Leo Trotzki: Brief an die Arbeiter in der UdSSR [Nach Die Aktion, 19. Jahrgang, Heft 3-4 (Ende Mai 1929), Spalte 72-76] Teure Genossen! Ich schreibe an euch, um euch noch einmal zu sagen, dass die Stalin, Jaroslawski und Konsorten euch betrügen. Man sagt euch, dass ich mich an die bürgerliche Presse gewandt hätte, um gegen die Sowjetrepublik zu kämpfen, für deren Schaffung und Verteidigung ich, Hand in Hand mit Lenin, gearbeitet habe. Das ist ein Versuch, euch zu betrügen. Ich habe mich an die bürgerliche Presse gewandt, um die Interessen der Sowjet-Republik gegen die Lügen, den Treubruch und den Verrat der Stalinclique zu verteidigen. Man fordert euch auf, meine Artikel zu verurteilen. Habt ihr sie gelesen? Nein, ihr kennt sie nicht. Man gibt euch entstellte, gefälschte Übersetzungen von einigen kleinen Auszügen. Aber meine Artikel sind als Broschüre in russischer Sprache erschienen, so wie ich sie geschrieben habe. Verlangt, dass Stalin sie ohne Kürzungen und Fälschungen nachdruckt! Er wird es nicht wagen. Er fürchtet am meisten die Wahrheit. Ich will die Grundgedanken meiner Artikel wiedergeben. 1. In der Verfügung der GPU über meine Ausweisung steht, dass ich die Vorbereitungen zum bewaffneten Aufstand gegen die Sowjet-Republik geleitet hätte. In der „Prawda" waren die Worte über den bewaffneten Aufstand weggelassen. Weshalb? Weshalb hatte Stalin nicht den Mut, in der „Prawda", Nr. 41 vom 19. Februar 1929, das zu wiederholen, was in der Verfügung der GPU steht? Weil er gewusst hat, dass ihm niemand glauben würde. Nach der Geschichte mit dem Wrangel-Offizier, nach der Entlarvung des Provokateurs, den Stalin mit dem Vorschlag des bewaffneten Aufstandes in die Opposition hinein geschickt hat, nach all dem wird niemand mehr glauben, dass Bolschewisten-Leninisten, die die Partei von der Richtigkeit ihrer Ansichten überzeugen wollen, den bewaffneten Aufstand vorbereiten. Aus diesem Grunde hat es Stalin nicht gewagt, in der „Prawda" das zu veröffentlichen, was in der Verfügung der GPU vom 18. Januar behauptet wurde. Warum war es aber nötig, diese offensichtliche Lüge in die Verfügung der GPU aufzunehmen? Es war nötig, nicht für die UdSSR, sondern für das Ausland, für die Welt. Durch die Telegraphenagentur TASS arbeitet Stalin systematisch, tagtäglich an der bürgerlichen Presse der ganzen Welt mit und verbreitet Verleumdungen gegen die Bolschewisten-Leninisten. Stalin konnte die Ausweisung und die zahlreichen Verhaftungen nicht anders erklären als mit dem Hinweis auf die Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes seitens der Opposition. Durch diese ungeheuerliche Lüge hat er der Sowjet-Republik einen großen Schaden zugefügt. Die ganze bürgerliche Presse war davon voll, dass Trotzki, Rakowski, Smilga, Radek, J. N. Smirnow, Beloborodow, Muralow, Mratschkowski und viele andere, die die Republik mit geschaffen und verteidigt haben, jetzt einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht vorbereiten. Es ist klar, dass eine solche Vorstellung die Sowjetrepublik schwächen muss! Um die Repressalien zu rechtfertigen, muss Stalin ungeheuerliche Legenden erfinden, welche der Sowjetmacht einen unermesslichen Schaden zufügen. Das ist der Grund, weshalb ich es für notwendig hielt, in der bürgerlichen Presse vor der ganzen Welt zu erklären; es ist nicht wahr, dass die Opposition einen bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht führen will. Die Opposition führt einen erbarmungslosen Kampf gegen alle Feinde der Sowjetrepublik und wird ihn immer führen. Diese meine Erklärung ist in Millionen und Abermillionen von Exemplaren in allen Sprachen der Welt veröffentlicht worden. Sie dient der Festigung der Sowjetrepublik. Stalin will seine Lage sichern, indem er die Sowjetrepublik schwächt. Ich will die Sowjetrepublik stärken, indem ich die Lügen der Stalinisten entlarve. 2. Stalin und seine Presse verbreiten seit langem in der ganzen Welt, ich hätte erklärt, dass die Sowjetrepublik ein bürgerlicher Staat geworden, dass die proletarische Macht vernichtet sei usw. Viele Arbeiter in Russland wissen, dass das eine böswillige Verleumdung ist, die auf gefälschten Zitaten beruht. Ich habe diese böswillige Verleumdung in Dutzenden von Briefen widerlegt, die von Hand zu Hand gingen. Aber die internationale Presse der Bourgeoisie glaubt ihr oder tut wenigstens so, als ob sie dem glaubt. Alle entstellten Stalinschen Zitate laufen durch die Spalten der Weltpresse, als Beweis dafür, dass Trotzki die Vernichtung der Sowjetmacht als unvermeidlich betrachtet. Dank dem gewaltigen Interesse der Öffentlichkeit und ganz besonders der breiten Volksmassen für alles, was in Russland vorgeht, wie auch aus Rücksicht auf die Auflagen waren die Zeitungen, unter dem Drucke der Leser, gezwungen, meine Artikel zu veröffentlichen. In diesen Artikeln habe ich gesagt, dass die Sowjetmacht trotz der falschen Stalinschen Leitung, in den Massen tief verwurzelt und stark ist und dass sie ihre Feinde überleben wird. Man darf nicht vergessen, dass die große Mehrzahl der Arbeiter in Europa und ganz besonders in Amerika, noch immer die bürgerliche Presse liest. Ich stellte zur Bedingung, dass meine Artikel ohne Änderungen abgedruckt werden müssten Zwar haben einige Zeitungen diese Bedingung nicht eingehalten, die Mehrzahl aber hat es getan. Jedenfalls haben alle Zeitungen veröffentlicht, dass Trotzki, entgegen allen Lügen und Verleumdungen der Stalinisten, von der inneren Festigkeit der Sowjetmacht überzeugt ist und unerschütterlich daran glaubt, dass es den Arbeitern gelingen wird, die heutige falsche Politik des ZK durch friedliche Mittel zu ändern. Im Frühling 1917 benutzte Lenin, der im Schweizer Käfig eingeschlossen war, den „plombierten" Wagen der Hohenzollern, um zu den russischen Arbeitern zu gelangen. Die chauvinistische Presse hetzte und nannte ihn nie anders als „Herr Lenin, der deutsche Mietling". Von den Thermidorianern in den Käfig Konstantinopel eingesperrt, benutzte ich einen plombierten Wagen der Bourgeoisie, ihre Presse, um der Welt die Wahrheit zu sagen. Die dumme und schrankenlose Hetze der Stalinisten gegen „Mister Trotzki" ist nichts anderes als eine Wiederholung der bürgerlichen und Sozialrevolutionären Hetze gegen „Herrn Lenin". Wie damals Iljitsch, ertrage ich die öffentliche Meinung der Kleinbürger und Beamtenseelen, deren Ausdruck Stalin ist, mit gelassener Verachtung. 3. Ich habe in meinen Artikeln, die Jaroslawski verfälscht und entstellt hat, dargestellt, wie, warum und unter welchen Bedingungen man mich aus Sowjetrussland ausgewiesen hat. Stalin verbreitet in der europäischen Presse die Behauptung, dass man mich auf mein eigenes Ersuchen hin nach dem Auslande geschickt habe. Ich habe auch diese Lüge richtigstellen müssen. Ich habe erzählt, dass man mich gewaltsam ausgewiesen hat, nach vorheriger Verständigung Stalins mit der türkischen Polizei. Auch hier habe ich gehandelt, nicht nur um mich persönlich gegen eine Verleumdung zu schützen, sondern vor allem im Interesse der Sowjetrepublik, Wenn Anhänger der Opposition wirklich bestrebt gewesen wären, die Sowjetunion zu verlassen, so müsste das die ganze Welt so auslegen, als betrachten wir die Lage der Sowjetunion als hoffnungslos. Davon kann aber gar keine Rede sein. Die Stalinsche Politik hat zwar nicht nur der chinesischen Revolution, sowie der englischen Arbeiterbewegung und der ganzen Komintern furchtbare Schläge zugefügt, sondern auch der inneren Widerstandsfähigkeit des Sowjetregimes. Darüber kann es keine Zweifel geben. Die Lage ist dennoch keinesfalls hoffnungslos. Die Opposition hat durchaus nicht die Absicht, aus Sowjetrussland zu fliehen. Ich habe mich kategorisch geweigert, ins Ausland zu gehen, ich habe vorgeschlagen, mich ins Gefängnis zu setzen. Die Stalinisten hatten nicht den Mut zu dieser Maßnahme, sie fürchteten, die Arbeiter würden meine Befreiung fordern. Sie haben eine Verständigung mit der türkischen Polizei vorgezogen und haben mich gewaltsam nach Konstantinopel geschafft. Das habe ich der ganzen Welt auseinandergesetzt. Jeder denkende Arbeiter wird sagen müssen, dass, wenn Stalin durch die TASS täglich die bürgerliche Presse mit verleumderischen Berichten über die Opposition versorgt, ich gezwungen war, diese Verleumdungen zu widerlegen. 4. In Millionen und Abermillionen von Exemplaren habe ich der Welt erzählt, dass mich nicht die russischen Arbeiter verjagt haben, nicht die russischen Bauern, nicht die sowjetistischen Rotarmisten, das heißt, nicht jene Kräfte, mit denen gemeinsam wir die Macht eroberten und Schulter an Schulter an allen Fronten des Bürgerkrieges kämpften, – sondern dass mich nur Bürokraten vertrieben, die die Macht an sich gerissen und eine bürokratische Kaste gebildet haben, und miteinander auf Gedeih und Verderb verbunden sind. Um die Oktoberrevolution, die Sowjetrepublik und den revolutionären Namen der Bolschewisten-Leninisten zu verteidigen, habe ich vor aller Welt die Wahrheit über Stalin und die Stalinisten gesagt. Ich habe noch einmal daran erinnert, dass Lenin in seinem reiflich überlegten „Testament" Stalin als illoyal bezeichnet hat. Dies Wort ist in allen Sprachen verständlich. Es bedeutet einen gewissenlosen, unehrlichen Menschen, dessen Handlungen schlechte Motive leiten, einen Menschen, dem man nicht vertrauen darf. So hat Lenin Stalin charakterisiert, und wir sehen wiederum, wie richtig Lenins Warnung war. Es gibt für einen Revolutionär kein größeres Verbrechen, als seine Partei zu täuschen, das Bewusstsein der Arbeiter durch Lügen zu vergiften. Darin aber besteht die Hauptbeschäftigung Stalins. Er betrügt die Komintern und die internationale Arbeiterklasse, indem er der Opposition konterrevolutionäre Absichten und Taten in Bezug auf die Sowjetmacht nachsagt. Gerade für die innere Geneigtheit zu solchen Handlungen hat Lenin den Stalin als illoyal bezeichnet und, gerade darum hat Lenin der Partei empfohlen, Stalin von seinem Posten abzusetzen. Umso notwendiger ist es, nach all dem, was vorgefallen ist, jetzt vor aller Welt Stalins Illoyalität, das heißt, seine Unehrlichkeit und Gewissenlosigkeit aufzudecken. 5. Die Verleumder (Jaroslawski und andere Stalinsche Agenten) schlagen Lärm wegen der amerikanischen Dollar. Es würde sich unter anderen Umständen kaum lohnen, diesen Schmutz zu berühren. Die böswillige bürgerliche Presse benutzt aber Jaroslawskis Schweinerei mit besonderem Behagen; um also nichts unaufgeklärt zu lassen, will ich auch über diese Dollar sprechen. Meine Artikel habe ich einer amerikanischen Agentur in Paris überlassen. Solchen Agenturen hat Lenin und habe ich Dutzende von Interviews sowohl mündlich, wie schriftlich über die verschiedensten Fragen gegeben. Dadurch, dass meine Ausweisung unter so geheimnisvollen Umständen geschah, hatte sie in der Welt ein enormes Aufsehen erregt. Die Agentur rechnete mit großen Einnahmen. Sie bot mir die Hälfte der Einnahmen an. Ich antwortete, dass ich persönlich davon keinen Pfennig haben wolle, die Agentur müsse sich jedoch verpflichten, die Hälfte der Einnahmen aus meinen Artikeln einer bestimmten Stelle nach meiner Angabe zu überweisen, da ich mit diesem Geld eine Reihe von Artikeln, Reden und Briefen Lenins, die die Stalinsche Zensur in der Sowjetrepublik verbietet, in russischer und in anderen Sprachen herauszugeben gedenke. Ferner beabsichtige ich mit diesem Geld eine Reihe wichtiger Parteidokumente herauszugeben (Protokolle von Konferenzen und Kongressen, Artikel, Briefe usw.), die vor der Partei verheimlicht werden, weil sie die theoretische und politische Unzulänglichkeit Stalins beweisen. Das ist, (nach der Meinung der Stalin und Jaroslawski) jene „konterrevolutionäre" Literatur, die ich herauszugeben beabsichtige. Die genaue Abrechnung über die dafür verwandten Summen wird zur gegebenen Zeit veröffentlicht werden. Jeder Arbeiter wird zugeben, dass es besser ist, mit dem Geld, das man als zufällige Gabe von der Bourgeoisie bekommen hat, Werke von Lenin herauszugeben, als mit dem Geld, dass man von russischen Arbeitern und Bauern sammelt, Verleumdungen gegen Bolschewisten-Leninisten zu verbreiten. Vergesst nicht, Genossen: das „Testament" Lenins ist in der USSR. noch immer ein konterrevolutionäres Dokument, für dessen Verbreitung man verhaftet und verschickt wird! Und dies ist kein Zufall. Stalin führt den Kampf gegen den Leninismus im internationalen Maßstabe. Es ist fast kein einziges Land in der Welt mehr übrig geblieben, wo an der Spitze der Kommunistischen Partei heute noch dieselben Revolutionäre stehen, die die Partei zur Zeit Lenins geleitet haben. Fast alle sind sie aus der Kommunistischen Internationale ausgeschlossen worden, Lenin hatte die ersten vier Kongresse der Komintern geleitet. Gemeinsam mit Lenin habe ich alle grundlegenden Dokumente der Komintern ausgearbeitet. Auf dem IV. Kongress hat Lenin mit mir das programmatische Referat über die neue ökonomische Politik und die Perspektiven der internationalen Revolution geteilt. Nach Lenins Tode wurden alle Teilnehmer, jedenfalls alle einflussreichen Teilnehmer der ersten vier Kongresse aus der Komintern ausgeschlossen. An der Spitze der Kommunistischen Parteien stehen heute neue, rein zufällig aufgetauchte Menschen, die meist erst gestern aus dem Lager der Gegner oder gar der Feinde gekommen sind. Um die anti-leninistische Politik führen zu können, musste vor allem die gesamte Leninsche Leitung beseitigt werden. Gestützt auf die Bürokratie, auf die neuen, kleinbürgerlichen Kreise, auf den Staatsapparat, auf die GPU, auf die Finanzmittel des Staates, ist Stalin dies gelungen. Und zwar nicht nur in der UdSSR, sondern auch in Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Belgien, in den Vereinigten Staaten, in Skandinavien, kurz fast ohne Ausnahme in allen Ländern. Nur ein geistig Blinder wird den Sinn der Tatsache nicht erfassen, weshalb alle nächsten Mitarbeiter und Mitkämpfer Lenins in der WKP und in der Komintern, alle Führer der Partei während der ersten schweren Jahre, alle wichtigeren Teilnehmer der ersten vier Kongresse fast durchweg von ihren Posten entfernt, verleumdet und ausgeschlossen wurden. Für die Durchführung ihrer anti-leninistischen Politik brauchen die Stalinisten diesen wütenden Kampf gegen die Leninsche Leitung der Komintern. Als man die Bolschewisten-Leninisten zerschlug, beruhigte man die Mitglieder damit, die Partei werde jetzt einheitlich wie aus einem Guss sein. Ihr wisst, dass die Partei noch nie so gespalten war wie jetzt. Und das ist noch nicht das Ende. Auf dem Stalinschen Wege gibt es keine Rettung. Man kann nur entweder die Ustrjalowsche, d. h. die konsequent thermidorianische, oder die Leninsche Politik betreiben. Die zentristische Position Stalins führt unvermeidlich zur Anhäufung von größten wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten und zur fortwährenden Zerspaltung und Demolierung der Partei. Noch ist es nicht zu spät, den Kurs zu ändern. Man muss die Politik und das Parteiregime schroff ändern im Geiste der Plattform der Opposition. Man muss mit der schändlichen Verfolgung der besten Leninistischen Revolutionäre in der WKP und in den anderen Ländern aufhören. Man muss die Leninsche Leitung wiederherstellen. Man muss die illoyalen, das heißt die gewissenlosen und unehrlichen Methoden des Stalinschen Apparates radikal verurteilen und vernichten. Die Opposition ist bereit, den proletarischen Kern der Partei bei der Durchführung dieser lebenswichtigen Aufgabe mit allen Kräften zu unterstützen. Weder die tolle Hetze, noch die ehrlose Verleumdung oder staatliche Repressalien können unsere Stellung zur Oktoberrevolution und zu der internationalen Partei Lenins beeinflussen. In den Stalinschen Gefängnissen, in der Verbannung und als Vertriebene bleiben wir der einen wie der anderen bis ans Ende treu. Mit bolschewistischem Gruß, Konstantinopel, 27. März 1929. L. Trotzki (Übersetzt von Alexandra Ramm) |
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