss die Kader erneuern. Mögen diejenigen weggehen, denen die Arbeit zu schwer ist. Manche, die sich geirrt und die geschwankt haben, werden zu uns zurückkommen, und wir werden unterdessen stärker werden. Man muss eine Ablösung im Sinne eines Geschlechts mit felsenfester bolschewistischer Unversöhnlichkeit schaffen. Zugleich mit unserer Arbeit unter den Massen auf der Grundlage unserer Plattform müssen wir die Arbeit zur Erziehung der Jugend vertiefen, sogar unsere Kräfte auf Einzelne konzentrieren. Wir brauchen eine vertiefte Propaganda im internationalen Maßstab. Jeder ernste Bolschewik muss um sich einige Junge haben, um sie Tag für Tag in die Grundfragen des Marxismus und der Weltrevolution einzuführen. 6. Jetzt bin ich hauptsächlich mit der Vorbereitung einer Reihe von Büchern zum Druck beschäftigt, die gleichzeitig in einigen Sprachen erscheinen werden. Diese Arbeit nimmt jetzt fast die ganze Zeit, weg und erlaubt mir nicht, sehr eingehend zu den Fragen der Gegenwart Stellung zu nehmen. Aber ich nehme doch an, dass das der allerergiebigste Weg ist. Statt bei jeder einzelnen Frage wiederum jedes Mal von Anfang zu beginnen, muss eine ernste, ideologische Basis geschaffen werden, indem man die wichtigsten Arbeiten und Dokumente der Opposition veröffentlicht, auf die man sich späterhin berufen kann. In Frankreich soll im Juni das Buch „Die verleugnete Revolution", meinen Brief an das Institut für Parteigeschichte, eine Reihe Programm-Reden, „Unterhaltung über Reinlichkeit" und ein Vorwort speziell für die französische Ausgabe enthaltend, erscheinen. Im September wird die Autobiographie in drei Sprachen erscheinen. Zwei Monate später wird in französischer Ausgabe ein großer Band, der Komintern gewidmet, herauskommen: „Kritik des Programms", „Was weiter", „Die chinesische Frage" u. a. mit einem großen Vorwort für die französische Ausgabe. Zur selben Zeit wird in einigen Sprachen ein großes Buch „Lenin und die Epigonen", den theoretischen Problemen der Revolution gewidmet, erscheinen. In diesem Buche wird auch mein Artikel über die „permanente Revolution" gegen Radek in neuer Bearbeitung enthalten sein. Weiter folgen in dem Zusammenhange Veröffentlichungen aller meiner Arbeiten über das Jahr 1917 und über die „Rote Armee". Beide Bücher müssen lt. Vertrag gleichzeitig in drei Sprachen erscheinen. Diese Arbeiten werden mithelfen, die Treue des marxistischen Gedankens des Bolschewismus gegen den Revisionismus, gegen Verleumdung und leichtsinnige Schwankung aufrechtzuerhalten. Die Epochen der Reaktion waren immer Epochen der theoretischen Vertiefung. 7, Über die Gruppen der europäischen und amerikanischen Opposition glaube ich Euch kaum viel Neues schreiben zu können. Hier steht eine gigantische, kollektive Arbeit, theoretische Selbstaufklärung und Sammlung der Kräfte sowohl innerhalb jedes Landes, wie auch im internationalen Maßstab, vor uns. Für diesen Zweck ist die Gründung eines internationalen Bulletins vorgesehen, welches späterhin in eine Zeitschrift, die in mehreren Sprachen erscheinen wird, übergehen soll. Ich drücke fest Ihre Hand Konstantinopel, 22. Mai 1929. Leo Trotzki |
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