Leo Trotzki: Die Krise des rechts-zentristischen Blockes und die Perspektiven [Nach Fahne des Kommunismus, 3. Jahrgang 1929, Nr. 11 (15. März) S. 85f., Nr. 12 (22. März), S. 89f., Nr. 13 (5. April), S. 97-99, Nr. 14 (12. April), S. 107 f., Nr. 15 (19. April), S. 113-115, Nr. 16 (26. April), S. 121-123] 1. Die Krise des Blockes. Die Kampagne gegen die Rechten eröffnet ein einigermaßen neues Kapitel. Diese Kampagne unterscheidet sich von anderen durch viel Geräusch und außerordentlichem Lärm – dabei fehlt jede politische Bestimmtheit. Die Kampagne ist vor allem ein literarischer Deckmantel für die organisierte Arbeit der Stalinleute hinter den Kulissen, für ihre Rechtfertigung vor der Partei. Politisch kann die Kampagne auch nichts Konkretes aufweisen, denn sonst müsste man die gemeinsamen Sünden der Rechten und des Zentrums aufzählen. Aber zu gleicher Zeit zeigt die Kampagne die Krise an, – noch nicht den Zerfall, aber schon eine ernste Krise des regierenden Blockes. Das vorhergehende Abgleiten hat den Übergang der Quantität in eine neue Qualität vorbereitet. Die offene soziale Umwandlung von bedeutenden Gruppen und Schichten der Partei schaut aus allen Spalten hervor. Der Zentrismus erschrickt vor den „reifsten" Früchten seiner Hände, besonders unter der Peitsche der Opposition. Aber der Zentrismus ist an Händen und Füßen gebunden, – durch den gestrigen Tag, durch seine „national-sozialistische" Einstellung, durch seine politische Kleinspalterei, durch seine theoretische Armut. Bei der Attacke auf die Rechten ist er sorgfältig bedacht, sich nicht selbst zu verwunden. Hieraus folgt der zwiespältige Charakter der ganzen Kampagne: wenn sie praktisch die Reinigung der Partei von den offenen Elementen des Ustrjalowismus bedeuten kann und die Verzögerung des Abgleitens und der Umwandlung, so bedeutet sie aber zu gleicher Zeit auch die weitere Desorganisierung des Parteigedankens, die weitere Zerweichung der marxistischen Methode und damit die Vorbereitung zu neuen noch wirreren und gefährlichen Etappen in der Entwicklung der Partei. Stalin und Molotow versuchen die Sache so darzustellen, als ob ihre Linie die des unversöhnlichen Kampfes wie gegen die linken „Pessimisten" so auch gegen die rechten Liquidatoren sei. Ein ganz großer Unsinn ist der zentrale Gedanke der jetzigen Kampagne, als ob die marxistische Politik aus dem Kampf gegen rechts und links bestehe, und dabei aus einem gleich unversöhnlichen Kampf nach beiden Seiten. Rechts von der marxistischen Politik steht die mächtige Welt des Imperialismus mit ihrer noch immer gigantischen versöhnlerischen Agentur. Das Ist der Feind. Links von der marxistischen Linie können nur fehlerhafte Tendenzen innerhalb des Proletariats selbst, die Kinderkrankheiten der Partei usw. sein. Der äußerste Ausdruck dieser falschen Linksheit ist der Anarchismus. Aber die Stärke und der Einfluss dieser Tendenzen sind desto kleiner, desto geringfügiger, je kühner je entschlossener, und folgerichtiger die revolutionäre Partei den Opportunismus bekämpft. Das ist im Besonderen das historische Verdienst des Bolschewismus. Der Kampf nach links trug beim Bolschewismus immer nur einen episodenhaften, untergeordneten Charakter. Die Stalinsche Formel „einen gleich unversöhnlichen“ Kampf nach rechts und links – ist keine bolschewistische Formel, sondern eine traditionelle Formel des kleinbürgerlichen Radikalismus. Diese Tradition ist von der jetzigen Sozialdemokratie in all ihren Schattierungen übernommen worden. Die Formel des Kampfes nach rechts und links als eine leitende Formel charakterisiert, allgemein gesprochen, jede Partei, die zwischen den Hauptklassen der jetzigen Gesellschaft laviert. Unter den Bedingungen bei uns ist diese Formel der politische Pass des Zentrismus. Sonst könnte man die Lösung der Frage nicht finden: wie konnte die Fraktion Stalin-Molotow im engen Block mit den bürgerlich-restaurierenden Rechten bestehen? Und noch mehr: wie kann sie faktisch auch jetzt noch im Block verbleiben? Und doch ist die Antwort so einfach: der regierende Block war nicht ein widernatürliches Bündnis des Bolschewismus mit der bürgerlichen Restauration, sondern ein Bündnis des abgleitenden rechten Zentrismus mit dem Ustrjalowismus. Dieses Bündnis ist kein widernatürliches. Der Block der Zentristen verschiedener Färbung mit den offenen Versöhnlern und sogar mit Verrätern bei einem heftigen Kampf gegen die Linken ist in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung zu finden. Wenn Stalin und Molotow heute eine „zornige" Charakteristik des rechten Flügels geben, indem sie sie teilweise aus der oppositionellen Plattform abschreiben, so geben sie hiermit zum besten ihre eigene Charakteristik, die Charakteristik ihrer Linie, ihrer Gruppierung. Auf diese Art und Weise befassen sie sich mit einer tödlichen „Selbstkritik", ohne dass sie es ahnen. Aber vielleicht hat sich die Lage jetzt radikal geändert nach der Erklärung des sogenannten unerbittlichen Kampfes gegen die rechte Abweichung? Vorläufig wäre es zum mindesten leichtfertig, irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Den Leninistischen Flügel auf die Regierungsposten, den rechten – hinter den Ural und den Kaukasus. Das entscheidet. Klar ist eins: die Zeit der Sorglosigkeit für den Block der Zentristen mit den Rechten ist vorüber. Der Februarrutsch der Zentristen hat seine inneren Zickzackwege. Von Februar bis Juli, von Juli bis November und weiter. Sehr eilfertig haben die Genossen geurteilt, die da meinten, dass das Juliplenum den Kampf der Zentristen mit den Rechten beendet habe, und dass die Widersprüche zwischen ihnen jede politische Bedeutung verloren hatten. Nein, das ist falsch. Ebenso falsch wäre es aber, zu meinen, dass das Zerwürfnis zwischen den Zentristen und den Rechten unwiderruflich wäre. Und vollkommen leichtsinnig wäre es, wenn man die Umkehr des Zentrismus auf den Weg der Rechten für ausgeschlossen halten würde. Aus dieser allgemeinen Kennzeichnung der Kampagne, als einer durch und durch zwiespältigen, ergeben sich auch die Aufgaben der Bolschewiken-Leninisten. Einerseits ist jeder wirkliche, noch so schüchterne Schritt nach links der Führer des Zentrismus zu unterstützen, andererseits sind diese Genossen der Führung des Zentrismus gegenüberzustellen, um die Prinzipienlosigkeit und die Unzulänglichkeit der Führung zu entlarven. Diese beiden Aufgaben werden dem Wesen nach mit ein und denselben Methoden gelöst. Die Unterstützung eines jeden Schrittes nach links drückt sich eben dadurch aus, dass die Bolschewiken-Leninisten in jedem konkreten Fall klar und deutlich das wirkliche Ziel formulieren, die echten bolschewistischen Methoden propagieren und die lügenhafte Halbheit der zentristischen Führung entlarven. Eine andere Unterstützung kann nicht sein. Dafür ist diese auch die wirksamste. Die Klarheit der allgemeinen Aufgaben nimmt uns aber nicht die Verpflichtung ab, uns näher mit der neuen Etappe zu belassen, und sie ganz konkret zu formulieren im Licht der allgemeinen Entwicklung der Partei und der Revolution. 2. Fünf Jahre der gesellschaftlich-politischen Reaktion auf der Grundlage der proletarischen Diktatur Man muss klar und deutlich sagen: das Jahrfünft nach Lenins Tode war ein Jahrfünft der gesellschaftlich-politischen Reaktion. Und die nachleninsche Leitung wurde ein unfreiwilliger, aber desto wirklicherer Ausdruck dieser Reaktion, und damit zur Waffe dieser Reaktion. Perioden der Reaktion im Gegensatz zu der Konterrevolution – entstehen unter der Herrschaft ein und derselben Klassen. Die feudale Selbstherrschaft kannte Perioden der „liberalen" Reformen und der „leibeigenen'" Konterreformen. Die Herrschaft der Bourgeoisie, angefangen von der Epoche der großen Revolutionen, kannte den Wechsel von Perioden stürmischer Bewegung nach vorwärts mit Perioden des Zurückweichens. Hierdurch wurde zum Teil des Wechsel der verschiedenen Parteien an der Macht bestimmt in den verschiedenen Perioden der Herrschaft einer und derselben kapitalistischen Klasse. Nicht nur die Theorie, sondern auch die lebendige Erfahrung der letzten elf Jahre zeugen davon, dass auch das proletarische Regime nicht nur Perioden der Vorwärtsbewegung kennt, sondern auch Perioden der gesellschaftlich-politischen Reaktion. Natürlich nicht der Reaktion „überhaupt", sondern der Reaktion auf der Grundlage der siegreichen proletarischen Revolution, die der kapitalistischen Welt entgegensteht. Der Wechsel dieser Perioden wird durch den Gang des Klassenkampfes bestimmt. Die Perioden der Reaktion ändern die Grundlage der Klassenherrschaft nicht, d.h. sie bedeuten nicht den Übergang der Macht von der einen Klasse zu der anderen (das würde schon die Konterrevolution bedeuten), sie bedeuten aber eine Änderung der Klassenverhältnisse und eine Umgruppierung der Elemente innerhalb der Klasse. Die Periode der Reaktion wurde nach einer Periode einer mächtigen revolutionären Vorwärtsbewegung im Wesentlichen bei uns dadurch hervorgerufen, dass die zerschlagenen, zurückgedrängten oder erschrockenen alten besitzenden Klassen dank der objektiven Lage und der Fehler der revolutionären Leitung ihre Kräfte wieder sammeln und allmählich zum Angriff übergehen konnten, hauptsächlich durch den bürokratischer Apparat. Andererseits hat die siegreiche Klasse, das Proletariat das seinerzeit von außen nicht unterstützt wurde, und immer neuen Schwierigkeiten gegenüberstand, die Kraft des ersten Anstürmens verloren und sich differenziert, indem es nach oben hin die selbstherrliche Bürokratie abstieß und nach unten die müden und direkt hoffnungslosen Elemente aufnahm. Der schwachen Aktivität des Proletariats steht die wachsende Aktivität der bürgerlichen Klassen gegenüber, d. h. vor allem jener Schichten des Kleinbürgertums, die auf den alten Ausbeutungswegen nach oben streben. Es ist unnötig, zu beweisen, dass diese Prozesse der inneren Reaktion nur unter den Bedingungen der schwersten Niederlagen des Weltproletariats und der immer sicherer bildenden Position der imperialistischen Bourgeoisie sich entwickeln und eine solche Kraft erhalten konnten. Die Niederlage der internationalen Revolution ist wiederum im entscheidenden Maßstabe von der zentristischen Linie der Führung der Komintern bestimmt worden, einer Linie, die ganz besonders gefährlich ist wahrend der großen revolutionären Krisen. Man kann erwidern: Kann man denn die Periode des wirtschaftlichen Wachsens des sozialistischen Aufbaues des Landes usw. Reaktion nennen? Aber diese Erwiderung geht glatt am Ziel vorbei. Der Aufbau ist ein widerspruchsvoller Prozess. Das erste Stadium der Aufschwunges nach den Jahren der Zerrüttung und des Hungers, das Stadium des Restaurations-Prozesses, hat gerade die Bedingungen der gesellschaftlich-politischen Reaktion geschaffen; die ausgehungerte Arbeiterklasse war dazu geneigt, zu glauben, dass auch jetzt alles ohne Aufenthalt vorwärts gehen wird. Von oben her hat man sie darin noch gestärkt. Aber unterdessen hat der Aufschwung seine Widersprüche gezeigt, die durch die blinde und falsche Politik der Leitung noch vertieft wurden, die zur Verringerung seines politischen Selbstgefühls führte. Natürlich hat der Umstand, dass der wirtschaftliche Aufschwung das Proletariat in den Fabriken und Betrieben wieder sammelte, seine Kader erneut aufgefüllt und dadurch sind soziale Vorbedingungen für einen neuen revolutionären Aufschwung des Proletariats geschaffen. Aber das gehört schon zum nächsten Stadium. Es sind Symptome vorhanden, die die Annahme gestatten, dass diese politische Belebung schon angefangen hat und einer der Faktoren ist, die die Zentristen auf die Seite der Selbstkritik und zum Kampfe gegen die Rechten vorwärts gepeitscht haben. Es ist unnötig, zu sagen, dass in dieser Richtung auch der stählerne Splitter der Opposition wirkt, und welchen kein Chirurg aus dem Körper der Partei herausziehen kann. Beide Umstände, das Lebendigwerden der Arbeitermassen und de oben „unerwartete“ Rührigkeit der Opposition eröffnet, wenn nicht alles täuscht, eine neue Periode, mit der nicht zufällig der Kampf der Zentristen gegen Rechts zusammenfällt. Die frühere Periode, die sich aufgrund des Restaurationsprozesses mit all seinen Illusionen entwickelt hat, ist charakterisiert durch das Sinken der Aktivität des Proletariats, durch das Lebendigwerden der bürgerlichen Schichten, dem Ersticken der Arbeiterdemokratie, und der darauf folgenden Zerschlagung des linken Flügels. Mit anderen Worten: das war eine Periode der gesellschaftlich-politischen Reaktion. Die Periode der Reaktion ist ideologisch durch den Kampf gegen den den „Trotzkismus" gefärbt. Unter diesem Namen figurierten in der offiziellen Presse ganz verschiedenartige und oft gar nicht zusammenpassende Ideen, Splitter der Vergangenheit, bolschewistische Aufgaben der Gegenwart, untergeschobene Zitate usw. Aber im Allgemeinen wurde mit Trotzkismus all das benannt, was die abgleitende offizielle Leitung von sich zu stoßen gezwungen war. Die gesellschaftlich-politische Reaktion ist undenkbar ohne Durchsicht und Ablehnung der klarsten und unversöhnlichsten Ideen und Losungen des Marxismus. Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution und der Klassencharakter der Partei – das sind die zwei Ideen, welche in ihrer reinblütigen Art den mit der Strömung schwimmenden Politikern der reaktionären Periode unerträglich sind. Der Kampf gegen diese zwei Grundideen wurde, zuerst feig auf Umwegen, dann immer frecher, unter dem Namen eines Kampfes gegen den Trotzkismus geführt. Das Resultat dieses Kampfes waren zwei elende und verachtungswürdige führende Ideen; die Idee des Sozialismus in einem Lande, d.h. der Nationalismus, und die Idee zweier zusammengesetzten Arbeiter-Bauernparteien, d. h. der Tschernowtschina. Die erste dieser Ideen, die zum Teil unsere wirtschaftliche Schwanzpolitik deckte, brachte die Oktoberrevolution in große Gefahren. Die zweite dieser Ideen, die die Theorie und die Praxis der Kuomintang herbeiführte, erstickte die chinesische Revolution. Beide „Ideen" haben Stalin zu ihrem Schöpfer. Das ist sein einziges theoretisches Aktivum. Zwischen der Periode der Reaktion und der Konterrevolution besteht, wie schon gesagt, der Unterschied; dass sich die Reaktion unter der Herrschaft derselben Klasse entwickelt, während die Konterrevolution den Wechsel der Klassenherrschaft bedeutet. Aber ganz klar ist, dass, wenn die Reaktion auch nicht dasselbe ist wie die Konterrevolution, so bereitet sie doch für die letztere die politischen Bedingungen vor, und kann sich als eine Einleitung zu ihr erweisen. Wenn man sich an diesen breiten historischen Maßstab hält. d. h. alles Nebensächliche weglässt, so kann man sagen, dass seitdem der Zerfall des regierenden Blockes in Zentristen und Rechte zutage trat, die Methoden der gesellschaftlich politischen Reaktion hart an die Methoden des Thermidors grenzen. Unnötig zu erklären, dass der jetzt bestehende Kampf der Zentristen gegen die Rechten dem Obengesagten nicht nur nicht widerspricht, sondern im Gegenteil voll und ganz, sozusagen in offizieller Art, es bestätigt. Die Opposition war niemals der Meinung, dass das Abgleiten zum Thermidor etwas Ununterbrochenes, Einheitliches, Glattes für die ganze Partei sein wird. Wir haben zehn- und hundertmal vorhergesagt, dass dieses Abgleiten die feindlichen Klassen mobilisieren wird; dass die schweren sozialen Schwänze den Apparat um den Kopf schlagen werden; dass dieses ein Auseinanderfallen nicht nur in den breiten Parteimassen, sondern auch im Apparat hervorrufen wird: und endlich, dass diese Teilung neue günstigere Bedingungen für die Arbeit der Bolschewiki-Leninisten schaffen wird, einer Arbeit, die nicht nur gegen die offenen Versöhnler, sondern auch gegen den Zentrismus gerichtet ist. Somit ist die letzte Kampagne eine Bestätigung der Teilprognose der Opposition, die ganz eng verbunden ist mit der allgemeinen Prognose in Bezug der thermidorianischen Gefahr. 3. Das bürokratische Regime als das Rüstzeug der reaktionären Tendenzen und Kräfte Wie alle Vorgange in der Partei, so muss man auch den Kampf der Zentristen und der Rechten nicht nur vom breiten Maßstab der Klassentendenzen, sondern auch vom engen Maßstab des Apparat-Regimes aus betrachten. Es ist ja kein Geheimnis, dass der lärmvolle inhaltslose „Ideen"kampf gegen die Rechten lediglich die Begleitmusik zu den vorläufig noch vorbereitenden Machinationen des Apparates gegen Bucharin, Rykow und Tomski bedeutet. Diese Frage ist nicht ohne Bedeutung, wenn man den Platz der genannten drei im heutigen partei-sowjetischen System beachtet. Rykow und Tomski haben immer etwas wie „Sympathie“ zum Opportunismus empfunden. In der Oktoberzeit hat sich das erst offen und klar gezeigt. Aber bei einem gesunden Parteileben und einer richtigen Parteiführung würden sie ihre opportunistischen Neigungen für sich behalten. Dasselbe muss man auch von Bucharin sagen mit seinem Übergang von den Ultralinken zu den Ultrarechten. Wenn man diese Frage vom persönlichen Standpunkt aus betrachtet (wie es Lenin getan hat, z.B. in seinem Testament), so muss man sagen, dass der Zerfall Stalins mit den dreien lange, bevor sich die drei auf der rechten Plattform zusammengefunden haben, vorhergesagt worden ist Dieses Zerwürfnis, das aus der Tendenz des bürokratischen Regimes zur Einzelherrschaft entsteht, ist von der Opposition vor mehr als zwei Jahren genau vorausgesagt worden, im September 1926, als von einem Kampf gegen die Rechten noch gar keine Rede war. In dem Dokument der Partei über „die Einheit der Partei" heißt es: „Das Ziel dieser Diskussionen und organisatorischen Schlussfolgerungen ist die volle Zerschlagung jenes Kerns, welcher bis unlängst die alte leninistische Garde genannt wurde und ihr Ersatz durch die alleinige Leitung Stalins, der sich auf eine Gruppe von Genossen stützt, die immer mit ihm einer Meinung sind. Nur ein Dummkopf oder ein hoffnungsloser Bürokrat kann ernstlich meinen, dass der Stalinsche Kampf um die Einheit der Partei die Einheit wirklich sichern kann, auch um den Preis der Zerschlagung der alten führenden Gruppe und der heutigen Opposition überhaupt. Je näher Stalin dem Ziele zu sein scheint, desto weiter ist er in Wirklichkeit davon entfernt. Die Alleinherrschaft in der Partei, welche Stalin und seine engere Gruppe die „Einheit der Partei" nennen, verlangt nicht nur die Zerschlagung, die Beseitigung, die Absägung der heutigen vereinigten Opposition, sondern auch die allmähliche Beseitigung der Führung der einflussreichsten Vertreter der heute regierenden Fraktion. Es ist ganz klar, dass weder Tomski, noch Bucharin, noch Rykow durch ihre Vergangenheit, ihre Autorität usw. nicht fähig sind, unter Stalin die Rolle zu spielen, welche unter ihm Uglanow, Kaganowitsch, Petrowski und andere spielen. Eine neue Diskussion käme dann an die Reihe, in welcher Kaganowitsch Rykow entlarven würde, Uglanow – Tomski und die Slepkows & Co. Bucharin. Nur ein hoffnungsloser Dummkopf kann die Unausbleiblichkeit dieser Perspektive nicht sehen. Unterdessen würden die offenen opportunistischen Elemente der Partei den Kampf gegen Stalin als einen von „linken“ Vorurteilen befangenen und als einen, der das schnellere und offenkundigere Abgleiten stört, eröffnen". In dieser Voraussagung erweist sich jetzt nach mehr als zwei Jahren nur der Hinweis auf Uglanow und Slepkow als irrig, aber das ist erstens eine Kleinigkeit und zweitens: geduldet euch eine kleine Frist, sie werden ihren „Fehler" verbessern. Hören wir jetzt, wie der weise Tomski gezwungen ist, heute zu bekennen, dass er nichts versteht, nichts vorausgesehen hat, blindlings hinein getappt ist. Folgendes schrieb hierüber ein gut orientierter Genosse: „In einem Gespräch mit Freunden klagte Tomski: „Wir dachten, dass, nachdem wir mit Trotzki fertig geworden sind, wir ruhig werden arbeiten können; aber es erweist sich, dass man gegen uns dieselben Kampfesmethoden anwenden will!" Bucharin sprach sich ähnlich aus, nur etwas weinerlicher. Im Folgenden seine Worte, absolut wahrheitsgetreu: „Wer ist er? Es geht vom Meister die Rede. Ein ganz prinzipienloser Intrigant, er sorgt sich nur um die Beibehaltung der Macht, und diese Sorge beherrscht alles. Er wechselt schroff seine Theorien, die abhängig sind davon, wen er im gegebenen Moment aus dem Felde schlagen muss … usw. Die unglückseligen „Führer“, die nichts verstehen und nichts vorhersehen, sind natürlich geneigt, den Hauptgrund ihrer Misserfolge in den Intrigen des Gegners zu sehen, damit rücken sie seine Persönlichkeit in das Gigantische, was er in keiner Weise besitzt. Die Sache ist die, dass das Abgleiten von der Klassenlinie unweigerlich zur Macht der bürokratischen Maschine führt, welche für sich einen adäquaten Vertreter sucht. Die Umgruppierung in den Klassen und zwischen den Klassen hat die Lage für den Sieg des bürokratischen Zentrismus geschaffen. Von den Meistern des Apparates, die unter der alten Flagge auftraten, wurde vor allem verlangt, dass sie nicht verstehen was vorgeht und mit der Strömung treiben. Hierzu waren Leute vom Typ der Empiriker, welche in jedem Augenblick die „Richtlinien“ schufen. Die Stalins, die Molotows, die Uglanows u.a. erwiesen sich am wenigsten gesichert gegen den Einfluss der unterirdischen sozialen Vorgänge, wegen ihres eng begrenzten theoretischen Horizonts. Wenn man die Biographie dieser Elemente einzeln durchsieht, die vor dem Oktober und nach dem Oktober in der 2., 3. und 10. Linie standen, und jetzt erst an die erste Stelle vorgerückt sind, so ist es nicht schwer zu beweisen, dass sie in allen wichtigen Fragen, sobald sie sich selbst überlassen waren, zum größten Teil – Stalin mit eingerechnet – zu Opportunismus neigten. Man darf nicht1 die historische Linie der Partei mit der politischen Linie jenes ihres Teiles, welcher erst mit der Welle der gesellschaftlich-politischen Reaktion des letzten Jahrfünfts nach oben kam, verwechseln, Die historische Linie der Partei wurde im harten Kampfe der inneren Tendenzen im ständigen Überwinden der inneren Widersprüche geschaffen. In diesem Kampfe spielten die heute führenden Elemente keine große Rolle, zum größten Teil vertraten sie den gestrigen Teil der Partei. Darum waren sie in der entscheidenden Zeit des Oktobers wie verloren und hatten gar keine selbständige Rolle. Noch mehr: Wenigstens die Hälfte der heutigen Führer, die sich die „alte Garde“ nennen, befanden sich im Oktober auf der anderen Seite der Barrikaden; ein großer Teil von ihnen hat vorher in dem imperialistischen Krieg eine patriotische oder sehr dünne pazifistische Stellung eingenommen, Unbegründet ist der Gedanke, dass diese Elemente selbständig gegen die reaktionären Tendenzen im Weltmaßstabe Widerstand aufbringen würden, wie es ja auch die Geschichte der letzten Zeit gezeigt hat. Nicht umsonst assimilieren in ihrer Mitte die Martynows, die Larins, die Rafes, die Ljadows. die Petrowskis. die Kerschenzews, die Gussows, die Krschlanowskis u.a. Gerade diese Schicht ist es, die, nach dem Bekenntnis Ustrjalows, die tauglichste ist, die das erschütterte Land allmählich zur „Ordnung" zurückführen wird. Ustrjalows nimmt das weit entfernte Beispiel der Zeit der Wirren (Ende des 16. Jahrhunderts, Anfang des 17.), bezieht sich auf Kljutschewski, welcher sagt, dass „der moskowitische Staat aus den furchtbaren Wirren ohne Helden hervorgegangen ist: aus dem Unglück retteten ihn gute, aber Durchschnittsmenschen". (Kljutschewski, Ausgabe 1923, Band 3, Seite 75.) Ob der „Güte" der heutigen Kandidaten des Retters aus den Wirren |
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