Revolutionskunst und sozialistische Kunst Sozialistische Stagnation oder höchste Dynamik? _ Der „Realismus" der Revolutionskunst. – Sowjetisches Lustspiel. – Die alte und die neue Tragödie. – Kunst, Technik und Natur. – Die Umgießung des Menschen. (Feststehendes und Hypothetisches) Wenn man von der Kunst der Revolution spricht, so meint man zweierlei Kunsterscheinungen: einerseits die Werke, die ihrem Thema, ihrem Sujet nach die Revolution wiedergeben; andererseits aber die Werke, die thematisch mit der Revolution nicht verbunden sind, jedoch von ihr durch und durch getragen, von einem neuen Bewusstsein gefärbt sind, das sich infolge der Revolution ergeben hat. Es ist vollkommen klar, dass es Erscheinungen sind, die in ganz verschiedenen Ebenen liegen und wenigstens liegen können. Alexej Tolstoi gestaltet in seinem Roman „Höllenfahrt" die Periode des Krieges und der Revolution. Aber es ist die alte Schule von Jasnaja Poljana (Leo Tolstoi), ihr Gesichtswinkel, ihre Einstellung, nur in unermesslich kleinerem Maßstab. In Anwendung auf diese Ereignisse allergrößten Maßstabes erinnert dies nur noch grausamer daran, dass Jasnaja Poljana einmal da war, aber zu Ende ist. Hingegen, wenn der junge Dichter Tichonow nicht über die Revolution, sondern über einen Grünkramladen schreibt – über die Revolution geniert er sich gewissermaßen zu schreiben (noch oder schon?) –, so perzipiert und schildert er mit so viel Frische und leidenschaftlicher Vehemenz ihre träge Starrheit, wie es nur ein Dichter tun kann, der von der Dynamik der neuen Epoche kommt. Wenn also Werke über die Revolution und die Kunst in der Revolution nicht ein und dasselbe sind, so haben sie dennoch eine gemeinsame Berührungslinie Die Künstler, die aus der Revolution herkommen, können nicht umhin, über die Revolution zu schreiben. Andererseits muss die Kunst, die entschieden etwas über die Revolution zu sagen haben wird, die Einstellung des alten Tolstoi in ihrer Gräflichkeit und Muschikfreundlichkeit aufgeben. Es gibt noch keine Revolutionskunst, Aber es gibt Elemente dieser Kunst, gibt Andeutungen, Versuche, und vor allem, es gibt den revolutionären Menschen, der seinem Abbilde nach die neue Generation gestaltet und der diese Kunst immer mehr braucht. Wie viel Zeit ist nötig, damit sie sich entschieden offenbare? Es lassen sich da schwer Vermutungen anstellen, denn es ist ein imponderabiler Prozess, der sich nicht berechnen lässt, und wir sehen uns gezwungen, bei der Bestimmung der Termine sogar der materielleren gesellschaftlichen Prozesse uns auf Mutmaßungen zu beschränken. Aber warum sollte die erste große Welle dieser Kunst nicht auch bald kommen, als Kunst jener jungen Generation, die in der Revolution geboren worden ist und die Revolution in sich vorwärts trägt? Man darf die Revolutionskunst, die alle Widersprüche der Öffentlichkeit in der Übergangszeit in sich widerspiegelt, nicht mit der sozialistischen Kunst verwechseln, für die die Grundlage noch nicht geschaffen worden ist. Man darf andererseits nicht vergessen, dass die sozialistische Kunst aus der Kunst der Übergangsepoche erwachsen wird. Wenn wir auf dieser Trennung beharren, lassen wir uns keineswegs von irgendwelchen pedantischen Rücksichten eines Schemas leiten. Nicht umsonst hat Engels die sozialistische Revolution als Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit bezeichnet. Die Revolution selbst ist noch nicht das „Reich der Freiheit". Im Gegenteil, in ihr erfahren die Züge der „Notwendigkeit" die äußerste Entwicklung. Wenn der Sozialismus, zusammen mit den Klassen, die Klassengegensätze aufhebt, so treibt die Revolution den Klassenkampf zur höchsten Intensität. Im Zeitalter der Revolution ist jene Literatur notwendig und fortschrittlich, die den Zusammenschluss der Werktätigen im Kampfe gegen die Ausbeuter fördert. Die revolutionäre Literatur muss vom Geiste des sozialen Hasses durchdrungen sein, der in der Epoche der proletarischen Diktatur einen schöpferischen Faktor in den Händen der Geschichte darstellt. Im Sozialismus bildet die Grundlage der Gesellschaft die Solidarität. Die ganze Literatur, die ganze Kunst muss nach einer anderen Stimmgabel getönt werden. Jene Gefühle, die wir, Revolutionäre, jetzt mitunter in Verlegenheit sind, beim Namen zu nennen, so sehr sind diese Namen vulgarisiert und abgedroschen: selbstlose Freundschaft, Nächstenliebe, herzliche Teilnahme werden in der sozialistischen Poesie als mächtige Akkorde erklingen. Aber birgt nicht, wie es die Nietzscheaner befürchten, ein Übermaß von Solidarität die Gefahr in sich, dass der Mensch zu einem sentimental-passiven Herdenwesen ausarte? Keineswegs. Die mächtige Kraft des Wetteiferns, die in der bürgerlichen Gesellschaft den Charakter der Marktkonkurrenz trägt, wird in der sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht verschwinden, sondern wird, um in der Sprache der Psychoanalyse zu sprechen, sich sublimieren, d. h. eine höhere und fruchtbarere Form annehmen: sie wird zum Kampfe um die eigene Meinung, um den eigenen Entwurf, um den eigenen Geschmack werden. Je mehr der politische Kampf ausgeschaltet werden wird – in der klassenlosen Gesellschaft wird es keinen geben --, werden die freigewordenen Leidenschaften in das Fahrwasser der Technik und des Aufbaus gelenkt werden; dazu ist auch die Kunst zu rechnen, die natürlich allgemeiner, reifer, gestählter werden wird und zur höchsten Form des sich vervollkommnenden Lebensaufbaus auf allen Gebieten und nicht allein des „schönen" Nebenbei werden wird. Sämtliche Lebenssphären: die Bodenbestellung, die Planierung der menschlichen Siedlungen, die Schöpfungen der Theater, die Methoden der gesellschaftlichen Kindererziehung, die Lösung der wissenschaftlichen Probleme, die Schaffung eines neuen Stils, werden jeden einzelnen und alle zusammen aufs lebhafteste interessieren. Die Menschen werden sich in „Parteien" teilen in Fragen eines neuen Riesenkanals oder der Verteilung der Oasen der Sahara – auch eine solche Frage wird es geben –, der Regelung des Wetters und des Klimas, eines neuen Theaters, einer chemischen Hypothese, der verschiedenen Richtungen in der Musik, des besten Systems des Sportes. Diese Gruppierungen werden von keinem Klassen- oder Kastenegoismus verpestet sein. Alle werden in gleichem Maße an den Leistungen der Gesamtheit interessiert sein. Der Kampf wird einen rein geistigen Charakter haben. Er wird nichts mit Profitsucht, Gemeinheit, Verrat und Korruption zu tun haben, mit all dem, was das Wesen der „Konkurrenz" in der Klassengesellschaft ausmacht. Aber dadurch wird der Kampf nicht minder aufregend, dramatisch, leidenschaftlich sein. Da in der sozialistischen Gesellschaft sämtliche Fragen – auch solche, die früher elementar und automatisch gelöst wurden (das Alltagsleben) oder der Obhut besonderer Priesterkasten überlassen waren (die Kunst) – Allgemeingut sein werden, so kann man mit Entschiedenheit sagen, dass für Kollektivinteressen und Leidenschaften sowie individuelle Konkurrenz ein weites Feld und eine grenzenlose Anzahl von Anlässen bestehen werden. Die Kunst wird also keinen Mangel empfinden an jenen Entladungen der gesellschaftlichen Nervenenergie, an jenen kollektiv-psychischen Anstößen, die die Gründung neuer Kunstrichtungen und den Wechsel der Ziele erzeugen. Die ästhetischen Schulen werden ihrerseits sich rings um ihre „Parteien" gruppieren, d. h, um die Gruppierungen der Temperamente, der Geschmäcker und der Geistesrichtungen. In diesem selbstlosen und intensiven Kampfe, auf dem immer steigenden Fundament der Kultur wird vielkantig die menschliche Persönlichkeit wachsen und sich abschleifen, mit ihrer unschätzbaren Grundeigenschaft: sich niemals mit dem Erreichten zufriedenzugeben. Wahrlich, wir haben keinen Grund, zu befürchten, dass die Persönlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft einschlafen oder verkümmern wird. Welche von den alten Bezeichnungen passt für die Kunst der Revolution? Genosse Ossinski schrieb einmal, dass sie realistisch sein wird. Darin steckt ein richtiger und bedeutender Gedanke. Doch vergegenwärtigen wir uns, um nicht fehl zugehen, was der Begriff bedeutet. Der vollendetste künstlerische Realismus fällt bei uns mit dem goldenen „Zeitalter der Literatur" zusammen, nämlich mit der Klassik der Adelsliteratur. Die Periode des tendenziösen Schematismus, als man über ein Werk urteilte vorwiegend nach den gesellschaftlichen Absichten des Verfassers, fällt mit der Epoche zusammen, da die erwachende Intelligenz einen Weg zur gesellschaftlichen Tat suchte und zur Verbindung mit dem ..Volke" gegen das alte Regime strebte. Die Dekadenz und der Symbolismus, die im Gegensatz zu dem bis dahin herrschenden „Realismus" auftraten, fällt in die Epoche, als die Intellektuellen, vom Volke getrennt, ihre eigenen Erlebnisse vergötternd und faktisch sich der Bourgeoisie unterordnend, nur danach trachteten, psychologisch und ästhetisch sich in der Bourgeoisie nicht aufzulösen. Der Symbolismus beschwor die himmlischen Regionen, ihm dabei zu helfen. Der Futurismus der Vorkriegszeit kennzeichnete den Versuch, auf individualistischem Wege sich aus dem Banne des Symbolismus zu befreien und einen persönlichen Halt in den unpersönlichen Leistungen der materiellen Kultur zu finden. Das ist die grobe Logik der Aufeinanderfolge der großen Perioden in der Entwicklung der russischen Literatur. Jede dieser Richtungen schloss in sich eine bestimmte gesellschaftliche oder Gruppen-Weltauffassung, die ihren Stempel aufdrückte den Stoffen der Werke, ihrem Sujet, der Wahl des Milieus, der handelnden Personen usw. usw. Der Begriff des Inhalts streift nicht das Subjekt im formalen Sinne des Wortes, sondern die gesellschaftliche Auffassung. Eine Epoche, eine Klasse und ihre Weltempfindung finden in der subjektlosen Lyrik ebenso ihren Ausdruck wie in dem sozialen Roman. Ferner handelt es sich um die Form. Diese letztere entwickelt sich – innerhalb gewisser Grenzen – nach ihren eigenen Gesetzen wie jede Technik. Jede neue Literaturschule, wenn sie tatsächlich eine Schule ist und nicht ein willkürlicher Wurmfortsatz, ergibt sich aus der ganzen vorhergehenden Entwicklung, aus der bereits vorhandenen Meisterschaft der Worte und der Farben, und verlässt das bereits erreichte Ufer zu neuen Fahrten und Eroberungen. Die Entwicklung geht auch hier dialektisch vor sich: die neue Kunstrichtung negiert die vorhergehende. Warum? Offenbar wird es irgendwelchen Gedanken und Gefühlen im Rahmen der alten Methoden zu eng. Aber zugleich finden die neuen Stimmungen in der alten, bereits verhärteten Kunst solche Elemente, die bei einer Weiterentwicklung ihnen den nötigen Ausdruck verleihen können, – und es wird das Banner des Aufruhrs gegen das „Alte" im Allgemeinen erhoben, im Namen einiger Elemente, die entwicklungsfähig sind. Jede literarische Richtung war potentiell schon in der Vergangenheit enthalten, und jede entwickelte sich, indem sie mit der Vergangenheit feindselig gebrochen hatte. Das Wechselverhältnis zwischen Form und Inhalt (unter dem letzteren ist nicht einfach das „Thema" zu verstehen, sondern der lebendige Komplex der Stimmungen und Gedankengänge, die nach künstlerischem Ausdruck suchen) wird dadurch bestimmt, dass die neue Form entdeckt, verkündet und entwickelt wird gerade unter dem Druck des inneren Bedürfnisses, der kollektiv-psychologischen Anforderungen, die genau so in der ganzen menschlichen Psychologie ihre sozialen Wurzeln hat. Dadurch wird die Zwiespältigkeit jeder literarischen Richtung erklärt: sie liefert einen Beitrag zur Technik der Schöpfung, indem sie das allgemeine Niveau des Könnens hebt (oder senkt); andererseits verleiht sie in ihrer historischen Konkretheit einen Ausdruck bestimmten, letzten Endes Klassenbedürfnisses. Wir sagen: Klassenbedürfnisse, aber das bedeutet zugleich auch individuelle Bedürfnisse, denn aus dem Individuum spricht seine Klasse; das bedeutet auch nationale Bedürfnisse, denn der Geist der Nation wird von der Klasse bestimmt, die in ihr herrscht und sich dadurch ihre Literatur unterordnet. Nehmen wir den Symbolismus. Was ist darunter zu verstehen: die Kunst der symbolischen Umgestaltung der Wirklichkeit als formale Methode des künstlerischen Schaffens? Oder jene symbolische Richtung, deren Träger Block, Sologub und andere waren? Das Symbol ist keine Erfindung des russischen Symbolismus. Der letztere hat es vielleicht nur intimer dem Organismus der modernisierten russischen Sprache eingeimpft. In diesem Sinne wird die kommende Kunst, welche Wege sie auch einschlagen mag, auf das formale Vermächtnis des Symbolismus nicht verzichten wollen. Der russische Symbolismus der und der Jahre hat jedoch das Symbol für ganz bestimmte Aufgaben benutzt. Für welche? Die Dekadenzliteratur, die dem Symbolismus voranging, suchte die Lösung aller künstlerischen Fragen im Kelch der Erlebnisse der Persönlichkeit: Geschlecht, Tod usw., oder sogar fast ohne „usw.", nur: Geschlecht und Tod. Das musste sich in kurzer Zeit erschöpfen. Daraus ergab sich das Bedürfnis – ebenfalls nicht ohne gesellschaftlichen Anstoß –, die höchste Sanktion für die eigenen Bedürfnisse, Gefühle und Stimmungen zu finden und sie dadurch zu bereichern und zu heben. Der Symbolismus, der aus dem Bilde nicht einfach eine Kunstmethode, sondern ein Glaubenssymbol gemacht hat, wurde für die Intellektuellen zur Kunstbrücke, die zum Mystizismus führte. In diesem nicht abstrakt formalen, sondern konkret gesellschaftlichen Sinne war der Symbolismus nicht einfach eine Angelegenheit der Kunsttechnik, sondern bedeutete die Flucht der Intellektuellen aus der Realität durch Errichtung einer jenseitigen Welt, durch die künstlerische Erziehung einer selbstherrlichen Verträumtheit, Kontemplation, Passivität. In Block finden wir einen modernisierten Schukowski1! Die alten marxistischen Sammelbücher und Pamphlete (von 1908 und den darauf folgenden Jahren), so unbeholfen und vierschrötig sie in manchen ihren Verallgemeinerungen auch waren, und so sehr sie auch alles über einen Kamm schoren, gaben über das Thema „Literarischer Zerfall" eine unvergleichlich bedeutendere und richtigere Diagnose und Prognose als z. B. Genosse Tschuchak tut, der früher als viele Marxisten die Fragen der Form angeschnitten, sie aufmerksamer als die andern behandelt hat, aber, dem Einfluss der fortlaufenden künstlerischen Richtungen verfallend, in ihnen Etappen der Akkumulation proletarischer Kultur erblickte und nicht Etappen der wachsenden Entfremdung der Intellektuellen von den Volksmassen, Was soll man jetzt unter Realismus verstehen? In verschiedenen Epochen hat der Realismus den Gefühlen und Bedürfnissen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen Ausdruck verliehen und hat es mit recht verschiedenen Mitteln getan. Jeder dieser Realismen bedarf einer besonderen gesellschaftlich-literarischen Definition und einer besonderen formal-literarischen Wertung. Was haben sie gemein? Einen gewissen und nicht unwichtigen Zug der Weltempfindung, einen Drang nach dem Leben so wie es ist, nicht Flucht vor der Realität, sondern künstlerische Aufnahme, aktives Interesse für die Wirklichkeit, ihre konkrete Stabilität oder: Veränderlichkeit, das Bestreben, dieses Leben entweder darzustellen, so wie es ist, oder zur Krone der Schöpfung zu erheben, entweder zu rechtfertigen oder zu verdammen, abzukonterfeien oder zu verallgemeinern oder zu symbolisieren, namentlich auch dieses Leben, unsere drei Dimensionen, als ausreichende, vollwertige und selbstwertige Materie der Schöpfung, In diesem weiten, philosophischen und nicht schulmäßig literarischen Sinne darf man mit Bestimmtheit sagen, dass die neue Kunst realistisch sein wird. Die Revolution verträgt sich mit Mystik nicht. Wenn dasjenige, was Pilnjak, die Imaginisten und manche andere ihre Romantik nennen, ein – wie man befürchten kann – leiser Versuch zu einer Mystik unter anderem Namen ist, so wird sich die Revolution mit der Romantik nicht lange vertragen. Das ist nicht Doktrinarismus, sondern unüberwindliche psychologische Berechnung, In unseren Tagen kann es keine leicht transportable kokette Mystik „nebenbei" geben, so eine Art Schoßhündchen, Unsere Zeit haut mit dem Beil ein. Das von Grund auf aufgewühlte, stürmische, herbe Leben spricht: „Ich brauche einen Künstler von einer Liebe. Wenn Du mich auffängst und packst, so überlasse ich es Dir, Deinem Temperament, Deinem Genius, zu wählen, welche Werkzeuge und Instrumente, die durch die Entwicklung der Kunst geschaffen sind, Du wählst. Aber begreife mich so, wie ich bin, und nimm mich, wie ich werde, und außerhalb meiner gibt es für Dich nichts." Das bedeutet: realistischer Monismus im Sinne der Weltauffassung und nicht „Realismus" im Sinne des traditionellen Arsenals der literarischen Schule. Und umgekehrt: der neue Künstler wird alle von der Vergangenheit geschaffenen Methoden und Gepflogenheiten brauchen und noch welche dazu, um das neue Leben zu erfassen. Und dies wird keine künstlerische Eklektik sein, denn die Einheit des Schaffens wird von der aktiven Weltempfindung gegeben. In den Jahren 1918 und 1919 konnte man oft an den Fronten Truppenteilen begegnen, deren Aufzug mit Kavalleriepatrouillen anfing und mit Wagen schloss, die Schauspieler, Schauspielerinnen, Dekorationen und allerlei Requisiten mit sich führten. Der Platz der Kunst überhaupt ist im Train der historischen Entwicklung. Bei plötzlich eintretenden Veränderungen an unseren Fronten gerieten die Wagen mit den Schauspielern und Dekorationen mitunter in eine prekäre Lage und wussten nicht, wo sie bleiben sollten. Sie fielen oft den Weißen in die Hände. In ebenso schwieriger Lage befindet sich die ganze Kunst, die von einer jähen Veränderung auf der geschichtlichen Front überrascht worden ist. Besonders schwer hat es das Theater, das schon gar nicht ein und aus weiß. Merkwürdig ist dabei, dass das Theater, diese vielleicht konservativste Kunstart von allen, die radikalsten Theoretiker von allen hat. Bekanntlich ist der revolutionärste Stand im Verband der Sowjetrepubliken der Stand der Theaterrezensenten. Man müsste bei der erstbesten revolutionären Gelegenheit im Westen oder im Osten aus ihnen ein besonderes Bataillon „linker Theaterrezensenten" bilden. Wenn die Moskauer Theater „Die Tochter der Madame Angot", „Tarelkins Tod", „Turandot" und den „Großmütigen Hahnrei" aufführen, so lassen es sich die ehrwürdigen linken Theaterrezensenten noch gefallen. Als es aber zum Stücke Martinets2 kam, so wurden sie rebellisch (noch bevor Meyerhold Martinets Stück „Die rebellische Erde" inszenierte). Das Stück sei patriotisch. Martinet sei Pazifist! Der eine drückte sich sogar so aus: „Für uns ist das alles gestriger Tag und hat daher kein Interesse." Hinter dieser Linksheit steckt eben eine fürchterliche Spießigkeit und kein Deut revolutionären Geistes. Wenn wir sozusagen mit dem politischen Ausweis beginnen wollten, so war Martinet schon Revolutionär und Internationalist zu einer Zeit, als viele der jetzigen Vertreter des aller-linkesten Standes von Revolution überhaupt noch nichts wussten. Und darin, – was heißt es eigentlich: Martinets Stück ist für uns der gestrige Tag? Hat denn die französische Revolution schon stattgefunden? Hat sie schon gesiegt? Oder ist die Revolution in Frankreich für uns nicht ein selbständiges historisches Schauspiel, sondern eine langweilige Wiederholung der russischen Revolution? Hinter dieser Linkstuerei steckt, abgesehen von allem andern, eine höchst vulgäre nationale Beschränktheit. Dass Martinets Stück Längen hat, dass es eher ein Buchdrama als ein Theaterstück ist (der Verfasser hat wohl auch kaum mit einer Inszenierung seines Stückes gerechnet), – das ist unzweifelhaft. Aber diese Mängel würden verschwinden, wenn das Theater das Stück in all seiner national-historischen Konkretheit genommen hätte, d. h. nicht als Schematisierung der wild gewordenen Erde, sondern als Drama des französischen Proletariats an einer bestimmten Grenzscheide seines großen Sieges. Die Übertragung der Handlung aus dem historischen Milieu in ein abstrakt konstruiertes bedeutet in diesem Fall ein Abrücken von der Revolution, von der realen, wahren Revolution, jener Revolution, die sich beharrlich entwickelt und von Land zu Land schreitet und die infolgedessen manchen pseudorevolutionären Kleinbürgern als langweilige Wiederholung des Erlebten vorkommt. Ich weiß nicht, ob wir momentan auf der Bühne die Biomechanik brauchen, d. h. ob sie in der ersten Reihe der historischen Dringlichkeit steht. Dafür aber zweifele ich keinen Augenblick – wenn es erlaubt ist, in solchen subjektiven Ausdrücken zu sprechen –, dass das russische Theater ein frisches Repertoire aus dem revolutionären Leben und in erster Linie ein sowjetisches Lustspiel braucht. Wir brauchen unseren eigenen „Junker"3, unser eigenes „Kummer aus Verstand"4, unseren eigenen „Revisor"5. Nicht eine Neuinszenierung der drei alten Lustspiele, nicht eine parodistisch-faschingsgemäße neue Aufhügelung für den Sowjetbedarf – obwohl auch das zu neunundneunzig Hundertsteln lebensnotwendig ist –, nein, wir brauchen einfach ein sowjetisches Sittenlustspiel, das lacht und brandschatzt. Ich gebrauche absichtlich die Terminologie der alten Literaturlehrbücher und befürchte keineswegs den Vorwurf der Rückständigkeit, denn die neue Klasse, der neue Alltag, die neuen Laster, der neue Stumpfsinn verlangen, dass man sie der Verschwiegenheit entreiße, und wenn dies stattgefunden haben wird, werden wir eine neue Theaterkunst haben, denn ohne neue Methoden lässt sich der neue Stumpfsinn nicht reproduzieren. Wie viel neue „Junker" warten zitternd auf ihre Verkörperung auf der Bühne, wie viel Kummer wird „vom Verstand, von der Klugheit" oder der Klügelei gestreut, und wie gut wäre es, wenn ein Theaterrevisor über das Sowjetgefilde passierte! Man rede sich nicht mit der Theaterzensur heraus, denn das würde nicht stimmen. Freilich, wenn unser Lustspiel sagen würde: „So weit hat man uns also gebracht, – zurück zum alten, molligen, adeligen Nest!", so würde sich die Zensur ein solches Lustspiel verbitten und würde recht daran tun. Wenn aber Euer Lustspiel sagen wird: „So, wir bauen das neue Leben, und nun wollen wir alle alte und neue Schweinerei, Niederträchtigkeit und Gemeinheit hinaus fegen", – dann wird die Zensur es nicht hindern. In den wenigen Fällen, als ich vor dem erhobenen Theatervorhang höflich in den Ärmel gähnen musste, um niemanden zu verletzen, da blieb am stärksten in meinem Gedächtnis, wie lebhaft der Zuschauerraum jede noch so geringfügige Anlehnung an das heutige Leben aufnahm. Am interessantesten lässt sich das wahrnehmen bei den Operettenrestaurationen des „Künstlerischen Theaters"6, die kokett gespickt sind mit Dornen und Dörnchen (keine Rosen ohne Dornen!). Ich musste dabei denken: wenn wir es zum Lustspiel noch nicht gebracht haben, – warum haben wir nicht wenigstens die gesellschaftliche Genrerevue geschaffen? Gewiss, gewiss, gewiss, die Bühnenkunst kann in der Zukunft die vier Wände verlassen und sich im Massenleben auflösen, das dann ganz den Rhythmen der Biomechanik usw. usw. unterworfen sein wird. Aber das ist dennoch „Futurismus", d. h. weit entfernte Zukunftsmusik, und zwischen der Vergangenheit, von der das Theater lebt, und der entfernten Zukunft liegt die Gegenwart, in der wir leben. Es wäre gut, wenn man zwischen dem Passéismus und dem Futurismus den … Präsentismus auf die Bretter bringen würde. Leser, wir wollen für diese Richtung stimmen! Von einen einzigen guten sowjetischen Lustspiel wird das Theater für einige Jahre aufleben, und dann wird wohl auch die Tragödie da sein, die nicht umsonst als erhabene Abart der Wortkunst geschätzt wird. Vermag denn aber unser gottloses Zeitalter eine Monumentalkunst zu schaffen? fragen manche Mystiker, die bereit wären, selbst die Revolution zu akzeptieren, unter der Bedingung, dass sie ihnen das Jenseits garantiere. Die monumentalste Form der Wortkunst ist die Tragödie. Die Antike leitete die Tragödie vom Mythos ab. Es gibt keine antike Tragödie ohne tiefen, durchdrungenen und dem Leben Sinn verleihenden Glauben an das Schicksal. Die Monumentalkunst des Mittelalters ist wiederum verbunden durch die christliche Mythologie, die nicht allein den Kathedralen und Mysterien, sondern allen Lebensverhältnissen Sinn verlieh. Die Monumentalkunst war in jenen Epochen nur möglich dank der Einheit des religiösen Empfindens des Lebens und dessen aktiver Beteiligung. Wird das religiöse Glauben ausgeschaltet (gemeint sind nicht die dumpfen mystischen Rülpser der heutigen Intellektuellenseele, sondern die tatsächliche Religion mit Gott, der himmlischen Gesetzgebung und der Kirchenhierarchie), so ist das Leben entblößt, und es bleibt kein Platz mehr für das höhere Aufeinanderprallen von Gott und dem Schicksal, der Sünde und der Erlösung. Von dieser Seite aus gesehen, sucht der nicht ganz unbekannte Mystiker Stepphuhn die Kunst zu behandeln in einem Artikel: „Über die Tragödie und die Jetztzeit". Er geht gewissermaßen von den Bedürfnissen der Kunst selbst aus, verheißt ein neues monumentales Schaffen, zeigt in der Perspektive die Wiedergeburt der Tragödie und fordert zum Schluss: im Namen der Kunst unterwirf dich und verbeuge dich vor den himmlischen Kräften! In Stepphuhns Konstruktion liegt eine gewinnende Logik. Der Verfasser braucht in Wirklichkeit gar nicht die Tragödie, denn was bedeuten die Gesetze der Tragödie vor der Gesetzgebung des Himmels! Er will bloß unser Zeitalter am kleinen Finger der tragischen Ästhetik fangen, um die ganze Hand zu haben. Das ist eine rein jesuitische Methode. Vom dialektischen Standpunkt aus bleibt Stepphuhns Konstruktion formal und oberflächlich. Er ignoriert einfach die materiell-historische Grundlage, auf der hintereinander das antike Drama und die Kunst der Gotik entstanden sind und eine neue Kunst entstehen muss. Der Glaube an das unabwendbare Geschick war ein Abbild der engen Grenzen, in denen der antike Mensch mit seinem klaren Denken, aber der armen Technik lebte. Noch wagt er es nicht, sich die Eroberung der Natur in heutigem Maßstabe zur Aufgabe zu machen: so hängt sie über ihm als Fatum. Die Beschränktheit und Starrheit der technischen Hilfsmittel, die Stimme des Blutes, Krankheit, Tod – alles, was den Menschen beschränkt und ihn in seine Grenzen zurückweist, ist Fatum. Das Tragische war ein Widerspruch zwischen der erwachten Welt des Bewusstseins und der trägen Beschränktheit der Mittel. Der Mythos hat diese Tragödie nicht geschaffen, sondern ihr nur Ausdruck verliehen in der bildlichen Sprache der Menschheitskindheit. Im Mittelalter erzeugten die spiritualistischen Konzessionen der Erlösung und überhaupt das ganze System der doppelten Buchführung, der irdischen und der himmlischen, die sich aus der Doppelseele der Religion und insbesondere des historischen, d. h. wahren Christentums ergab, keine Lebenswidersprüche, sondern widerspiegelten sie nur und lösten sie anscheinlich. Die mittelalterliche Gesellschaft überwand die wachsenden Widersprüche in der Art, dass sie einen Wechsel auf den Gottessohn ausstellte: die Herrschenden signierten, die Kirchenhierarchie gab den Bürgen ab, die Unterdrückten sollten im Jenseits diskontieren. Die bürgerliche Gesellschaft atomisierte die menschlichen Beziehungen, indem sie ihnen eine unerhörte Elastizität und Beweglichkeit verlieh. Die primitive Einheitlichkeit des Bewusstseins als Grundlage der religiösen Monumentalkunst verschwand zugleich mit den primitiven ökonomischen Verhältnissen. Die Religion nahm durch die Reformation einen individualistischen Charakter an. Die religiösen Kunstsymbole lösten sich von der himmlischen Nabelschnur, fielen um und begannen einen Stützpunkt zu suchen in der schwankenden Mystik des Individualbewusstseins. In den Shakespeareschen Tragödien, die ohne Reformation undenkbar wären, sind das antike Schicksal und die mittelalterlichen Passionen von individuellen Leidenschaften verdrängt: von Liebe, Eifersucht, Rachsucht und Gier, seelischem Zwiespalt. Aber in jedem Shakespeareschen Drama erreicht die persönliche Leidenschaft einen solchen Grad von Spannung, dass sie den Menschen überragt, überpersönlich, zu einer Art Fatum wird. So die Eifersucht Othellos, der Ehrgeiz Macbeths, die Habgier Shylocks, die Liebe Romeos und Julias, der Hochmut Coriolans, das seelische Schlingern Hamlets. Shakespeares Tragödie ist individualistisch und in diesem Sinne nicht von so allgemeiner Bedeutung wie der König Ödipus, in dem das Bewusstsein eines ganzen Volkes Ausdruck findet. Dennoch bedeutet Shakespeare im Vergleich mit Aischylos einen gewaltigen Schritt vorwärts und nicht rückwärts. Die Kunst Shakespeares ist menschlicher. Jedenfalls werden wir eine neue Tragödie, wo Gott waltet und der Mensch gehorcht, nicht akzeptieren. Eine solche Tragödie wird auch niemand mehr schreiben. Die bürgerliche Gesellschaft, die durch die Beziehungen atomisiert wurde, hatte in der Epoche ihres Aufstieges ein großes Ziel, das die Befreiung der Persönlichkeit hieß. Ihm erwuchsen die Shakespeareschen Dramen und Goethes „Faust". Der Mensch betrachtet sich als Mittelpunkt des Weltalls und somit auch der Kunst. Dieses Thema reichte für Jahrhunderte aus! Eigentlich war die ganze neuere Literatur bloß die Bearbeitung dieses Themas, aber das ursprüngliche Ziel – die Befreiung, die Qualifizierung der Persönlichkeit – schwand dahin und entrückte in das Gebiet einer neuen, seelenlosen Mythologie in dem Maße, wie die innere Unzulänglichkeit der wirklichen Gesellschaft sich in ihren unerträglichen Widersprüchen offenbarte. Der Zusammenprall des Persönlichen mit dem Überpersönlichen ist jedoch nicht nur auf religiöser Basis möglich, sondern auch auf der Grundlage einer den Menschen überragenden menschlichen Leidenschaft. Das Überpersönliche ist vor allem das Gesellschaftliche. Solange der Mensch seiner gesellschaftlichen Organisation nicht Herr geworden ist, erhebt sich diese über ihn als Fatum. Ob sie dabei die religiöse Hülle abstreift oder nicht, ist jedenfalls ein untergeordneter Umstand, der durch den Grad der Hilflosigkeit des Menschen bedingt ist. Der Kampf eines Babeuf um den Kommunismus in einer Gesellschaft, die noch nicht reif dafür war, war der Kampf des antiken Helden gegen das Fatum. Das Schicksal Babeufs trägt dabei alle Züge einer wahren Tragödie, ebenso das Schicksal jener Gracchen, deren Namen Babeuf sich beigelegt hatte. Die Tragödie der abgeschlossenen persönlichen Leidenschaften ist für unsere Zeit zu schal. Aber warum? Darum, weil wir in einer Epoche der sozialen Leidenschaften leben. Die Tragödie unserer Epoche besteht im Zusammenstoß der Persönlichkeit mit der Gemeinschaft oder im Zusammenstoß zweier feindlicher Gemeinschaften durch die Persönlichkeit. Unsere Zeit ist wieder eine Zeit großer Ziele. Darin besteht ihr Kennzeichen. Aber das Grandiose dieser Zeit liegt eben darin, dass der Mensch bestrebt ist, sich von dem mystischen und sonstigen geistigen Nebel zu befreien, seine Gesellschaft und sich selber umzugestalten – nach einem Plan, den er selbst geschaffen hat. Das ist natürlich ein größeres Beginnen als das kindische Spiel der Alten, das ihrem kindlichen Alter geziemte, oder die Fieberphantasien der Mönche des Mittelalters, oder jener Großmut des Individualismus, der die Persönlichkeit vom Kollektiv trennt, sie rasch bis auf den Grund erschöpft und sie dann in die Leere des Pessimismus stürzt oder sie auf allen Vieren vor dem frisch, aufgetünchten Stier Apis kriechen lässt. Die Tragödie bildet deshalb eine hohe Form der Literatur, weil sie eine heroische Anspannung der Bestrebungen, die Grenze der Ziele, Konflikte und Leiden voraussetzt. In diesem Sinne hat Stepphuhn recht, wenn er unsere Kunst des „Vorabends", wie er sich ausdrückt, d, h. die Kunst, die dem Krieg und der Revolution vorausging, als unbedeutend charakterisiert. Die bürgerliche Gesellschaft, der Individualismus, die Reformation, das Shakespearesche Drama, die Große Revolution haben für den tragischen Sinn von außen gestellter Ziele keinen Platz gelassen: ein großes Ziel muss das Bewusstsein des Volkes oder der führenden Klasse passieren, um zum Heroismus zu führen und den Boden für solche großen Gefühle zu schaffen, die die Tragödie beseelen. Der zaristische Krieg, dessen Ziele nicht in das Bewusstsein eingedrungen waren, gebar bloß Versmacherei, daneben rieselte ein Bächlein der individualistischen Dichtkunst, die sich zum Objektiven nicht erhob und die große Kunst nicht bildete. Die Kunst der Dekadenz und der Symbolismus mit allen ihren Abzweigungen war vom Standpunkt des historischen Aufstieges der Kunst als gesellschaftlicher Form – lediglich eine Federprobe, eine Meisterübung, das Stimmen der Instrumente. Der „Vorabend" war in der Kunst ein Zeitalter ohne Ziele. Wer ein Ziel hatte, der hatte etwas anderes zu tun, als Kunst zu betreiben. Jetzt gilt es, große Ziele durch die Kunst auszuführen. Ob die Kunst der Revolution die Zeit haben wird, eine „große" revolutionäre Tragödie hervorzubringen, lässt sich schwer voraussehen. Aber die sozialistische Kunst wird die Tragödie erneuern, natürlich ohne Gott. Die neue Kunst wird eine gottlose Kunst sein. Sie wird auch die Komödie zu neuem Leben erwecken, denn der neue Mensch wird auch lachen wollen. Sie wird dem Roman neues Leben einblasen. Sie wird der Lyrik alle Rechte einräumen, denn der neue Mensch wird besser und stärker lieben als die früheren Menschen geliebt haben, und wird sich Gedanken machen über Geburt und Tod, Die Kunst wird allen alten Formen, die von der Entwicklung des schöpferischen Geistes geschaffen worden sind, zur Wiedergeburt verhelfen, Die Zersetzung und der Zerfall dieser Formen haben keine absolute Bedeutung, d, h, besagen ihre absolute Unvereinbarkeit mit dem Geiste der neuen Zeit nicht. Es ist nur notwendig, dass der Dichter der neuen Epoche die menschlichen Gedanken neu durchdenke, die menschlichen Gefühle neu erfühle. Am meisten hat in diesen Jahren die Architektur gelitten, und zwar nicht allein in Russland: die alten Bauten wurden allmählich zerstört, neue wurden nicht errichtet. Daher die Wohnungskrise in der ganzen Welt. Als die Menschen nach Kriegsbeendigung die Arbeit wieder aufnahmen, richteten sie ihre Bemühungen zuerst auf die Befriedigung des notwendigsten Tagesbedarfs und erst nachher auf die Wiederherstellung der Produktionsmittel und den Häuserbau. Die zerstörende Epoche des Krieges und der Revolutionen wird letzten Endes der Architektur einen Ansporn geben, etwa in dem Sinne, wie die Feuersbrunst von 1812 zu der Verschönerung Moskaus beigetragen hat (und das hat sie wirklich getan!). In Russland hatte die Zerstörung weniger Kulturmaterial vorgefunden als in andern Ländern: dabei wurde mehr zerstört als in andern Ländern, und das Aufbauen geht unvergleichlich schlechter voran als in andern Ländern. Was Wunder, wenn wir uns in diesen Jahren um die Architektur, die monumentalste aller Künste, nicht kümmern konnten. Jetzt erst fangen wir leise an, die Straßen zu reparieren, die Kanalisationsanlagen wiederherzustellen, die unfertig stehengebliebenen Häuser wieder zu Ende zu bauen, – aber wir fangen es erst an. Die Moskauer Landwirtschaftliche Ausstellung im Herbst 1923 haben wir aus Holz aufgebaut. Die Bautätigkeit großen Stils muss immer noch aufgeschoben werden. Die Autoren gigantischer Projekte im Geiste Tatlins7 erhalten unfreiwillig eine Atempause für neue Überlegungen, Korrekturen oder radikale Revisionen. Man darf sich natürlich die Sache nicht so vorstellen, dass wir uns anschicken, noch jahrzehntelang an den alten Straßen und Häusern herum zu flicken. Dieser Prozess hat ebenso wie alle andern sowohl Zeitspannen der Flickarbeit, der langsamen Vorbereitung und der Kräfteanhäufung sowie Perioden des raschen Wachstums. Sobald nach Deckung der dringlichsten und aktuellsten Lebensbedürfnisse ein Überschuss zu verzeichnen sein wird, so wird der Sowjetstaat die Frage der gigantischen Bauten, in denen der Geist unserer Epoche seine monumentale Verkörperung finden wird, auf die Tagesordnung setzen. Dass Tatlin in seinem Projekt die nationalen Stile, die allegorische Skulptur, Stuckwerk, Ornamente, Verzierungen und allerhand Schnickschnack ausgeschaltet und versucht hat, sein Projekt einer richtigen, konstruktiven Ausnutzung des Materials unterzuordnen, – darin hat er unbedingt recht. Die Konstruktion der Maschinen, der Architektur der Häuser und gedeckten Märkte ist immer so gewesen. Es bliebe nur noch zu beweisen, ob Tatlin recht hat mit dem, was seine persönliche Erfindung ist: dem rotierenden Kubus, der Pyramide und dem Zylinder aus Glas. Ob schlecht oder recht, die Zeitumstände werden ihm die Zeit gewähren, die nötigen Argumente dafür zu suchen. Maupassant hasste den Eiffelturm, was ja nicht jeder ihm nachtun muss. Aber es ist unzweifelhaft, dass der Eiffelturm einen zwiespältigen Eindruck macht: er reizt durch die technische Einfachheit der Formen, aber zugleich wirkt er abstoßend durch seine Zwecklosigkeit. Darin steckt ein innerer Widerspruch: eine für einen solch hohen Turm höchst zweckmäßige Ausnutzung des Materials, – und wozu? Das ist kein Bau, sondern eine Bauübung, Momentan dient der Eiffelturm bekanntlich als Funkstation. Das verleiht ihm Sinn, macht ihn ästhetisch harmonischer. Doch hätte man den Bau von vornherein als Funkstation angelegt, so hätte er wahrscheinlich eine größere Zweckmäßigkeit der Form und folglich auch größere künstlerische Vollendung erlangt. Der Denkmalentwurf Tatlins erscheint von diesem Gesichtspunkt aus viel weniger befriedigend. Der Zweck des Fundamentalbaus ist die Unterbringung der Räume aus Glas für Sitzungen des internationalen Rates der Volkskommissare, der Kommunistischen Internationale usw. Aber die Tragbalken und Pfeiler, die den Zylinder und die Pyramide aus Glas umfassen und stützen (sie dienen nur diesem Zwecke), sind so schwerfällig und überladen, dass sie den Eindruck eines nicht weggeräumten Baugerüstes erzeugen. Man versteht nicht, wozu sie da sind. Man sagt uns: um den rotierenden Zylinder zu stützen, in dem die Sitzungen stattfinden werden. Wir erwidern: aber die Sitzungen müssen doch nicht in einem Zylinder stattfinden, und der Zylinder braucht ja nicht zu rotieren. Ich erinnere mich, wie ich in meiner Kindheit einen Tempel aus Holz sah, der in eine Bierflasche eingebaut war. Das überwältigte meine Phantasie, damals fragte ich nicht: wozu? Tatlin beschreitet den entgegengesetzten Weg, Die Glasflasche für den internationalen Weltrat will er in einen spiralförmigen Tempel aus Eisenbeton einbauen. Aber jetzt kann ich nicht umhin, wozu? zu fragen. Genauer gesagt: wir würden wahrscheinlich sowohl den Zylinder sowie seine Rotation akzeptieren, wenn dies mit der Einfachheit und Leichtigkeit der Konstruktion verknüpft wäre, d, h. wenn die Vorrichtungen für die Rotation die ganze Leistung nicht erdrücken würden. Wir können auch den Argumenten nicht recht geben, die angeführt werden, um den künstlerischen Sinn, sagen wir der Plastik eines Jakob Lipschitz, zu erklären. Die Skulptur müsse ihre fiktive Unabhängigkeit aufgeben, die für sie ein Vegetieren in den Hinterhöfen des Lebens oder in den Friedhöfen der Museen bedeutet und müsse ihre Verbindung mit der Architektur zu einer höheren Einheit feiern. Die Skulptur müsse in diesem erweiterten Sinne eine Nutzanwendung finden. Ausgezeichnet, Aber wir sehen nicht ein, wie sich diese Ideen auf die Plastik von Lipschitz anwenden lassen. Die Photographie zeigt uns ein paar sich schneidende Flächen, die man bedingt für die Schematisierung eines sitzenden Menschen mit einem Saiteninstrument halten kann. Man sagt: wenn dies heute noch nicht utilitaristisch ist, so ist es dafür „zweckmäßig". In welchem Sinne? Um die Zweckmäßigkeit zu beurteilen, muss man den Zweck kennen? Überlegt man sich die Unzweckmäßigkeit oder evtl. Utilitarität dieser vielen sich schneidenden Flächen und eckigen Formen und Vorsprünge, so gelangt man zum Schluss, dass die Skulptur sich schließlich in einen Kleiderrechen verwandeln lässt. Aber wiederum, wenn der Künstler sich zur Aufgabe gestellt hätte, einen plastischen Rechen zu schaffen, so hätte er wahrscheinlich zweckmäßigere Formen dafür gefunden. Wir empfehlen jedenfalls, einen solchen Rechen nicht in Gips zu gießen. Es bleibt noch die Vermutung übrig, dass die Plastik von Lipschitz ebenso wie die Wortkunst von Krutschenych einfach als technische Übungen, als Tonleiter und Exerzitien der Wort- und Skulpturmusik der Zukunft anzusprechen sind. Aber dann soll man die Fingerübungen nicht für Musik ausgeben. Es wäre besser, man ließe sie in der Werkstätte und zeige keine Photographien von ihnen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in der Zukunft, je weiter desto mehr, solche Monumentalaufgaben wie die neue Planierung der Gartenstädte, die Pläne der Musterhäuser, der Eisenbahnen und Häfen nicht allein die Ingenieure und Architekten, die am Preisausschreiben teilnehmen, interessieren werden, sondern auch die breiten Volksmassen. An Stelle der ameisenartigen Anhäufungen der Straßen und Stadtviertel, ein Stein auf dem andern, unmerkbar von Geschlecht zu Geschlecht, wird der titanische Bau von Dorfstädten, nach der Karte, mit dem Zirkel in der Hand tätig. In Fragen dieser Pläne werden wahrhaft volksgemäße Gruppierungen für und gegen entstehen, die eigentümlichen technisch-architektonischen Parteien der Zukunft mit ihrer Agitation, ihren Leidenschaften, Volksversammlungen und Abstimmungen, In diesem Kampfe wird die Architektur von neuem aber schon auf eine höhere Stufe von dem Odem der Massengefühle und Stimmungen gedrängt werden, und die Menschheit wird „plastischer" erzogen werden, d. h. sie wird sich daran gewöhnen, die Welt zu betrachten als gefügigen Ton zur Modellierung immer vollkommener Lebensformen. Die Scheidewand zwischen Kunst und Industrie wird fallen. Der künftige große Stil wird nicht verzierend, sondern formierend sein. Darin haben die Futuristen recht. Es wäre jedoch irrig, wollte man dies deuten als Liquidierung der Kunst, als deren Selbstausschaltung vor der Technik. In Anwendung auf ein Federmesser kann die Kombination von Kunst und Technik sich auf zwei Grundlinien bewegen: entweder die Kunst schmückt das Messer, indem sie auf dem Messergriff eine preisgekrönte Schöne oder den Eiffelturm darstellt, oder aber die Kunst verhilft der Technik zu einer „idealen" Form des Messers, d. h. einer Form, die dem Material und der Bestimmung des Messers am meisten entspricht. Es wäre irrig, anzunehmen, dass eine solche Aufgabe mit rein technischen Mitteln gelöst werden kann, denn die Bestimmung und das Material lassen die Frage für eine unzählige Anzahl von Variationen offen. Für die Schaffung eines „idealen" Messers bedarf es, abgesehen von der Beherrschung des Materials und der Bearbeitungsmethoden, auch noch der Phantasie und des Geschmackes. Ganz im Einklang mit der ganzen Tendenz der Industriekultur glauben wir, dass die künstlerische Phantasie auf dem Gebiete der Produktion der materiellen Güter sich mit der Aufstellung der idealen Form des Gegenstandes als solchem befassen wird und nicht mit der Verzierung als künstlerischen Gratisbeilage zu dem Gegenstande selbst. Wenn das für das Federmesser zutrifft, – um so mehr für das Gewand, das Möbelstück, die Theater und die Städte. Das bedeutet keineswegs eine Liquidierung der Werkkunst, sogar in entfernter Zukunft. In den Vordergrund wird wahrscheinlich die unmittelbare Zusammenarbeit mit allen übrigen Zweigen der Technik rücken. Bedeutet dies soviel, dass die Industrie die Kunst in sich aufsaugen wird, oder aber, dass die Kunst die Industrie zu sich auf den Olymp emporheben wird? Diese Frage lässt sich so und anders beantworten, je nachdem, ob wir die Frage von Seiten der Industrie oder von der Seite der Kunst anschneiden. Aber im objektiven Resultat wird es keine Differenz zwischen dieser und der anderen Antwort geben. Beide bedeuten eine gigantische Erweiterung der Sphäre und eine ebenso gigantische Steigerung der künstlerischen Qualität der Industrie, unter der wir natürlich hier die ausnahmslos gesamte Produktionstätigkeit des Menschen verstehen: der maschinisierte und elektrifizierte Ackerbau wird zu einem Teil dieser Industrie werden. Aber nicht allein zwischen Kunst und Produktion, – gleichzeitig wird auch die Scheidewand zwischen Kunst und Natur fallen. Nicht im Sinne von Rousseau, dass die Kunst sich dem Naturzustande nähern, sondern umgekehrt in dem Sinne, dass die Natur „künstlerisch" werden wird. Die jetzige Lage der Berge und Flüsse, der Felder und Wiesen, Steppen, Wälder und Küsten kann man ja nicht als endgültig bezeichnen. Gewisse und zwar nicht geringe Veränderungen im Bilde der Natur hat der Mensch bereits schon hervorgebracht; doch sind dies bloß Schülerversuche im Vergleich zu dem, was noch kommen wird. Wenn der Glaube einst versprach, Berge zu verrücken, so wird die Technik, die nichts „auf Treu und Glauben" hinnimmt, tatsächlich Berge abtragen und verschieben. Bisher geschah dies zu Zwecken der Industrie (Bergbau) oder des Verkehrs (Tunnels); in der Zukunft wird dies in weit größerem Maßstabe nach einem allgemeinen Produktions- und Kunstplan geschehen. Der Mensch wird sich mit der Umgruppierung der Berge und Flüsse befassen und wird die Natur ernstlich und wiederholt korrigieren. Schließlich wird er die Erde nach seinem Abbilde oder wenigstens nach seinem Geschmacke umgestalten. Wir haben keinen Grund zu befürchten, dass dieser Geschmack schlecht sein wird. Der Dichter Klujew, der eine Diskussion mit Majakowski führt, erklärt eifersüchtig und tückisch, dass es „dem Dichter nicht gezieme, sich um Hebekräne zu kümmern", und dass „in des Herzens Hochöfen (nicht in den anderen sonst) des Lebens purpurnes Gold geschmelzt" werde. In diese Diskussion hat sich Iwanow-Rasumnik eingemengt, ein Narodnik, der linker Sozialrevolutionär war, – damit ist alles gesagt. Die Poesie des Hammers und der Maschine, in deren Namen angeblich Majakowski auftritt, erklärt Iwanow-Rasumnik als vergängliche Episode, dagegen die Poesie „der urbeständigen Erde" als „ewige Poesie des Weltalls". Erde und Maschine werden einander gegenübergestellt als ewiger Quell der Poesie und etwas Vorübergehendem. Der immanente Idealist und vorsichtige, fade Halbmystiker Rasumnik zieht natürlich das Ewige dem Vergänglichen vor. In Wirklichkeit aber ist dieser Dualismus von Erde und Maschine falsch: man kann dem zurückgebliebenen Bauernacker eine Weizenfabrik, als Plantage oder sozialistischen Betrieb, gegenüberstellen. Die Poesie der Erde ist nicht ewiglich, sondern veränderlich; der Mensch hat angefangen, artikulierte Lieder von sich zu geben erst nachdem er zwischen sich und die Erde Werkzeuge und Instrumente, die einfachste Maschine gestellt hatte. Ohne den Pflug, ohne die Sichel und die Sense gibt es keinen Bauerndichter. Heißt das so viel, dass die Erde mit dem Pflug gegenüber der Erde mit dem Elektropflug den Vorzug der Ewigkeit hat? … Der neue Mensch, der sich erst projektiert und verwirklicht, stellt nicht, wie Klujew und Rasumnik mit ihm es tun, den Geräten aus Knochen und Fischgräten die Hebekräne und den Dampfhammer gegenüber. Der sozialistische Mensch will und wird die Natur in ihrem ganzen Umfang mit den Knochen und Fischgräten, mittels der Maschine beherrschen. Er wird weisen, wo Berge stehen und wo sie weichen sollen, wird die Richtung der Flüsse ändern und die Meere meistern. Die idealistischen Tröpfe mögen glauben, dass dies langweilig sein wird, – dafür sind sie eben Tröpfe. Natürlich bedeutet das nicht, dass der ganze Erdball liniert und eingeteilt sein wird, dass die Wälder sich in Parks und Gärten verwandeln werden. Es werden bleiben Dickicht und Waldungen und Auerhähne und Tiger, aber dort, wo ihnen der Mensch den Platz zugewiesen haben wird. Und er wird dies so geschickt anstellen, dass sogar der Tiger den Hebekran nicht merken und sich nicht langweilen und so leben wird, wie er in Urzeiten gelebt hat. Die Maschine ist kein Gegensatz zur Erde. Die Maschine ist ein Werkzeug des modernen Menschen auf allen Lebensgebieten. Die jetzige Stadt ist vergänglich, aber sie wird sich nicht in dem alten Dorfe auflösen. Im Gegenteil, im Wichtigsten wird das Dorf sich zur Stadt erheben. Darin besteht die Hauptaufgabe. Die Stadt ist vergänglich, aber sie kennzeichnet die Zukunft und weist ihr den Weg. Das jetzige Dorf aber ist Vergangenheit, deshalb erscheint seine Ästhetik veraltet wie aus einem Museum der Volkskunst. Aus der Epoche des Bürgerkrieges wird die Menschheit verarmt, mit fürchterlichen Zerstörungen hervorgehen selbst ohne Dazutun solcher Erdbeben, wie sie in Japan waren. Das Bestreben, die Not, den Hunger, den Mangel in allen seinen Formen zu besiegen, d. h, die Natur sich gefügig zu machen, wird eine Reihe von Jahrzehnten die herrschende Tendenz sein. Die Leidenschaft für die guten Seiten des Amerikanismus wird die Begleiterscheinung der ersten Etappe einer jeden jungen sozialistischen Gesellschaft sein. Das passive Naturgenießen wird aus der Kunst verbannt sein. Die Technik wird zu einer viel mächtigeren Inspiration des künstlerischen Schaffens werden. Später wird der Gegensatz von Technik und Natur in einer höheren Synthese seine Lösung finden. Das, wovon einzelne Enthusiasten jetzt nicht ganz geheuer träumen, nämlich die Theaterisierung des Alltags und Rhythmisierung des Menschen selbst, passt in diese Perspektive ausgezeichnet hinein. Nachdem der Mensch die Wirtschaftsordnung rationalisiert, d. h, mit seinem Bewusstsein durchdrungen und sie seinen Absichten unterworfen haben wird, wird er auch in unserem heutigen trägen, durchaus morsch gewordenen Alltagsleben keinen Stein auf dem andern lassen. Die Sorgen um Nahrung und Erziehung, die zentnerschwer auf der heutigen Familie lasten, werden fortfallen und zum Gegenstand der öffentlichen Initiative und des unerschöpflichen Kollektivschaffens werden. Das Weib wird endlich den halb versklavten Zustand verlassen. Neben der Technik wird die Pädagogik – im weiten Sinne der psychophysischen Ausbildung der neuen Generationen – zur Beherrscherin der Öffentlichen Meinung werden. Die pädagogischen Systeme werden mächtige „Parteien" um sich scharen. Die sozial-erzieherischen Versuche und das Wetteifern der verschiedenen Methoden werden ein Ausmaß erhalten, von dem man jetzt nicht träumen kann. Das kommunistische Alltagsleben wird nicht zufällig, wie die Korallenriffe, durch Ablagerung entstehen, sondern wird bewusst aufgebaut werden, vom Denken überprüft, gelenkt und korrigiert. Wenn das Alltagsleben seine Elementarnatur aufgeben wird, wird es auch aufhören, stagnierend zu sein. Der Mensch, der imstande sein wird, Flüsse und Berge zu versetzen, Volkspaläste auf dem Gipfel des Mont Blancs und auf dem Grunde des Atlantiks aufzubauen, der wird natürlich auch wissen, seinem Alltagsleben nicht nur Reichtum, Farbigkeit und Intensität, sondern auch höchste Dynamik zu verleihen, Die Hülle des Alltags wird – kaum entstanden –, vom Andrang immer neuer technisch-kultureller Erfindungen und Errungenschaften gesprengt werden. Das Leben der Zukunft wird nicht eintönig sein. Noch mehr. Der Mensch wird schließlich im Ernst daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. Er wird es sich zur Aufgabe machen, der Bewegung seiner eigenen Organe – bei der Arbeit, beim Gehen, beim Spiel – eine höhere Deutlichkeit, Zweckmäßigkeit, Sparsamkeit und somit auch Schönheit zu verleihen. Er wird die Lust verspüren, die halb bewussten und dann auch die unbewussten Prozesse in seinem eigenen Organismus, wie Atmung, Blutkreislauf, Verdauung, Befruchtung, zu beherrschen und in den notwendigen Grenzen sie der Kontrolle der Vernunft und des Willens zu unterwerfen. Das Leben, ja sogar das physiologische Leben, wird kollektiv-experimentierend werden. Das menschliche Geschlecht, der erstarrte Homo sapiens, wird wieder radikal verändert werden und wird unter seinen eigenen Händen zum Objekt der kompliziertesten Methoden künstlicher Auslese und psychologischer Trainierung werden. Dies liegt ganz auf der Linie der Entwicklung. Der Mensch hat zuerst die dumpfen Elementargewalten aus der Produktion und der Ideologie verbannt und die barbarische Routine durch wissenschaftliche Technik sowie die Religion durch Wissenschaft ersetzt. Darauf verbannte er das Unbewusste aus der Politik, stürzte die Monarchie und die Stände durch die Demokratie und den rationalistischen Parlamentarismus und schließlich durch die durchsichtig klare Rätediktatur. Am schwersten hängt die blinde Elementargewalt über den wirtschaftlichen Beziehungen, – aber auch von dort vertreibt sie der Mensch durch die sozialistische Organisation der Wirtschaft. Dadurch wird eine radikale Umgestaltung des traditionellen Familienlebens ermöglicht. In der tiefsten und dunkelsten Ecke des unbewussten, elementaren Ich schlummert schließlich die Natur des Menschen selbst. Ist es denn nicht klar, dass die höchsten Anstrengungen des forschenden Denkens und der schöpferischen Initiative sich darauf werfen werden? Doch nicht dazu wird das menschliche Geschlecht aufhören, vor Gott, den Königen und dem Kapital auf dem Bauche zu rutschen, um dann vor den dumpfen Gesetzen der Vererbung und der blinden Geschlechtsauslese zu kapitulieren! Der frei gewordene Mensch wird ein größeres Gleichgewicht in der Arbeit seiner Organe, eine gleichmäßigere Entwicklung und Ausnutzung seiner Gewebe erreichen wollen, um dadurch allein die Angst vor dem Tode in Grenzen einer zweckmäßigen Reaktion des Organismus gegen die Gefahr zu bannen, denn es unterliegt keinem Zweifel, dass gerade die außerordentliche Disharmonie des Menschen – anatomisch und physiologisch –, die außerordentliche Ungleichmäßigkeit der Entwicklung und des Verbrauches der Organe und Gewebe dem Lebensinstinkt die verklemmte, krankhafte, hysterische Form der Todesfurcht verleiht, die den Verstand trübt und den dummen und erniedrigenden Phantasien vom Jenseits Nahrung zuführt. Der Mensch wird es sich zur Aufgabe machen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf den Gipfel des Bewusstseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, Leitungsfäden vom Willen unter die Schwelle des Bewusstseins zu führen und sich selber damit auf eine höhere Stufe zu bringen, also einen höherstehenden gesellschaftlich-biologischen Typus oder, wenn man will, einen Übermenschen zu schaffen. Bis zu welchem Grade der Selbstbeherrschbarkeit sich der Mensch der Zukunft bringen wird, lässt sich ebenso schwer voraussagen wie die Höhe, auf die er seine Technik führen wird. Der gesellschaftliche Aufbau und die psychophysische Selbsterziehung werden die beiden Seiten eines und desselben Prozesses werden. Die Künste: die Wortkunst, die Bühnenkunst, die darstellenden Künste, die Musik, die Architektur – werden diesem Prozess eine herrliche Form verleihen. Richtiger gesagt: jene Hülle, in die sich der Prozess des Kulturaufbaues und der Selbsterziehung des kommunistischen Menschen kleiden wird, wird alle Lebenselemente der heutigen Künste bis zur höchsten Kraft entfalten. Der Mensch wird unvergleichlich stärker, klüger, feiner werden. Sein Körper – harmonischer, seine Bewegungen – rhythmischer, seine Stimme – musikalischer; die Formen des Seins werden eine dynamische Theatralik gewinnen. Der menschliche Durchschnitt wird sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben. Über diesen Berggrat werden sich neue Gipfel erheben. 1 Russischer Lyriker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; entspricht ungefähr dem Deutschen Lenau. Anm. d. Übers, 2 Das Stück Martinets „La nuit" (Die Nacht) wurde unter dem Namen: „Die rebellische Erde" vom Theaterdirektor Meyerhold neu inszeniert. Anm. d. Übers. 3 Lustspiel von Wiesin aus der Katharinazeit. Anm. d. Übers. 4 Lustspiel von Gribojedow aus den 20er Jahren. Anm. d. Übers. 5 Lustspiel von Gogol. Die drei Werke gelten als die „klassischen" russischen Lustspiele. Anm. d. Übers. 6 Gemeint ist das „Künstlerische Theater" in Moskau unter Leitung Stanislawskis. Anm. d. Übers. 7 Gemeint ist der phantastische Entwurf des russischen Architekten Tatlin für ein Denkmalgebäude der III. Internationale. Anm. d. Herausgeb. |