Der Futurismus

Der Futurismus

Sein Ursprung. – Bruch mit der Vergangenheit. – Die Bestandteile des russischen Futurismus. – Das theoretische Suchen und Irren. – Die Schöpfung. – Majakowski. – Die Stellung des Futurismus.

Der Futurismus ist eine europäische Erscheinung und ist unter anderem dadurch bemerkenswert, dass er, der russischen formalen Schule zuwider, sich nicht im Rahmen der künstlerischen Form abschloss, sondern von Anfang an, besonders in Italien, sich in Zusammenhang brachte mit den Erscheinungen politischer und gesellschaftlicher Natur.

Der Futurismus entstand als Widerspiegelung durch die Kunst jener historischen Etappe, die um die Mitte der neunziger Jahre einsetzte und unmittelbar in den Weltkrieg mündete. Die kapitalistische Menschheit war durch zwei Jahrzehnte unerhörten wirtschaftlichen Aufstieges gegangen, der die alten Vorstellungen von Reichtum und Macht auf den Kopf stellte, der neue Maßstäbe, neue Kriterien des Möglichen und Unmöglichen aufstellte und die Menschen zu neuen Wagnissen anspornte.

Doch das offizielle Gesellschaftsleben lebte noch vom Autonomismus des Gestern. Der bewaffnete Friede bei diplomatischen Bezahlungen, die parlamentarische Kannegießerei, eine Außen- und Innenpolitik, die auf einem System von Schutzvorrichtungen und Bremsen beruhte, – all das lastete auch auf der Dichtkunst, während die in der Luft aufgespeicherte Elektrizität sich durch mächtige Entladungen ankündigte. Der Futurismus ward ihre „Vorahnung" in der Kunst.

Da nahmen wir eine Erscheinung wahr, die sich mehrfach in der Geschichte wiederholte: die Länder, die rückständig sind, aber über ein gewisses Niveau geistiger Kultur verfügen, spiegeln in ihrer Ideologie die Errungenschaften der vorgeschritteneren Länder mächtiger und klarer wider als die anderen. So hat das deutsche Denken des XVIII, und XIX. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Errungenschaften der Engländer und die politischen der Franzosen widergespiegelt. Ebenso hat der Futurismus seinen prägnantesten Ausdruck nicht in Amerika und nicht in Deutschland gefunden, sondern in Italien und in Russland.

Nach Abzug der Architektur stützt sich die Kunst auf die Technik bloß letzten Endes, d, h. insofern sie eine Grundlage des ganzen Kulturaufbaus überhaupt darstellt. Die praktische Abhängigkeit der Kunst, insbesondere der Wortkunst, von der materiellen Technik ist geringfügig. Das Poem, das Wolkenkratzer, Lenkballons und Unterseeboote verherrlicht, kann man auch in einem Dorf des Gouvernements Rjasan auf schlechtem Papier mit einem Bleistiftstummel schreiben. Damit die frische Phantasie in Rjasan entflamme, genügt es, dass die Wolkenkratzer, Lenkballons und Unterseeboote in Amerika existieren. Das menschliche Wort ist das leicht transportabelste aller Materialien.

Der Futurismus entstand als Abzweigung der bürgerlichen Kunst und konnte auch nicht anders entstehen. Sein stürmischer, oppositioneller Charakter steht damit keineswegs in Widerspruch.

Die Schicht der Intellektuellen ist sehr uneinheitlich, Jede anerkannte Schule ist zugleich eine gut bezahlte Schule. An ihrer Spitze stehen Mandarine mit vielen Ehrenknöpfen. In der Regel bringen es die Mandarine zum höchsten Raffinement ihrer Methoden, aber zugleich verschießen sie die Vorräte ihres Pulvers. Dann geschieht es, dass irgendeine objektive Veränderung, ein politisches Ereignis, ein gesellschaftlicher kleiner Zugwind die Literaturbohème in Bewegung setzt, die Jugend, die Genies, die noch nicht die Eierschalen abgestreift haben, bei denen gewöhnlich die Verdammung der satten und vulgären Kultur sich mit dem heimlichen Traum von ein paar Knöpfen (womöglich vergoldeter) paart.

Jene Forscher, die bei der Bestimmung der sozialen Natur des ursprünglichen Futurismus das entscheidende Moment in seinen stürmischen Protesten gegen das bürgerliche Leben und Schaffen erblicken, kennen einfach ungenügend die Geschichte der literarischen Strömungen. Die französischen Romantiker, und mit ihnen auch die deutschen, sprachen von der bürgerlichen Moral und dem kleinbürgerlichen Dasein nicht anders als in den schimpflichsten Ausdrücken. Außerdem trugen sie lange Haare und stolzierten mit grüner Gesichtsfarbe einher; Theophile Gautier trug außerdem, um die Bourgeoisie ganz zu schockieren, eine sensationelle rote Weste. Die gelbe Jacke der Futuristen ist unzweifelhaft eine Enkelin dieser romantischen Weste, welche die Papas und Mamas in Schrecken versetzte. Bekanntlich haben die Romantiker mit ihren stürmischen Protesten, langen Haaren und roten Westen nichts Erschütterndes gezeitigt, und die bürgerliche gesellschaftliche Meinung adoptierte schließlich glücklich die Romantiker und kanonisierte sie in ihren Schulbüchern,

Es ist außerordentlich naiv, wenn man das Dynamische des italienischen Futurismus und seine Revolutionssympathien dem „Verfall" der Bourgeoisie entgegenstellt. Man darf sich auch nicht die Bourgeoisie als abgeschabte alte Katze vorstellen. O nein, die Bestie des Kapitalismus ist kühn, elastisch, kratzborstig. Oder ist die Lektion von 1914 vergessen? Die Bourgeoisie hat für ihren Krieg mit dem größten Schwung die Gefühle und Stimmungen ausgenutzt, die ihrer Natur nach den Aufstand nähren sollten. In Frankreich wurde der Krieg als direkte Vollendung der Sache der Großen Revolution hingestellt. Und hatte die kriegführende Bourgeoisie nicht tatsächlich Revolutionen in andern Ländern inszeniert? In Italien waren die Interventionisten (Anhänger der Einmischung in den Krieg) gerade die „Revolutionäre": die Republikaner, Freimaurer, Sozialpatrioten, Futuristen. Endlich, ist der italienische Faschismus nicht durch „revolutionäre" Methoden zur Macht gelangt, indem er die Massen, die Menge, Millionen in Bewegung setzte, sie stählte und bewaffnete? Es ist kein Zufall, kein Missverständnis, dass der italienische Futurismus in den Strom des Faschismus gemündet ist; dies ist durchaus gesetzmäßig.*

Der russische Futurismus wurde in einer Gesellschaft geboren, die erst einen antihöfischen Vorbereitungskursus durchmachte und sich zur demokratischen Februarrevolution bereitete. Allein dies verlieh unserem Futurismus Vorzüge. Er erfasste die noch unklaren Rhythmen der Aktivität, der Aktion, des Dranges und der Zerstörung, Er führte den Kampf um seinen Platz an der Sonne schärfer und entschlossener und vor allem lärmender als die vorhergegangenen Schulen, entsprechend seiner aktivistischen Weltempfindung. Der junge Futurist ging natürlich nicht in den Betrieb, sondern polterte im Café, schlug mit den Fäusten auf den Notenständer, kleidete sich in eine gelbe Jacke, färbte sich die Backen und fuchtelte ins Unbestimmte mit den Händen.

Die Arbeiterrevolution in Russland war ausgebrochen, bevor sich der Futurismus von seinen Kindereien, gelben Jacken und der überflüssigen Hitzigkeit freigemacht hatte und zu einer offiziell anerkannten, d. h, politisch unschädlich gemachten und stilistisch ausgenutzten Kunstschule werden konnte. Die Eroberung der Macht durch das Proletariat überraschte den Futurismus im Alter einer verfolgten Gruppe. Daraus allein ergab sich für den Futurismus ein Anstoß in der Richtung der neuen Beherrscher des Lebens, um so mehr, da die Hauptmomente der futuristischen Weltanschauung: die Missachtung der alten Normen und das dynamische Stürmen, die Berührung und die Annäherung an die Revolution außerordentlich erleichterten. Aber die Züge seiner sozialen Abstammung von der bürgerlichen Bohème übertrug der Futurismus auch auf das neue Stadium seiner Entwicklung. …

Der Futurismus ist in der Vorwärtsentwicklung der Literatur nicht weniger ein Produkt der dichterischen Vergangenheit als jede andere literarische Richtung der Jetztzeit. Sagen, dass der Futurismus das Schaffen von den jahrtausendelangen Fesseln der Bürgerlichkeit befreit hat, wie Genosse Tschuschak schreibt, heißt, die Jahrtausende allzu billig verwerten. Der Appell der Futuristen, mit der Vergangenheit zu brechen, Puschkin zum alten Eisen zu werfen, die Traditionen zu liquidieren usw., hat Sinn, soweit er an die Literaturkaste, an den geschlossenen Intellektuellenkreis gerichtet ist. Mit andern Worten, – insofern die Futuristen beschäftigt sind mit dem Durchschneiden der Nabelschnur, die sie selber mit dem Priesterorden der bürgerlichen literarischen Tradition verbindet.

Aber die Inhaltslosigkeit dieses Appells wird offenkundig, sobald er an das Proletariat adressiert wird. Die Arbeiterklasse hat es nicht nötig und kann nicht mit der literarischen Tradition brechen, denn sie schmachtet nicht in den Fesseln dieser Tradition. Sie kennt die alte Literatur nicht, die muss sie erst kennen lernen, sie muss erst Puschkin noch erfassen, ihn aufsaugen und ihn dann auch überwinden. Der futuristische Bruch mit der Vergangenheit ist letzten Endes ein Sturm im Glase Wasser der Intellektuellen, die aufgewachsen sind mit Puschkin, Feth, Tjutschew, Brjussow, Balmont und Block,1 und die nicht deshalb „passeistisch" ist, weil sie an der abergläubischen Anbetung der Formen der Vergangenheit krankt, sondern weil sie nichts hervorbringt, was neue Formen erforderte. Sie hat einfach nichts zu sagen. Sie wiederholt die alten Gefühle in aufgewärmten Worten. Die Futuristen haben sich von ihnen losgelöst und haben recht daran getan. Man darf aber nie die Technik der eigenen Loslösung zu einem Gesetz der Weltentwicklung erheben.

In der übertriebenen futuristischen Ablehnung der Vergangenheit steckt ein Nihilismus der Bohème, aber kein proletarischer Revolutionarismus. Wir, Marxisten, lebten stets in der Tradition und hörten dadurch wahrhaftig nicht auf, Revolutionäre zu sein. Die Traditionen der Pariser Kommune wurden von uns verarbeitet und erlebt, schon vor der ersten russischen Revolution. Dann kamen die Traditionen von 1905 hinzu, von denen wir genährt wurden, als wir uns für eine zweite Revolution vorbereiteten. Noch weiter zurück, verbanden wir die Kommune mit den Junitagen 1848 und der Großen Französischen Revolution. In der Theorie stützten wir uns über Marx auf Hegel und die Klassiker der englischen Ökonomie. Wir, die wir unter den Verhältnissen einer organischen Epoche aufwuchsen und in den Kampf traten, wir lebten von den Traditionen der Revolutionen. Vor unsern Augen entstand mehr als eine literarische Richtung, die der „Bürgerlichkeit" einen schonungslosen Kampf ansagte und uns Halbheit vorwarf. Wie der Wind im Kreise wirbelt, so fanden die literarischen Revolutionäre und Stürmer der Traditionen den sichern Weg in die Akademie zurück.

Für die Intellektuellen, auch für deren linken literarischen Flügel, bedeutete die Oktoberrevolution eine völlige Umstülpung der gewohnten Welt, derselben Welt, von der sie von Zeit zu Zeit weg steuerten, neuen Schulen zuliebe, und zu der sie unentwegt zurückkehrten. Für uns umgekehrt war die Revolution die Verkörperung der für uns gewohnten innerlich verarbeiteten Tradition. Aus der Welt, die wir theoretisch negierten und praktisch unterwühlten, traten wir in eine Welt, die wir uns bereits zu eigen gemacht hatten als Tradition und als Vorahnung. Daraus ergab sich die Diskrepanz zwischen den psychologischen Typen des Kommunisten als politischen Revolutionär und des Futuristen als formal revolutionärem Neuerer. Daraus ergaben sich die Missverständnisse zwischen ihnen. Es ist nicht schlimm, dass der Futurismus die geheimen intellektuellen Traditionen „negiert", im Gegenteil! – aber es ist schlimm, dass er sich nicht in die revolutionären Traditionen fügt. Wir waren in die Revolution getreten, er aber stürzte in sie hinein.

Aber die Frage ist keineswegs hoffnungslos. Der Futurismus wird nunmehr nicht mehr zu seinem „Kreise" zurückkehren, denn dieser Kreis ist eigentlich nicht mehr da. Und dieser nicht gar so geringe Umstand erleichtert dem Futurismus die Möglichkeit, nach innerer Umwandlung, in die neue Kunst einzugehen, und zwar nicht als allbestimmende. sondern als wichtige bestandbildende Richtung.

Der russische Futurismus weist manche Elemente auf, die ziemlich selbständig sind und sich zum Teil widersprechen. Da sind gewisse philologische Konstruktionen und Versuche, die in bedeutendem Maße von Archaismen durchdrungen sind (Chlebnikow, Krutschenych) und jedenfalls außerhalb des Bereiches der Dichtkunst liegen; ferner, eine eigene Poetik, d. h, eine eigene Lehre von den Methoden und Möglichkeiten der Wortschöpfung; eine eigene Philosophie der Kunst, ja sogar zwei: eine formalistische (W, Schklowski) und eine marxistisch gerichtete (Arwatow, Tschuchak u, a.), endlich eine eigene Poesie, eine lebendige Schöpfung. Die literarische Flegelei lassen wir als selbständiges Element nicht gelten, denn sie ist gewöhnlich mit einem der Grundelemente gepaart. Wenn Krutschenych meint, dass unartikulierte Laute wie: „dyr, bul" in sich mehr Poesie bergen als der ganze Puschkin (oder so etwas), so liegt das etwa in der Mitte zwischen philologischer Poetik und – Verzeihung! – übler Flegelei. In ruhigerer Form ausgedrückt, könnte der Gedanke Krutschenychs etwa bedeuten, dass die Verorchestrierung nach dem Schlüssel „dyr, bul" der Struktur der russischen Sprache, ihrer Klangfarbe mehr eigentümlich sei als die Puschkinsche Orchestrierung mit der unbewussten Anlehnung an die französische Sprache. Ob dies zutrifft oder nicht, es ist vollkommen klar, dass „dyr, bul" keineswegs ein poetischer Extrakt der bereits dem Futurismus zur Verfügung stehenden Errungenschaften ist – folglich lässt sich auch kein Vergleich anstellen. Allgemein gesprochen, ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass jemand einmal nach diesem musikalisch-philologischen Schlüssel Gedichte schreiben wird, die besser als die Puschkinschen sein würden. Da heißt es abwarten.

Die Wortschöpfungen der Chlebnikow und Krutschenych liegen ebenfalls außerhalb der Dichtkunst: das ist eine wohl kaum sehr gründliche Philologie, zum Teil eine Phonetik, aber keineswegs eine Poesie. Es ist unzweifelhaft, dass die Sprache lebt und sich entwickelt, indem sie neue Worte aus sich heraus schafft und die morschen beiseite wirft. Aber sie tut es im Allgemeinen höchst vorsichtig, berechnend und streng nach Bedarf, Jede neue große Epoche gibt einen Anstoß für die Sprache. Die Sprache nimmt in sich zuerst eine große Anzahl von Neubildungen auf, aber dann nimmt sie eine Art Umregistrierung vor und verbannt alles Überflüssige und Fremdartige. Wenn Kalaschnikow und Krutschenych aus den vorhandenen Wurzeln zehn oder hundert neue abgeleitete Worte ausdenken, so kann diese Arbeit ein gewisses philologisches Interesse bieten, sie kann in einem gewissen, sehr bescheidenen Maße die Bewegung der lebendigen und der poetischen Rede erleichtern und die Epoche einer bewussteren Richtung der Revolutionierung der Sprache ankündigen. Aber diese Arbeit steht als Hilfsmittel für die Kunst selbst außerhalb der Kunst.

Es liegt kein Grund vor, in entrückte Ekstase zu geraten vor den Klängen dieser ausgeklügelten Poesie, die an musikalischen Exerzitien und Tonleitern erinnern, die zwar in Schülerheften von Nutzen sein mögen, aber für das Podium ungeeignet sind. Es ist jedenfalls offensichtlich, dass der Versuch, an Stelle der Poesie Sprachübungen zu setzen, eine Erdrosselung der Poesie wäre. Aber der Futurismus geht auch nicht diesen Weg. Majakowski, der unzweifelhaft ein Dichter ist, schöpft im allgemeinen aus dem alt anerkannten philologischen Wörterbuch von Dal und nur sehr selten aus dem Vokabular von Chlebnikow und Krutschenych. Je weiter, desto seltener treffen wir bei Majakowski willkürliche Sprachbildungen und Neologismen.

Die Fragen, die von den Theoretikern des „Lef"2 aufgeworfen wurden: über das Wechselverhältnis zwischen Kunst und Maschinenindustrie; über die Kunst, die das Leben nicht ziert, sondern bildet; über die bewusste Einwirkung auf die Bildung der Sprache und die systematische Wortschöpfung; über die Biomechanik als Erziehung der menschlichen Bewegungen im Geiste einer höheren Zweckmäßigkeit und somit auch Schönheit, – all diese Fragen sind außerordentlich bedeutsam und interessant in der Perspektive des Aufbaus einer sozialistischen Kultur.

Leider wird die Behandlung all dieser Fragen bei „Lef" von der Farbe einer utopischen Sektiererei gefärbt. Selbst wenn der Theoretiker des „Lef" die allgemeine Entwicklungstendenz auf diesem oder jenem Gebiete der Kunst oder des Seins richtig vorzeichnet, macht er aus dieser historischen Voraussage ein Schema, ein Rezept, und vergleicht sie mit dem, was ist. Ihm fehlt die Brücke zu der Zukunft. In dieser Hinsicht erinnern diese Leute an die Anarchisten, die in Vorahnung der künftigen Gewaltlosigkeit diese mit dem jetzigen Zustand vergleichen und den Staat, die Politik, das Parlament und manch andere Realitäten über Bord werfen (natürlich nur in der eigenen Phantasie). In der Praxis geschieht es, dass sie, wenn sie den Schwanz aus dem Dreck ziehen, mit der Nase darin versinken.

Majakowski beweist in kompliziert gereimten Versen die Überflüssigkeit der Verse und Reime und verspricht, in mathematischen Formeln zu schreiben, obwohl dazu die Mathematiker da sind. Wenn der leidenschaftliche Sucher Meyerhold,3 der Stürmer und Dränger der Bühne, in aller Eile im Dialog schwachen Schauspielern halb rhythmische Bewegungen beibringt und dies auf die Bühne bringt als „Biomechanik", so ergibt sich eine … Fehlgeburt. Der Versuch, das aus der Zukunft herauszureißen, was sich erst als ihr unlösbarer Teil entwickeln kann, und in aller Eile diese Teilleistung auf den jetzt noch ärmlichen und armseligen Brettern zu materialisieren, erzeugt den Eindruck eines Provinzdilettantismus, Und was kann der neuen Kunst feindlicher sein, als Provinzialismus und Dilettantismus!

Die neue Architektur wird aus zwei Elementen entstehen: der neuen Aufgabe und den neuen technischen Methoden, der Beherrschung des Materials, das zum Teil neu, zum Teil alt sein wird. Die neue Aufgabe ist nicht der Tempel, nicht das Schloss, nicht die Villa, sondern das Volkshaus, das Massenhotel, das gemeinsame Wohnhaus, die Riesenschule. Die Materialien und die Methode ihrer Bearbeitung werden bestimmt sein durch die wirklichen wirtschaftlichen Zustände des Landes in jenem Moment, wo die Architektur die Bewältigung ihrer Aufgaben in Angriff nehmen wird. Der Versuch, aus der Zukunft eine architektonische Konstruktion herauszureißen, führte bloß zu einer mehr oder weniger geistreichen persönlichen Willkür. Der neue Stil verträgt aber am wenigsten persönliche Willkür.

Die „Lef"-Schriftsteller weisen mit Recht darauf hin, dass der neue Stil im Entstehen begriffen ist dort, wo die Maschinenindustrie den unpersönlichen Konsumenten bedient. Der Telefonapparat ist ein Stückchen des neuen Stils. Die internationalen Schlafwagen, die Treppen und Stationen der Untergrundbahn, die Lifts, – all das sind entschieden Elemente des neuen Stils, ebenso wie die metallenen Brücken, die gedeckten Märkte, Wolkenkratzer und Hebekräne, Damit wird gesagt, dass außerhalb der praktischen Aufgabe und der beständigen Arbeit zu deren Bewältigung sich kein neuer Architekturstil schaffen lässt. Die Versuche, einen Stil deduktiv aus der Natur des Proletariats, seinem Kollektivismus, seiner Aktivität, Gottlosigkeit usw. abzuleiten, bedeuten einen Idealismus reinsten Wassers und werden praktisch zu nichts führen als ausgekochten Eigenbröteleien, willkürlichen Allegorien und immer weiter zu provinzmäßigem Dilettantismus.**

In der allgemeinsten Form zeigt sich der Fehler der „Lef'-Leute oder wenigstens eines Teils ihrer Theoretiker dort, wo sie ultimativ die Forderung nach der Verschmelzung der Kunst mit dem Leben aufstellen. Es ist absolut unzweifelhaft, dass die Trennung der Kunst von den andern Seiten des öffentlichen Lebens sich als Resultat der Klassenschichtung der Gesellschaft ergeben hat, dass der selbstherrliche Charakter der Kunst eine Folge der Tatsache ist, dass die Kunst zum Besitz der privilegierten Schichten geworden ist; dass die Weiterentwicklung der Kunst in der Richtung einer zunehmenden Verschmelzung der Kunst mit dem Leben gehen wird, d. h. mit der Produktion, den Volksfestlichkeiten, dem kollektiven Familienleben usw. Es ist auch gut, dass „Lef" all das einsieht und behandelt. Es ist aber schlimm, wenn auf Grund dessen der heutigen Kunst ein kurz befristetes Ultimatum angesagt wird: man gehe von der Drehbank hinweg und verschmelze sich mit dem Leben. Mit andern Worten: die Dichter, Künstler, Bildhauer, Schauspieler sollen aufhören zu gestalten und zu reproduzieren, Gedichte zu schreiben, Bilder zu malen, zu modellieren, auf den Brettern Dialoge zu führen, und sollen Kunst unmittelbar ins Leben hinein tragen Aber wie? Wohin? Durch welches Tor? Freilich, es ist jeder Versuch zu begrüßen, der danach strebt, mehr Rhythmus, Klang und Farbe den Volksfesten, den Versammlungen, Demonstrationen zu verleihen. Aber man braucht bloß etwas historisches Augenmaß zu besitzen, um einzusehen, dass noch mehrere Generationen dahingehen werden, bevor die Kunst es von unserer jetzigen wirtschaftlichen und kulturellen Armut bis zu der Verschmelzung der Kunst mit dem Alltagsleben bringen wird, d. h. bis zu einer solchen Entwicklung des Alltagslebens, wo es sich durch die Kunst gestalten lassen wird. Ob schlecht oder recht, die „Drehbankkunst" wird noch viele Jahre lang das Werkzeug der künstlerisch gesellschaftlichen Erziehung der Massen und deren ästhetischen Genusses bleiben, und zwar nicht allein die Malerei, sondern auch die Lyrik, der Roman, das Lustspiel, die Tragödie, die Skulptur, die Sinfonie. Wollte man aus lauter Opposition gegen die kontemplative impressionistische, bürgerliche Kunst der letzten Jahrzehnte die Kunst als Mittel der Gestaltung, der anschaulichen Erkenntnis negieren, so würde man dadurch wahrhaftig den Händen der Klasse, die eine neue Gesellschaft aufbaut, ein Werkzeug von allergrößter Bedeutung entwinden. Man sagt uns: die Kunst ist nicht ein Spiegel, sondern ein Hammer; sie reflektiert nicht, sondern gestaltet um. Aber heutzutage lehrt und lernt man ja den Hammer führen mit Hilfe eines „Spiegels", d. h. einer lichtempfindlichen Platte, die alle Bewegungsmomente festhält. Die Photographie und die Kinematographie werden eben dank ihrer passiv exakten Anschaulichkeit zu einem mächtigen Erziehungsmittel auf dem Gebiete der Arbeit. Um sich zu rasieren, braucht man einen Spiegel. Wie aber soll man sich und sein Leben umgestalten, ohne in den „Spiegel" der Literatur zu schauen? Natürlich kann man hierbei nur sehr bedingt von einem Spiegel reden. Niemand denkt daran, von der neuen Literatur eine spiegelgetreue Objektivität zu fordern. Je tiefer sie vom Drang erfasst ist, das Leben umzugestalten, um so bedeutender und dynamischer wird sie das Leben darstellen können.

Was bedeutet die Negierung der „Erlebnisse" der individuellen Psyche in der Literatur und auf der Bühne? Das ist ein verspäteter, längst überlebter Protest des linken Flügels der Intelligenz gegen die passive, realistische Tschechowerei und den träumerischen Symbolismus. Wenn die Erlebnisse des Tschechowschen Helden, eines Onkel Wanja, ein wenig ihre Frische eingebüßt haben – und dieses Malheur ist tatsächlich passiert –, so hat ja schließlich nicht Onkel Wanja allein ein Innenleben. Auf welche Weise, auf welcher Grundlage und in wessen Interesse kann die Kunst sich an die innere Welt des heutigen Menschen wenden, der eine neue Außenwelt und dadurch auch sich selber aufbaut? Falls die Kunst dem neuen Menschen nicht helfen kann, sich zu erziehen, zu festigen und zu verfeinern, – wozu dann die Kunst? Wie kann die Kunst die Innenwelt organisieren, wenn sie nicht in sie eindringt und sie nicht reproduziert? Hier leiert der Futurismus einfach seine eigene Litanei herunter, die jetzt geradezu schon reaktionär geworden ist.

Dasselbe ist auch mit dem Alltagsleben der Fall, Der Futurismus hat mit dem Protest gegen die Kunst der kleinen Pinscher, der realistischen Schmarotzer des Alltagslebens begonnen. Der Rechtsanwalt, der Student, die liebebedürftige Dame, der Provinzbeamte, der Herr Peredonow4 mit seinen Gefühlchen, Freuden und Kümmernissen, in dieser stagnierenden kleinen Welt, konnte die Literatur nur ersticken und verblöden. Aber lässt sich denn der Protest gegen das Schmarotzertum des Lebens zu einer Loslösung der Literatur von den Lebensbedindungen und Formen erheben? Wenn der futuristische Protest gegen den verkleinlichten Lebensrealismus eine historische Rechtfertigung hatte, so doch nur, insofern er einer neuen künstlerischen Gestaltung des Alltagslebens die Bahn freimachte, nämlich in dem Zusammenbruch und Neuaufbau nach einer neuen Kristallisationsachse.

Es ist hervorzuheben, dass „Lef", der die Lebensgestaltung als Aufgabe der Kunst ablehnt, jedoch als Musterbild von Prosa ein Werk nennt wie Brikes „Nicht-Weggenossin". Was ist es anderes, als Genre, wenn auch in der Perspektive eines fast kommunistischen „Lokalanzeigers". Nicht das ist schlimm, dass die Kommunisten hier durch die Bank zuckersüß und nicht ganz „ehern" dargestellt sind, aber schlimm ist, dass zwischen dem Verfasser und dem trivialen Milieu, das er schildert, nicht ein Millimeter Distanz zu spüren ist. Damit aber die Kunst nicht allein widerspiegele, sondern auch umgestalte, muss zwischen dem Künstler und dem Alltagsleben, ebenso wie zwischen dem Revolutionär und der politischen Wirklichkeit, eine große Distanz liegen,

Genosse Tschuschak beantwortet die Kritik, die freilich mitunter mehr hetzerisch als überzeugend ist, damit, dass er das Argument ins Feld führt, „Lef" befände sich im Prozess des ständigen Suchens. Unzweifelhaft sucht „Lef" mehr, als er gefunden hat. Aber das allein erklärt nicht zur Genüge, warum die Kommunistische Partei „Lef" oder einen bestimmten Flügel nicht kanonisieren kann als „kommunistische Kunst", was dieser selbe Tschuschak so dringend empfiehlt. Man kann das Suchen nicht kanonisieren, genau so wenig, wie man eine Armee mit der Idee einer nicht realisierten Erfindung bewaffnen kann.

Aber bedeutet denn all das nicht, dass „Lef" absolut auf falscher Fährte ist und uns gar nichts angeht? Nein, das bedeutet es nicht. Die Sache steht nicht so, dass die Kommunistische Partei in Fragen der kommenden Kunst ganz bestimmte und feste Beschlüsse hätte und eine gewisse Gruppe diese sabotiere. Davon kann keine Rede sein. Die Partei hat keine fertigen Beschlüsse in Fragen der Versform, der Theaterentwicklung, der Erneuerung der literarischen Sprache, des Architekturstils usw. und kann auch keine haben, genau so, wie sie – auf anderem Gebiete – keine fertigen Beschlüsse über bessere Düngung, eine richtigere Organisation des Verkehrs und ein vollkommeneres System des Maschinengewehrs haben kann und auch nicht hat. Doch praktische Beschlüsse über das Maschinengewehr, den Verkehr und die Düngung braucht man sofort. Was tut die Partei? Sie beauftragt gewisse Leute, sich mit der Sache zu befassen, und kontrolliert diese Leute hauptsächlich nach den praktischen Resultaten ihrer Tätigkeit, Auf dem Gebiete der Kunst ist die Frage zugleich einfacher als komplizierter. Soweit es sich um die politische Auswertung der Kunst oder die Verhinderung einer solchen Auswertung seitens der Feinde handelt, verfügt die Partei über genügende Erfahrung, Spürsinn, Entschlossenheit und Mittel. Aber die aktive Entfaltung der Kunst, der Kampf um ihre neue formale Errungenschaft, bildet nicht den Gegenstand der direkten Aufgaben und Bemühungen der Partei. Zu dieser Arbeit entsendet sie niemanden. Indes besteht eine gewisse Verbindungslinie zwischen den Fragen der Kunst, der Politik, der Technik und der Wirtschaft. Es ist notwendig, diese Fragen in ihrer inneren wechselseitigen Beziehung zu verarbeiten. Namentlich das tut die Gruppe „Lef". Sie stellt viel Unsinn an und übertreibt – mit Verlaub zu sagen – theoretisch, aber haben wir denn in andern, viel wichtigeren Fragen des Lebens nicht auch übertrieben und übertreiben? Ferner, haben wir denn ernsthaft versucht, die Irrtümer der theoretischen Behandlung oder die sektiererischen Auswüchse der praktischen Schöpfung zu korrigieren? Wir haben keinen Grund, daran zu zweifein, dass die Gruppe „Lef" aufrichtig bestrebt ist, im Interesse des Sozialismus zu wirken, sich für die Fragen der Kunst stark interessiert und sich von marxistischen Kriterien leiten lassen will. Warum soll man mit dem Bruch anfangen und nicht mit dem Versuch einer Beeinflussung und Assimilierung? Die Frage steht keineswegs auf des Messers Schneide. Die Partei hat Zeit genug für eine solche Kontrolle, aufmerksame Beeinflussung und Auswahl. Oder haben wir so viele qualifizierte Kräfte, dass wir leichten Herzens mit ihnen herum springen können? Der Schwerpunkt liegt aber nicht in der theoretischen Verarbeitung der Fragen der neuen Kunst, sondern in der künstlerischen Schöpfung. Wie verhält es sich mit der futuristischen Kunstpraxis, ihrem Suchen und ihren Errungenschaften? Hierbei liegt noch weniger Grund für übereilte Intoleranz vor.

Es lassen sich jetzt kaum die futuristischen Erfolge in der Kunst, besonders in der Dichtkunst, glattwegs ableugnen. Mit ganz geringen Ausnahmen unterlag die ganze jetzige russische Dichtkunst direkt oder indirekt dem Einfluss des Futurismus. Der Einfluss Majakowskis auf eine Reihe proletarischer Dichter ist absolut unzweifelhaft. Der Konstruktivismus hat gewisse Erfolge zu verzeichnen, wenn auch nicht auf der Linie, die er sich vorgezeichnet hat. Es erscheinen in einem fort Artikel über die völlige Unfruchtbarkeit und das Konterrevolutionäre des Futurismus unter Umschlagdeckeln, die von Konstruktivisten gezeichnet sind. In den offiziellen Verlagen werden neben der vernichtenden Kritik des Futurismus futuristische Werke veröffentlicht. Der „Proletkult" ist mit einer Reihe lebendiger Fäden mit dem Futurismus verknüpft. Es liegt natürlich kein Grund vor, die Bedeutung dieser Tatsache zu übertreiben, denn sie entwickelt sich ebenso wie die meisten Gruppierungen in der russischen Kunst einstweilen noch in der obersten Schicht und ist mit der Arbeiterklasse wenig verbunden. Aber es wäre sinnlos, diese Tatsachen zu übersehen und den Futurismus zu behandeln als eine Scharlatanerie und eine Marotte verkommener Intellektueller. Selbst wenn der morgige Tag die Einsicht bringen sollte, dass der Futurismus aus dem letzten Loche pfeift – ich halte es nicht für ausgeschlossen –, so verfügt er heute noch über mehr Mittel als jene Richtungen, auf deren Kosten er wächst.

Der ursprüngliche russische Futurismus bedeutete, wie gesagt, eine Rebellion der Bohème, d. h. des linken, halb pauperisierten Flügels der Intellektuellen gegen die abgeschlossene Kastenästhetik der bürgerlichen Intellektuellen. Durch die Hülle der dichterischen Rebellion hindurch schillerte der Druck tiefer gehender sozialer Kräfte, von denen der Futurismus selbst keine Ahnung hatte. Der Kampf gegen das alte Dichtervokabular und die Syntax war bei all seinen bohèmistischen Extravaganzen ein permanenter Aufstand gegen das abgeschlossene Vokabular, das künstlich ausgesucht war, damit nichts Überflüssiges einen beunruhige, gegen den Impressionismus, der das Leben durch einen Strohhalm schlürfte, gegen den in himmlischer Leere verlogenen Symbolismus, gegen die Dame Sinaida Hippius5 und alle übrigen ausgequetschten Zitronen und abgenagten Hühnerknochen der intellektuell liberalen Mystik.

Schaut man jetzt auf die hinter uns gebliebene Periode aufmerksam zurück, so muss man gestehen, dass die Arbeit der Futuristen auf dem Gebiete des Wortes lebenstüchtig und fortschrittlich war. Ohne die Ausmaße der von ihnen vollbrachten „Sprachrevolutionen" zu überschätzen, muss man anerkennen, dass der Futurismus viele verheerende Worte und Ausdrücke verbannt, andere mit Blut erfüllt und in manchen Fällen glücklich neue Worte und Wendungen geschaffen hat, die in das dichterische Vokabular eingegangen sind oder eingehen und die lebendige Sprache bereichern können. Dies gilt nicht allein von dem isoliert genommenen Wort, sondern auch für seine Stellung unter den andern Worten, d, h. für die Syntax. Auf dem Gebiete der Wortkombination und der Wortbildung ist der Futurismus freilich über die Grenzen hinausgegangen, die eine lebendige Sprache fassen können. Aber dasselbe lässt sich ja auch von der Revolution sagen. Das ist die „Sünde" einer jeden lebendigen Bewegung, Gewiss, die Revolution, ihre bewusste Avantgarde besitzt mehr Selbstkritik als ein futuristischer Zirkel, dafür aber hat er mehr Abwehr von außen erhalten und wird hoffentlich ihn noch erhalten. Die Übertreibungen werden aufhören, die grundlegende, reinigende und zweifellos revolutionäre Arbeit auf dem Boden der künstlerischen Sprache wird bleiben.

Man muss auch die fortschrittlich schöpferische Arbeit des Futurismus auf dem Gebiete des Rhythmus und des Reims anerkennen und zu schätzen wissen. Für denjenigen, der diesen Dingen gegenüber gleichgültig dasteht und sie nur deshalb duldet, weil wir sie von unsern Großvätern geerbt haben, für die sind die futuristischen Neuerungen bloß ein Hindernis, weil sie besondere Aufmerksamkeit kosten. Man kann im Zusammenhang damit überhaupt die Frage aufwerfen: braucht man denn Rhythmus und Reim überhaupt? Es ist kurios, dass Majakowski selbst von Zeit zu Zeit – in Versen mit sehr komplizierten Reimen – beweist, dass der Reim überflüssig sei. Die rein logische Betrachtung liquidiert die Frage der künstlerischen Form. Man muss dabei nicht mit dem Verstande urteilen, der nicht über die formale Logik hinausgeht, sondern mit der Vernunft, die auch das Irrationale in ihr Bereich einschließt, insoweit es lebendig und lebensfähig ist. Die Poesie ist viel weniger eine rationale als emotionale Angelegenheit. Die menschliche Psyche, die in sich biologische und soziale Arbeitsrhythmen und rhythmische Knoten aufgesaugt hat, sucht ihr idealisiertes Abbild im Klang, im Licht, im künstlerischen Wort. Solange dieses Bedürfnis lebendig ist, stellen die futuristischen Rhythmen und Reime, die elastischer, kühner und vielgestaltiger sind, eine unzweifelhafte und wertvolle Leistung dar. Und sie ist bereits über die Grenzen der rein futuristischen Gruppierungen hinausgegangen.

Ebenso unzweifelhaft sind die Errungenschaften der Futuristen auf dem Gebiete der Verinstrumentierung. Man darf nicht vergessen, dass der Wortklang eine akustische Begleiterscheinung des Sinnes ist. Wenn die Futuristen an einer mitunter ungeheuerlichen Vorliebe für den Klang gegen den Sinn krankten und kranken, so sind diese Übertreibungen, die natürlich bekämpft werden müssen, bloß eine „Links-Kinderkrankheit", die Raserei einer neuen poetischen Richtung, die mit ihrem frischen Ohr den Klang neu erfasst hat, gegen die abgetakelte Wortroutine. Gewiss, die meisten Arbeiter haben heutzutage für alle diese Fragen nichts übrig. Auch die Avantgarde der Arbeiterklasse hat zumeist viel wichtigere Sachen zu tun. Aber wir haben ja auch ein Morgen. Es wird eine immer aufmerksamere, genaue, meisterhafte artistische Behandlung der Sprache, dieses Elements der Kultur, verlangen, und zwar nicht allein in Versen, sondern auch in Prosa, und sogar besonders in Prosa, Das Wort deckt niemals genau den Begriff im konkreten Sinne, in dem der Mensch den Begriff in jedem einzelnen Falle auffasst. Andererseits wirken das Wort als Klang und das Wort als Zeichnung nicht nur auf das Ohr und das Auge, sondern auch auf die Logik und die Phantasie. Der Gedanke lässt sich nur exakter machen durch eine sorgfältige Auswahl der Worte, deren allseitiges und zugleich auch artistisches Abwägen, deren durchdachte Kombination, Mit Schlamperei ist hierbei nichts zu machen; man braucht hierbei mikroskopische Instrumente, Routine, Tradition, Gewohnheit und Lässigkeit müssen hierbei einer durchdachten, systematischen Verarbeitung Platz machen. Der Futurismus ist in seinem besten Teil ein Protest gegen die Schlamperei, diese allmächtige literarische Schule, die auf allen Gebieten sehr einflussreiche Vertreter hat.

In einer noch nicht veröffentlichten Arbeit des Genossen Gorlow, in der eine, meiner Meinung nach, unrichtige internationale Genesis des Futurismus gegeben wird, und in der noch irrtümlicher, unter Missachtung der historischen Perspektiven, der Futurismus mit der proletarischen Poesie identifiziert wird, sind zu gleicher Zeit sehr gescheit und inhaltsreich die künstlerisch formalen Errungenschaften des Futurismus resümiert. Gorlow weist mit Recht darauf hin, dass die formale „Revolution" des Futurismus, die aus der Auflehnung gegen die alte Ästhetik entstanden ist, in ihrer Vertikale den Aufruhr widerspiegelt gegen das stagnierende, morsche Sein; diese Ästhetik fand ihre Vollendung bei Majakowski, dem stärksten Dichter dieser Schule, und seinen nächsten Freunden im Aufruhr gegen das soziale Regime, das das abgelehnte Sein mit seiner abgelehnten Ästhetik erzeugte. So ergibt sich ihre organische Verbindung mit dem Oktoberumsturz.

Das Schema des Genossen Gorlow ist richtig, erfordert aber Präzisierung und Einschränkung, Wahr ist, dass die neuen Worte und Wortkombinationen, die Rhythmen und Reime, deshalb notwendig geworden sind, weil der Futurismus in seiner Weltauffassung die Erscheinungen und Tatsachen umgruppiert hat und neue Beziehungen zwischen ihnen festgestellt, d. h, für sich entdeckt hat. Der Futurismus ist gegen die Mystik, gegen die passive Vergötterung der Natur, gegen die aristokratische und sonstige Faulheit, Verträumtheit, Weinerlichkeit, ist für Technik, wissenschaftliche Organisation, den Plan, den Willen, den Mut, die Raschheit, die Exaktheit, für den Menschen, der mit all diesen Eigenschaften ausgerüstet ist. Die Verbindung des ästhetischen „Aufruhrs" mit dem moralischen ist unmittelbar gegeben: der eine sowohl wie der andere reiht sich ganz der Lebenserfahrung der aktiven, jungen, noch nicht gezähmten Intelligenz der linken schaffenden Bohème ein. Empörung gegen die Beschränktheit und Banalität und ein neuer Kunststil als Mittel dieser Empörung, sich Luft zu machen und sie somit zu … liquidieren. In den verschiedenen Kombinationen, auf verschiedener historischer Grundlage nahmen wir wiederholt die Bildung des neuen Stils aus der intellektuellen Empörung wahr. Damit war gewöhnlich die Sache auch zu Ende. Aber diesmal wurde der Futurismus von der proletarischen Revolution aufgefangen und vorwärts gestoßen. Die Futuristen wurden zu Kommunisten. Dadurch betraten sie das Gebiet tiefgehender Fragen und Beziehungen, die weit über die Grenzen ihrer alten, kleinen Welt hinausgingen und organisch von ihrer Psyche noch nicht verarbeitet waren. So kommt es, dass die Futuristen, darunter auch Majakowski, künstlerisch am schwächsten in jenen Werken sind, wo sie als Kommunisten am vollendetsten auftreten. Die Ursache ist nicht so sehr die soziale Abstammung als die geistige Vergangenheit. Die futuristischen Dichter beherrschen nicht die Elemente der kommunistischen Weltauffassung und -betrachtung organisch genug, um ihnen einen organischen Ausdruck im Worte zu verleihen: sie haben es gewissermaßen noch nicht im Blute. Daraus ergeben sich die künstlerischen, im Grunde genommen psychologischen Missgriffe, die Gespreiztheit, das Leerlaufen. In seinen revolutionär verbundensten Werken wird der Futurismus bereits zur Stilisierung. Bei dem jungen Besymenski, der Majakowski zu so viel verpflichtet ist, ist der künstlerische Ausdruck der kommunistischen Weltauffassung organischer: Besymenski gelangte nicht als fertiger Dichter zum Kommunismus, sondern wurde in ihm geistig geboren.

Man kann einwenden – und man hat es auch wiederholt getan –, dass auch die proletarische Programmdoktrin von Abkömmlingen der bürgerlich demokratischen Intelligenz geschaffen worden ist. Aber hierbei ist ein Unterschied zu machen, der für diese Frage entscheidend ist. Die historisch-philosophische und ökonomische Doktrin des Proletariats besteht aus Elementen der objektiven Erkenntnis. Wenn der Schöpfer der Mehrwerttheorie nicht der universal gebildete Doktor der Philosophie Marx gewesen wäre, sondern der Drechsler Bebel, der asketisch sparsam war im Leben und im Denken, mit seinem Verstande so scharf wie ein Messer, so hätte er sie in einer populäreren, einfacheren und einseitigeren Gestalt formuliert. Der Gedankenreichtum und die Gedankenmannigfaltigkeit, die Fülle der Argumente, Bilder und Zitate im „Kapital" verraten entschieden die „intellektuelle" Hülle des großen Werkes. Da es sich aber um objektive Erkenntnis handelt, so ist das Wesen des „Kapitals" zu Bebel und darauf zu Tausenden und Abertausenden Proletariern als Eigentum übergegangen.

In der Dichtung haben wir es mit gestalteter Weltauffassung, nicht mit wissenschaftlicher Welterkenntnis zu tun. Der Alltag, das persönliche Milieu, der Kreis der persönlichen Lebenserfahrung üben daher einen bestimmten Einfluss auf die künstlerische Schöpfung aus. Die Verarbeitung der von Kindheit an aufgenommenen Gefühlswelt an Hand einer wissenschaftlich programmatischen Orientierung gehört zu den schwierigsten innerlichen Arbeiten. Nicht jeder ist dazu fähig. So kommt es, dass es in der Welt nicht wenige Menschen gibt, die denken als Revolutionäre, aber fühlen als Kleinbürger, Aus diesem Grunde vernehmen wir in der Poesie des Futurismus, sogar wenn er sich ganz der Revolution hingegeben hat, mehr den Revolutionsgeist der Bohème als den des Proletariats,

Majakowski ist ein großes oder nach Blocks Ausdruck ein gewaltiges Talent. Er versteht es, Sachen, die man viele Male gesehen hat, so hinzustellen, dass sie neu erscheinen. Er beherrscht das Wort und den Wortschatz als kühner Meister, der nach eigenen Gesetzen arbeitet, unabhängig davon, ob uns seine Meisterschaft gefällt oder nicht. Viele seiner Bilder, Wendungen und Ausdrücke sind in die Literatur eingegangen und werden in ihr bleiben für immer oder wenigstens für lange. Er hat seinen eigenen Aufbau, seine Gestaltung, seinen Rhythmus, seinen Reim.

Der künstlerische Wurf Majakowskis ist fast immer bedeutend, mitunter grandios. Der Dichter zieht in sein Bereich ein sowohl den Krieg als die Revolution, das Paradies und die Hölle. Majakowski steht feindlich gegenüber der Mystik, der Bigotterie jeder Art, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – seine Sympathie ist ganz auf Seiten des kämpfenden Proletariats. Kunstpriestertum, wenigstens prinzipielles Priestertum, ist ihm fremd: im Gegenteil, er ist bereit, seine Schöpfung ganz in den Dienst der Revolution zu stellen.

Aber diesem großen Talent, richtiger der ganzen schöpferischen Persönlichkeit Majakowskis fehlt die notwendige Harmonie zwischen den Bestandteilen und den Elementen, fehlt das Gleichgewicht, sei es auch ein dynamisches. Majakowski ist dort am schwächsten, wo ein Gefühl für Maß und die Fähigkeit der Selbstkritik erforderlich sind.

Majakowskis Bejahung der Revolution ist natürlicher als die der andern russischen Dichter, denn sie ergab sich aus seiner ganzen Entwicklung. Viele Wege führen die Intellektuellen zur Revolution (nicht alle führen bis ans Ziel), und daher ist es von Wichtigkeit, die persönliche Linie Majakowskis genauer zu bestimmen. Ein Weg ist derjenige der „muschikierenden" Intellektuellen, der kapriziösen Mitläufer; ein Weg der objektiven Mystiker, die eine höhere „Musik" suchen (A. Block), ein Weg der intellektuellen Gruppe der „Wegzeichenumsteller"6 und derjenigen, die sich einfach mit uns ausgesöhnt haben; ferner ein Weg der Rationalisten und Eklektiker (Brjussow, Gorodetzki); es gibt auch noch andere Wege. Majakowski hat den kürzesten Weg zurückgelegt, den Weg der stürmenden, verfolgten Bohème. Die Revolution ist für Majakowski ein wahres, echtes, tiefes Erlebnis, denn sie ist mit ihrem Donner und Blitz auf all das niedergeprasselt, was Majakowski in seiner Art hasste, was er nicht akzeptierte – darin besteht seine Kraft. Der revolutionäre Individualismus Majakowskis mündete ekstatisch in die proletarische Revolution, aber verschmolz nicht mit ihr. Die kahlköpfige Laterne, die der Straße die Strümpfe auszieht, – ein spezifisches Bild, das für Majakowski sehr charakteristisch ist, beleuchtet mit ihrem Licht die bohèmistische Stadtkunst des Dichters besser als sonstige Betrachtungen. Der herausfordernd zynische Ton vieler Bilder, besonders aus der ersten Periode des Dichters, trägt in sich nur zu deutlich die Spuren der Künstlerkneipe, von Zigarrenrauch usw.

Der dynamische Charakter der Revolution, ihr rauer Mut sind Majakowski viel näher als der Massencharakter ihres Heldentums, als der Kollektivismus ihrer Taten und ihrer Erlebnisse. So wie der Grieche Anthropomorphist war und sich naiv einer Naturkraft gleichstellte, so bevölkert unser Dichter, Majakomorphist, mit sich selbst die Plätze, Straßen und Gefilde der Revolution. Freilich, die Extreme berühren sich. Die Universalisierung des eigenen Ich verwischt bis zu einem gewissen Grade die Grenzen der Persönlichkeit und nähert sie dem Kollektiv vom andern Ende. Aber nur bis zu einem gewissen Grade. Der bohème-individualistische Dünkel – im Gegensatz nicht zur Demut, die ja niemand verlangt, sondern zu dem notwendigen Takt und Maßgefühl – durchdringt alles, was Majakowski geschrieben hat. Das Pathos erreicht bei ihm mitunter eine außerordentliche Spannung, aber nicht immer steht hinter dieser Spannung Kraft, Der Dichter ist zu sehr zu sehen, die Ereignisse erhalten zu wenig Autonomie, nicht die Revolution kämpft gegen Hindernisse an, sondern Majakowski boxkämpft in Worten und vollbringt hie und da wahre Wunder, aber immerfort stemmt er in heroischer Anspannung ausgemacht leere Gewichte.

Von sich selbst spricht Majakowski auf Schritt und Tritt, in erster und dritter Person, bald individuell, bald indem er sich in dem Menschen auflöst. Um den Menschen zu heben, erhebt er ihn zum Majakowski. Gegenüber den größten historischen Ereignissen legt er sich einen familiären Ton bei. Und dies ist in seinen Werken am unausstehlichsten und auch am gefährlichsten. Man kann nicht einmal von Gespreiztheit und Stelzen reden; das wären zu klägliche Stützen. Majakowski steht mit dem einen Fuß auf dem Mont Blanc, mit dem andern auf dem Chimborasso. Mit seiner Stimme übertäubt er den Donner. Was Wunder, dass er mit der Revolution und der Geschichte auf Du und Du steht! Das ist eben das Gefährlichste dabei, denn bei solchen gigantischen Maßstäben überall und allerorts, bei der donnerähnlichen Oranie (das Lieblingswort des Dichters), bei einem Horizont vom Chimborasso und Mont Blanc aus gesehen, verschwinden die Proportionen der irdischen Dinge, und es lässt sich keine Grenze ziehen zwischen groß und klein. So kommt es, dass Majakowski von seiner Liebe, d. h. vom Intimsten, so spricht, als ob es sich um die Völkerwanderung handle. Aber aus demselben Grunde findet er auch ein anderes Vokabular für die Revolution, Er schießt immer über das Ziel hinaus, und jeder Artillerist weiß, dass ein solches Schießen am wenigsten Treffer gibt und für das Geschütz am gefährlichsten ist.

Dass der Hyperbolismus (Übertreibung) in gewissem Sinne die Raserei unserer Zeit widerspiegelt, ist sicher. Aber das hat noch keine künstlerische Rechtfertigung gefunden. Man kann nicht den Krieg oder die Revolution überschreien, oder dabei können mit Leichtigkeit die Stimmbänder zerreißen. Das Gefühl für Maß ist in der Kunst dasselbe, wie der realistische Sinn in der Politik. Das Hauptlaster der futuristischen Poesie, selbst in den besten Werken, ist der Mangel des Gefühls für Maß: das Salonmaß ist verlorengegangen, dasjenige der öffentlichen Plätze ist noch nicht gefunden. Doch gefunden werden muss es. Forciert man seine Stimme im Freien, so entsteht Heiserkeit und Gicksen, die den Eindruck der Rede verderben. Du musst mit der Stimme reden, die du von der Natur hast, und nicht mit einer andern, lauteren Stimme, die du nicht hast. Aber die Sprache lässt sich geschickt voll ausnutzen. Majakowski schreit allzu oft dort, wo er reden sollte, deshalb erscheint sein Schrei dort, wo man schreien muss, unausreichend. Das Pathos des Dichters wird von Gebrüll und Heiserkeit untergraben.

Die überlasteten Bilder Majakowskis, die an sich oft sehr schön sind, zersetzen ebenso oft das Ganze und lähmen die Bewegung. Offenbar empfindet das der Dichter selbst. Vielleicht kommt daher seine Sehnsucht nach einem andern Extrem, nach der poesiefremden Sprache, der „mathematischen Formel". Es will uns scheinen, dass die selbst gewollte Bildlichkeit, die der Imaginismus und der Futurismus gemeinsam haben, seine Wurzeln hat in der bäuerlichen Unterlage unserer Kultur. Darin steckt viel mehr Zwiebelkirche aus dem 15, Jahrhundert, als Eisenbetonbrücke. Aber abgesehen von den historisch kulturellen Erklärungen ist und bleibt Tatsache, dass den Werken Majakowskis am meisten die Bewegung fehlt. Das mag paradox erscheinen, denn der Futurismus ist, man könnte glauben, ganz auf Bewegung aufgebaut. Doch hier tritt die unbestechliche Dialektik in ihre Rechte: der Überfluss an stürmischer Bildlichkeit führt zur Ruhe. Damit die Bewegung von uns körperlich und um so mehr künstlerisch empfunden werde, muss sie im Einklang stehen mit der Mechanik unserer Wahrnehmung, mit dem Rhythmus unserer Gefühle, das Kunstwerk muss das Bild, die Idee, die Stimmung, die Verknotung der Handlung zu einem Maximum steigern, darf aber nicht den Leser hin und her schleudern, sei es auch durch die raffiniertesten Püffe der Boxerbildlichkeit. Bei Majakowski will jeder Satz, jede Wendung, jedes Bild ein Maximum, eine Grenze, ein Gipfel sein, deshalb hat das „Ding" als Ganzes kein Maximum. Der Beschauer hat das Gefühl, als ob er permanent gezwungen wäre, sich teilweise zu verausgaben, – das Ganze verschwindet ihm. Eine Bergbesteigung ist beschwerlich, aber lohnt sich. Das Gehen durch, ein zerklüftetes Gelände bereitet ebenso viel Müdigkeit, aber weniger Freude. Majakowskis Werke haben keine Gipfel, sie sind innerlich undiszipliniert. Die Teile wollen dem Ganzen nicht gehorchen. Jeder Teil will sich behaupten. Jeder entwickelt seine eigene Dynamik, unbekümmert um den Willen des Ganzen. Deshalb fehlt die Ganzheit und fehlt die Dynamik. Die futuristische Bearbeitung des Wortes und des Bildes hat noch keine synthetische Verkörperung gefunden.

150.000.000" sollte das Poem der Revolution sein. Ist es aber nicht. In dem groß angelegten Werke sind die schwachen Seiten des Futurismus und seine Lücken so groß, dass sie das Ganze verschlingen. Der Verfasser wollte ein Epos der Massenleiden geben, des Massenheroismus, der unpersönlichen Revolution der 150.000.000 Iwans. Der Verfasser signierte: „Niemand ist Verfasser dieses Poems von mir", aber diese konventionelle Unpersönlichkeit ändert nichts an der Sache: das Poem ist tief persönlich, individualistisch, und zwar hauptsächlich im bösen Sinne des Wortes, es hat allzu viel künstlerische Willkür, Die Bilder des Poems sind ungefähr: „Wilson, der in Fett schwimmt", „In Chicago hat jeder Einwohner mindestens den Generalsrang", „Wilson frisst, mästet sich, die Bäuche wachsen Etagen über Etagen", und weiter in dieser Art. Diese Bilder sind läppisch und täppisch, aber sind keineswegs Massenbilder, nicht Volksbilder oder wenigstens nicht solche der heutigen Masse. Der Arbeiter, der Majakowskis Poem lesen wird, hat ja Wilsons Porträt gesehen: Wilson ist mager, auch wenn er – wir glauben es gerne – genügend Eiweiß und Fette verzehrt. Der Arbeiter hat Sinclair gelesen und weiß, dass es in Chicago außer der Generäle Arbeiter der Schlachthäuser gibt. Die unmotiviert primitiven Bilder erinnern trotz der polternden Hyperbeln sogar an das Pappeln der Erwachsenen mit den Kindern. Nicht die Einfachheit der Volksphantasie schaut auf uns aus diesen Bildern herab, sondern die Narretei der Bohème. Wilson hat eine Leiter: „Wenn du sie jung besteigst, so wirst du im Alter kaum die Spitze erreichen". Iwan geht auf Wilson los, es findet „ein Match des internationalen Klassenkampfes" statt, wobei Wilson „Revolver mit vier Läufen, einen Säbel mit siebzig Schneiden" hat. Iwan aber „eine Hand und noch eine Hand, und diese ist in den Gürtel gesteckt". Der wehrlose Iwan mit seiner Hand im Gürtel – gegen den mit Revolvern bewaffneten Fremden, das ist eine uralte russische Weise! Steht nicht der russische Sagenheld Ilja Murometz vor uns? Oder vielleicht Iwan der Narr, der barfüßig gegen die schlaue deutsche Maschinerie ins Feld zieht? Wilson schlägt auf Iwan mit dem Säbel los: „Vier Meilen war die Wunde lang … und aus der Wund ein Mensch erklang", usw. in dieser Art. Ach, wie unangebracht und vor allem wie unernst klingt doch die märchenhaft-sagenhaft primitive Weise, die in aller Eile zusammengeschustert ist für die Mechanik von Chicago und den Klassenkampf. Das alles ist titan gedacht, in Wirklichkeit ist es aber bestenfalls athletisch, und zwar ist es ein Athletentum höchst zweifelhafter, parodistischer Natur, mit leeren Bällen. „Match des internationalen Klassenkampfes"! Selbstkritik, wo bleibst du? Ein Match ist eine Vergnügungsvorführung, bei der Schwindeleien mit hinzukommen. Weder das Bild passt hier noch das Wort. Anstatt des tatsächlichen Titanenkampfes von 150.000.000 ergibt sich die Parodie eines sagenhaften Zirkusmatches. Eine unfreiwillige Parodie, – aber dadurch wird die Sache nicht besser.

Unmotivierte, d. h. innerlich unverarbeitete Bilder verschlingen restlos die Idee und – kompromittieren sie künstlerisch sowohl wie politisch, Warum hält denn Iwan die eine Hand im Gürtel, gegen die Säbel und die Revolver? Woher diese Verachtung der Technik? Dass Iwans Bewaffnung schlechter ist als die Wilsons, ist richtig. Aber eben gerade deshalb muss er mit beiden Händen arbeiten. Und wenn Iwan nicht besiegt stürzt, so geschieht es nur deshalb, weil es in Chicago nicht nur Generäle, sondern auch Arbeiter gibt, und weil ihre überwiegende Mehrheit gegen Wilson und für Iwan ist. Das alles ist im Poem nicht zu merken. Der Verfasser hascht nach vermeintlicher Monumentalität der Bilder und schneidet sich das Wesentliche ab.

In aller Eile und nebenbei, wiederum unmotiviert, spaltet der Verfasser die ganze Weltschöpfung in zwei Klassen: einerseits in den im Fett schwimmenden Wilson, mit dem die Hermeline und Biber und die großen Himmelskörper sind, und andererseits – Iwan, auf dessen Seite die Joppen und die Millionen der Milchstraße sind. „Zu den Bibern halten der Weltdekadenten Wörtchen, zu den Joppen der Futuristen – eherne Worte." Aber im Poem selbst finden wir zwar recht viele starke und gelungene Worte, prägnante Bilder und überhaupt allerlei Wortreichtum, aber an wahrhaft ehernen Worten für die Joppenträger fehlt es. Mangelt es an Talent? Mitnichten. Es mangelt an einer mit den Nerven und dem Hirn verarbeiteten Gestaltung der Revolution, der sich die Methoden der Wortmeisterschaft unterordneten. Der Verfasser tut wie ein Athlet, schleudert und fängt auf bald dieses Bild, bald jenes. „Wir werden dir den Garaus machen, du Romantikerwelt", droht Majakowski. Richtig! Der Romantik der grünen Pantoffeln muss ein Ende gemacht werden, aber wie? „Alt – also totschlagen, die Schädel als Aschenbecher!" Aber das ist ja die waschechteste Romantik, wenn auch mit dem Minuszeichen, Aschenschalen aus Schädeln sind ebenso unbequem wie unhygienisch. Wozu auch diese … unmotivierte Grausamkeit. Der Dichter, der aus den Schädelknochen einen so ungewohnten Gebrauch macht, ist selbst in den Schlingen der Romantik verstrickt, hat jedenfalls seine Gestalten nicht verarbeitet, sie nicht zur Einheit gebracht. „Sacket allen Weltenreichtum ein!" In diesem familiären Ton spricht Majakowski vom Sozialismus. Einsacken heißt diebisch mausen. Passt denn dieses Wort, wenn es sich um die gesellschaftliche Aneignung der Betriebe handelt? Schauderhaft unpassend. Der Verfasser braucht diese Vulgarität, um mit dem Sozialismus und der Revolution auf Du und Du zu sein.

Aber wenn er den 150.000.000 Iwans vertraulich auch die Schulter klopft, so ist die Folge davon die, dass nicht der Dichter titanenhaft wächst, sondern dass der Iwan zu einem achtel Bogen zusammenschrumpft. Familiarität ist keineswegs ein Ausdruck für innere Nähe, mitunter ist sie einfach ein Zeichen politischer Unsauberkeit. Eine innerlich verarbeitete Verbindung mit der Revolution hätte den familiären Ton ausgeschlossen, weil sie das, was die Deutschen „Pathos der Distanz" nennen, ergeben hätte.

Das Poem hat farbige Zeilen, kühne Bilder, treffende Worte. Der Schlussteil „Requiem der siegreichen Welt" ist vielleicht der stärkste Teil des Poems. Aber das ganze Werk ist tödlich gezeichnet: ihm fehlt die innere Handlung. Die Gegensätze verdichten sich nicht, um sich dann aufzulösen. Dem Revolutionspoem fehlt die Bewegung! Die Gestalten leben getrennt, prallen aufeinander und voneinander ab. Die Feindlichkeit der Gestalten ergibt sich nicht aus dem geschichtlichen Stoff, sondern bildet das Resultat des inneren Zerfalls der revolutionären Weltempfindung. Und dennoch, liest man – nicht ohne Überwindung – das Poem zu Ende, so muss man sich sagen: wäre mehr Gefühl für Maß und mehr Selbstkritik dabei, so könnte aus diesen Elementen ein gewaltiges Werk entstehen! Übrigens, vielleicht finden diese Grundmängel ihre Erklärung weniger in den persönlichen Eigenschaften Majakowskis als in der abgeschlossenen kleinen Welt: nichts macht sich so sehr bemerkbar auf der Fähigkeit zu Selbstkritik und Ausmaß wie der Zirkelgeist,

Den satirischen Sachen Majakowskis fehlt ebenfalls das vertiefte Eindringen in das Wesen der Dinge und der Beziehungen. Majakowskis Satire ist flüchtig und oberflächlich. Um bedeutend zu sein, genügt es nicht, wenn der Karikaturist den Stift führen kann; er muss auch durch und durch, von innen und außen die Welt kennen, die er brandmarkt. Eine ungefähre Karikatur (und neunundneunzig Hundertstel der sowjetrussischen Karikaturen sind es, leider, einstweilen noch) gleicht einer Kugel, die um Finger- oder gar um Haaresbreite am Ziel vorbei saust: fast ins Ziel, aber doch vorbei! Majakowskis Satire ist von ungefähr: die flüchtigen Beobachtungen von der Seite aus verpassen um Fingerbreite oder mitunter auch um Handbreite das Ziel. Majakowski glaubt im Ernst, dass man das „Lächerliche" von seiner Materie abstrahieren und auf die Form zurückführen kann. Im Vorwort zu der Sammlung seiner Satiren gibt er sogar ein „Schema des Lachens". Wenn bei der Lektüre dieses „Schemas" etwas ein Lächeln … der Verblüffung hervorzurufen vermag, so ist es das, dass das Schema des Lachens absolut nicht lächerlich ist. Aber selbst wenn man ein glücklicheres „Schema" zustande bringen könnte, als es Majakowski gelungen ist, so würde auch dann der Unterschied bestehen bleiben zwischen dem Lachen von der Satire, die ins Ziel trifft, und dem Kichern durch den Wortkitzel.

Majakowski hat sich über die Bohème, aus der er kommt, zu außerordentlich bedeutenden schöpferischen Leistungen erhoben. Aber sein aufsteigender Ast ist individualistischer Natur. Der Dichter rebelliert gegen das Alltagsmilieu, die materielle und moralische Abhängigkeit, in der sich sein Leben und vor allem seine Liebe abspielt; indem er leidet und loszieht gegen die Herren des Lebens, die ihm das geliebte Weib genommen haben, erhebt er sich bis zum Appell und der Voraussage der Revolution, die auf jene Gesellschaft niedersausen wird, die seiner, Majakowskis, Individualität die Freiheit raubt. Letzten Endes ist „Die Wolke in Hosen" ein Gedicht unverkörperter Liebe, das künstlerisch bedeutendste, schöpferisch kühnste und versprechendste Werk Majakowskis. Es ist kaum zu glauben, dass ein Werk von solch intensiver Kraft und formaler Unabhängigkeit von einem 22-23 jährigen Jüngling geschrieben ist! Sein „Krieg und Frieden", „Mysterium Buffo" und „150.000.000" sind bedeutend schwächer. Eben deshalb, weil Majakowski hier schon seine individuelle Kreisbahn verlässt und bestrebt ist, sich auf der Bahn der Revolution zu bewegen. Man kann nur diese Versuche des Dichters begrüßen, denn einen andern Weg gibt es für ihn überhaupt nicht.

Über das da" ist eine Rückkehr zu dem Thema der persönlichen Liebe, bedeutet aber ein paar Schritte zurück von der „Wolke", nicht vorwärts. Nur die Erweiterung des Umfanges und die Vertiefung der künstlerischen Kapazität eröffnet die Möglichkeit des schöpferischen Gleichgewichts auf höherem Niveau, Aber es ist nicht zu übersehen, dass die bewusste Umkehr zu einem eigentlich neuen, gesellschaftlich schöpferischen Weg eine sehr schwere Sache ist. Majakowskis Technik hat sich in diesen Jahren unzweifelhaft abgeschliffen, aber auch schablonisiert. Im „Mysterium Buffo" und in „150.000.000" finden wir neben großartigen Stellen fürchterliche Leeren, angefüllt mit Rhetorik und halsbrecherischen Wortgebilden. Das Organische, die Unmittelbarkeit der „Wolke" – den Schmerzensschrei aus sich heraus – hören wir nicht mehr.

Majakowski wiederholt sich", sagen die einen, „Majakowski hat sich ausgeschrieben", fügen die andern hinzu, „Majakowski ist verbürokratisiert", rufen schadenfroh die dritten. Ist es so? Wir sind mit pessimistischer Prophezeiung nicht rasch bei der Hand. Majakowski ist zwar kein Jüngling mehr, aber noch jung. Wir dürfen jedoch die Schwierigkeiten des Weges nicht übersehen. Jene schöpferische Unmittelbarkeit, die wie ein lebendiger Quell in der „Wolke" sprudelt, ist nicht mehr heraufzubeschwören. Es ist jedoch nicht schade darum. Die junge Begabung, die springbrunnenartig hervorbricht, macht in den reifen Jahren einer selbstsicheren Meisterschaft Platz, die nicht nur die Wortbeherrschung bedeutet, sondern einen weitgehenden Lebens- und Geschichtsumfang, das Eindringen in die Mechanik der lebenden, kollektiven und persönlichen Kräfte, Ideen, Temperamente und Leidenschaften. Mit dieser reifen Meisterschaft reimt sich nicht mehr gesellschaftlicher Dilettantismus, Marktschreierei, Mangel an Selbstachtung neben ermüdender Großsprecherei, genialer Großtuerei und den andern Zügen und Gepflogenheiten der Intellektuellenkneipe (man vergleiche Majakowskis Selbstbiographie). Wenn die Krise des Dichters (und wir haben es unzweifelhaft mit einer Krise zu tun) sich im Sinne einer weisen Hellsicht lösen wird, die Privates und Allgemeines auseinanderhält, dann wird der Literaturhistoriker sagen, dass das „Mysterium" und die „150.000.000" bloß unvermeidliche Etappen waren bei der Umkehr zur schöpferischen Höhe. Wir würden es sehr wünschen, dass Majakowski dem künftigen Historiker das Recht auf eine solche Beurteilung gäbe.

Bei einem Arm- oder Beinbruch geschieht es, dass der Knochen, die Sehnen, die Muskeln, die Gefäße, die Nerven und die Haut zerrissen und gebrochen werden, nicht in einer Richtung, und daher auch nicht gleichzeitig verwachsen und vernarben. Auch bei dem revolutionären Bruch im Leben der Gesellschaft fehlt die Gleichzeitigkeit und die Symmetrie der Prozesse in den ideologischen Hüllen der Gesellschaft und ihrem ökonomischen Gerüst. Die für die Revolution notwendigen ideologischen Voraussetzungen bilden sich vor der Revolution heraus. Die wichtigsten ideologischen Folgen entstehen erst bedeutend später. Es zeugt von Unernst, wenn man auf Grund formaler Vergleiche und Nebeneinanderstellungen schier die Identität des Futurismus und des Kommunismus feststellt und daraus die Schlussfolgerung ziehen will, dass der Futurismus eben proletarische Kunst sei. Einen solchen Anspruch muss man zurückweisen, was aber keineswegs eine rechtliche Stellung zu der Arbeit der Futuristen bedeutet. In unserer Vorstellung reihen sie sich als notwendiges Kettenglied im Bildungsprozess einer neuen großen Literatur ein. Aber in Bezug auf diese bilden sie bloß eine bedeutende Episode.

Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur die Frage konkreter, historischer anzupacken. Die Futuristen haben in ihrer Weise recht, wenn sie die Vorwürfe der Unverständlichkeit ihrer Werke für die Massen damit zurückweisen, dass das „Kapital" von Marx ebenfalls unpopulär sei. Gewiss, die Massen sind kulturell und ästhetisch unreif und werden nur langsam aufsteigen. Aber das ist bloß die eine Ursache der Unverständlichkeit. Es gibt noch eine andere; der Futurismus trägt in sich, in seinen Methoden und Formen deutliche Spuren jener Welt oder, richtiger gesagt, jenes Weltchens, in dem er geboren ist, und das er durch die Logik der Dinge – psychologisch, nicht logisch – bis auf den heutigen Tag nicht verlässt. Dem Futurismus seinen intellektuellen Anhauch wegnehmen, ist ebenso schwer, wie die Form vom Inhalt lösen. Würde das gelingen, so hätte der Futurismus eine so tiefgehende qualitative Umgestaltung erfahren, dass er nicht mehr Futurismus wäre. Dies wird auch geschehen, aber nicht von heute auf morgen.

Doch was man schon heute mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass vieles im Futurismus von Nutzen sein, dem Aufstieg und der Wiedergeburt der Kunst dienen wird, falls der Futurismus sich selber den Weg bahnen wird, ohne Anspruch, sich mit Hilfe des Staates durchzusetzen, wie es zu Beginn der Revolution der Fall war. Die neuen Formen müssen sich selbständig den Weg bahnen zu dem Bewusstsein der vorgeschrittenen Schichten der Arbeiterklasse, in dem Maße, wie sie kulturell wächst. Ohne eine feste Atmosphäre um sich herum kann die Kunst weder leben noch sich entwickeln. Auf diesem Wege – und einen andern gibt es nicht – steht ein Prozess komplizierter Wechselwirkung bevor. Jene Neuerer, die wirklich etwas im Kopfe haben, werden vom kulturellen Aufstieg der Arbeiterklasse angesteckt und genährt werden. Die Maniriertheit, die eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Zirkelgeistes ist, wird fortfallen, die Lebenskeime werden frische Formen treiben zur Lösung der neuen Aufgaben in der Kunst. Dieser Prozess setzt vor allem eine Akkumulation der materiellen Kultur, ein Wachstum des Wohlstandes, eine Entwicklung der Technik voraus. Einen andern Weg gibt es nicht. Man kann nicht ernsthaft glauben, dass die Geschichte einfach die futuristischen Werke konservieren und sie nach vielen Jahren der inzwischen reif gewordenen Masse kredenzen wird. Das wäre der reinste Passeismus. In dieser nicht nahen Zukunft, wo die kulturell ästhetische Erziehung der werktätigen Massen den klaffenden Abgrund zwischen der schaffenden Intelligenz und dem Volke aufgehoben haben wird, wird die Kunst ganz anders aussehen als jetzt. In der Vorbereitungskette dazu wird sich der Futurismus als notwendiges Glied erweisen. Ist das gar so wenig? ,

Ein Brief des Genossen Gramsci über den italienischen Futurismus

Da sind die Antworten auf die Fragen über die italienische futuristische Bewegung, die Sie mir vorgelegt haben.

Die futuristische Bewegung in Italien hat nach dem Kriege ganz und gar ihre charakteristischen Merkmale verloren. Marinetti widmet sich der Bewegung sehr wenig. Er hat sich verheiratet und zieht es vor, seine Energie seiner Frau zu widmen. An der futuristischen Bewegung nehmen gegenwärtig Monarchisten, Kommunisten, Republikaner und Faschisten teil. In Mailand wurde vor kurzem eine politische Wochenschrift „II Principe" gegründet, die dieselben Theorien vertritt oder zu vertreten sucht, die Machiavelli für Italien im Cinquecento predigte, d. h. dass der Kampf zwischen den örtlichen Parteien, die die Nation ins Chaos führen, beseitigt werden können durch einen absoluten Monarchen, einen neuen Cesare Borgia, der sich an die Spitze aller kämpfenden Parteien stellt. Das Blatt wird von zwei Futuristen geleitet: Bruno Corra und Enrico Settimelli. Obwohl Marinetti 1920 während einer patriotischen Demonstration in Rom wegen einer energischen Rede gegen den König verhaftet wurde, arbeitet er jetzt an dieser Wochenschrift mit.

Die bedeutendsten Wortführer des Futurismus aus der Vorkriegszeit wurden zu Faschisten, mit Ausnahme von Giovanni Papini, der katholisch wurde und eine Christusgeschichte geschrieben hat. Während des Krieges waren die Futuristen die beharrlichsten Verkünder des „Krieges jusqu'au bout"7 und des Imperialismus. Nur ein Faschist, Aldor Palageschi, war gegen den Krieg. Er brach mit der Bewegung, und obwohl er einer der interessantesten Schriftsteller war, endete er damit, dass er als Literat verstummte. Marinetti, der stets im Großen und Ganzen den Krieg lobpries, veröffentlichte ein Manifest, in dem er nachwies, dass der Krieg das einzige hygienische Mittel für die Welt sei. Er nahm am Kriege teil als Kapitän des Panzerautobataillons, und sein letztes Buch „Der stählerne Alkoven" bildet eine begeisterte Hymne auf die Panzerautos im Kriege. Marinetti verfasste eine Broschüre „Abseits vom Kommunismus", in der er seine politischen Doktrinen entwickelt, wenn man die Phantasien dieses Menschen, die mitunter geistreich, aber stets merkwürdig sind, überhaupt als Doktrinen bezeichnen kann. Vor meiner Abreise aus Italien hatte die Sektion des „Proletkult" in Turin Marinetti aufgefordert, bei der Eröffnung einer futuristischen Gemäldeausstellung den Arbeitern, die Mitglieder dieser Organisation sind, deren Bedeutung zu erläutern. Marinetti nahm gerne diese Einladung an, besuchte die Ausstellung mit den Arbeitern und sprach dann seine Genugtuung darüber aus, dass er sich davon überzeugen konnte, dass die Arbeiter für Fragen der futuristischen Kunst viel mehr Sinn hätten als die Bourgeoisie. Vor dem Kriege war der Futurismus unter den Arbeitern sehr populär. Die Zeitschrift „L'Acerbo" (Der Hartnäckige), die eine Auflage von 20.000 Exemplaren hatte, wurde zu vier Fünfteln unter den Arbeitern verbreitet. Während der vielen Manifestationen der futuristischen Kunst in den Theatern der größeren Städte Italiens kam es vor, dass die Arbeiter die Futuristen gegen die jungen Leute aus der Halbaristokratie und der Bourgeoisie verteidigten, die sich mit den Futuristen prügelten.

Die futuristische Gruppe Marinettis existiert nicht mehr. Die alte Zeitschrift Marinettis, „Poesia", wird jetzt von einem gewissen Mario Dessi geleitet, einem Mann ohne jegliche intellektuelle und organisatorische Bedeutung. In Süditalien, besonders in Sizilien, erscheinen viele futuristische Blätter, in denen Marinetti Artikel schreibt; aber diese Blättchen werden von Studenten herausgegeben, die die Unkenntnis der italienischen Grammatik für Futurismus halten. Die stärkste Gruppe unter den Futuristen sind die Maler. In Rom besteht eine ständige Ausstellung der futuristischen Malerei, die von einem verkrachten Photographen organisiert wurde, einem gewissen Antonio Guilio Bragalia, einem Agenten für Kinos und Artisten. Von den futuristischen Malern ist am bekanntesten Giorgio Balla. DAnnunzio nahm niemals öffentlich Stellung zum Futurismus. Es ist zu erwähnen, dass der Futurismus bei seiner Entstehung einen ausgesprochen anti-d'annunzionischen Charakter trug. Eines der ersten Bücher Marinettis hat den Titel „Les dieus s'en vont, dAnnunzio reste" (Die Götter gehen, dAnnunzio bleibt). Obwohl im Kriege die politischen Programme Marinettis und d'Annunzios in vielem übereinstimmten, so blieben die Futuristen Anti-dAnnunzionisten, Sie interessierten sich fast nicht für die Fiume-Bewegung, obwohl sie nachher an den Demonstrationen teilnahmen.

Man darf sagen, dass nach Friedensschluss die futuristische Bewegung ihren Charakter ganz verlor und sich in verschiedene Strömungen auflöste, die sich als Folge des Krieges gebildet hatten. Die jungen Intellektuellen wurden fast ganz reaktionär. Die Arbeiter, die im Futurismus Elemente des Kampfes gegen die alte, verknöcherte, volksfremde italienisch-akademische Kultur sahen, müssen heute mit der Waffe in der Hand um ihre Freiheit kämpfen und haben wenig Interesse für die alten Streitigkeiten. In den großen Industriestädten beansprucht das Programm des Proletkults, das auf das Erwecken des schöpferischen Geistes der Arbeiter in Literatur und Kunst gerichtet ist, die Energie derjenigen, die noch Zeit und Lust haben, sich mit diesen Fragen abzugeben.

Moskau, den 8. September 1922.

* Wir veröffentlichen in diesem Buch einen in seiner Kürze sehr interessanten und inhaltsreichen Brief des Genossen Gramsci, der die Geschichte des italienischen Futurismus schildert.

1 Puschkin – russischer „Klassiker" aus dem Anfang des XIX. Jahrhunderts, Feth und Tjutschew – verfeinerte Lyriker aus der Mitte des XIX. Jahrhunderts, Brjussow, Balmont und Block – moderne russische Dichter. Anm. d. Übers.

2 „Lef", Abkürzung von „Lewi Front" (Linke Front) = eine seit dem Frühling 1923 in Moskau erscheinende futuristische Zeitschrift und sich um sie gruppierende Kunstrichtung. Anm. d. Übers.

3 Bekannter Regisseur und Theaterdirektor in Moskau, der die „Biomechanik", d. h. eine besondere Bewegungsgymnastik, in der Bühnenkunst eingeführt hat. Anm. d. Übers.

** Diese Frage über den sozialistischen Stil in der Architektur wirft in interessanter und richtiger Form Genosse Zimmer in Nr. 3 der russischen Zeitschrift „Bote der sozialistischen Akademie" auf.

4 Held des Romans von Ssologub: „Der kleine Dämon", eines Epigonenwerkes Dostojewskis aus der Vorkriegszeit. Anm. d. Übers.

5 Lyrikerin, deren sublime, mit Mystik verbrämte Gedichte vor der Revolution sehr bekannt waren. Anm. d. Übers.

6 Diese Gruppe, von „Smjena Wjech", hat mit dem Sammelbuch desselben Namens begonnen, in dem ein Bekenntnis zum Sowjetregime abgelegt wurde als Mittel der nationalen Stärke und des Wiederaufbaus Russlands. Die „Smjena-Wjech"-Leute geben in Berlin die probolschewistische Tageszeitung „Nakanune" (Am Vorabend) heraus. Anm. d. Übers.

7 Krieg bis zum bitteren Ende

Comments