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Leo Trotzki 19220429 Die Kommunisten und die Bauernschaft in Frankreich

Leo Trotzki: Die Kommunisten und die Bauernschaft in Frankreich

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 69 (18. Mai 1922), S. 534-536]

Unsere Differenzen mit den französischen Genossen in der Frage der Einheitsfront sind bei weitem noch nicht zu Ende, im Gegenteil. Urteilt man nach einigen Artikeln in der französischen Parteipresse, so gelangt man zu dem Eindrucke, dass der Grund der Differenzen und der Missverständnisse, wenigstens in einigen Parteikreisen, tiefer liegt, als es im Anfang schien. Ich denke an den Artikel des Genossen Renaud Jean, der in „l'Humanité" vom 6. April 1922 als Leitartikel erschienen ist.

Genosse Jean, einer der hervorragendsten Führer der Partei, der Referent über die Agrarfrage auf dem Kongress von Marseille, tritt mit einer Energie und mit einer Aufrichtigkeit, die wir nur begrüßen können, gegen die Ansichten auf, die wir verteidigen, die ihm aber unrichtig zu sein scheinen. In der Überschrift seines Artikels bezeichnet er die Taktik der Einheitsfront als gefährliche Ungeschicklichkeit (Danger et maladresse). Im Text spricht er direkt von einer Katastrophe, als einem unvermeidlichen Ergebnis dieser Taktik in Frankreich. „Unser Land wird durch das allgemeine Wahlrecht schon dreiviertel Jahrhundert lang zerfressen. Die Klassendifferenzierung fand nur bei einer geringen Minderheit statt .... Das republikanisch-bürgerliche Frankreich ist das gelobte Land des Wirrwarrs (confusion)." Aus diesen vollkommen richtig festgestellten Tatsachen zieht Genosse Jean den Schluss, den wir vollkommen akzeptieren; „Die Kommunistische Partei muss hier unversöhnlicher sein als sonst irgendwo." Vom Gesichtspunkt dieser Unversöhnlichkeit aus greift Genosse Jean die Einheitsfront an, die ihm, wie früher, eine Kombination des Blocks der Parteien zu sein scheint. Wir hätten sagen können, und wir sagen es auch, dass eine solche Einschätzung des bedeutendsten taktischen Problems zeigt, dass Genosse Jean selbst von den Folgen der rein parlamentarischen Tradition des französischen Sozialismus nicht frei ist: dort, wo es uns um die Eroberung der breiten Massen, um den Durchbruch der bürgerlich-sozialverräterischen Blockade durch die Avantgarde der Arbeiterklasse geht, sieht Genosse Jean hartnäckig bloß die „schlaue" Kombination, die bestenfalls eine Vergrößerung der Anzahl der Parlamentssitze (!!) um den Preis der Vergrößerung des Wirrwarrs und der Unklarheit auf dem Gebiete des politischen Bewusstseins des Proletariats zur Folge haben kann. Und gerade Frankreich, und darin hat er vollkommen Recht, benötigt die Klarheit, Deutlichkeit und Entschlossenheit des politischen Denken und der Arbeit der Partei mehr als jedes andere Land. Wenn aber Genosse Jean der Ansicht ist, dass der französische Kommunismus der unversöhnlichste sein soll, warum gibt er sich nicht die Mühe, noch vor dem Kampfe gegen die Einheitsfront zu konstatieren, dass der französische Kommunismus gegenwärtig der versöhnlichste, der toleranteste, der nachsichtigste allen Abweichungen gegenüber ist.

Auf die klare und deutliche Formulierung der Kritik von dem Genossen Jean antworten wir ebenfalls vollkommen klar und deutlich. In keiner anderen Kommunistischen Partei wären die Artikel, die Erklärungen und die Reden gegen die revolutionäre Gewalt im Sinne des spießbürgerlichen und sentimentalen Humanismus möglich, denen man oft in der französischen Parteipresse begegnet. Wenn Renaud Jean mit vollem Rechte von der Krankheit der bürgerlich-demokratischen Ideologie spricht, so ist doch die schwerste Folge dieser Krankheit in der Arbeiterklasse die Abstumpfung des revolutionären Instinkts und des Angriffswillens, die Auflösung der aktiven Tendenzen des Proletariats zu formlos-demokratischen Perspektiven. Das humanitäre Gemisch der „Liga der Menschen- und Bürgerrechte", das in ernster Stunde, wie bekannt, vor dem französischen Militarismus auf dem Bauche kroch, die Predigt der moralisierenden, toltojanisierenden politischen Vegetarier usw. usw., dies alles leistet letzten Endes ausgezeichnete Dienste der offiziellen Politik der dritten Republik, in dem es sie ergänzt, obgleich es äußerlich sich :von dieser bedeutend unterscheidet. Die formlos-pazifistische Agitation, durch die sozialistische Phraseologie verhüllt, ist das ausgezeichnete Mittel des bürgerlichen Regimes. Diese Behauptung wird ein aufrichtiger Pazifist eventuell als paradox empfinden, aber es verhält sich so.

Die pazifistischen Arien von Georges Pioch werden weder Poincaré noch Barthou verwirren bzw. verführen. Im Bewusstsein eines gewissen Teiles der Werktätigen aber finden solche Predigten einen günstigen Boden, Der Maß gegen das bürgerliche Regime und gegen die militärische Gewalt findet in den humanitären Formeln einen aufrichtigen, aber fruchtlosen Ausdruck und stirbt ab, ohne sich in Handlungen auszulösen. Darin eben besteht die soziale Funktion des Pazifismus. Besonders deutlich zeigte sich dies in Amerika, wo die Brayans-Bande dank den pazifistischen Losungen einen ungeheuren Einfluss auf die Farmer gewonnen hat. Die Sozialisten des Typus Hillquits und andere Dummköpfe, die sich einbildeten, dass sie überaus schlau sind, gerieten vollkommen in das Netz des bürgerlichen Pazifismus und erleichterten dadurch den Eintritt Amerikas in den Krieg.

Es ist die Aufgabe der Kommunistischen Partei, in der Arbeiterklasse die Bereitschaft zur Anwendung der Gewalt hervorzurufen. Dazu ist es notwendig, sie zu lehren, zwischen der reaktionären Gewalt, die zum Zwecke hat, die geschichtliche Entwicklung über die schon erreichte Etappe hinaus zu verhindern, und der revolutionären Gewalt, deren schöpferischer Beruf in der Befreiung des geschichtlichen Entwicklungsweges von den durch die Vergangenheit aufgebauten Hindernissen liegt, zu unterscheiden. Wer diese zwei Arten der Gewalt nicht unterscheiden will, der will nicht die Klassen unterscheiden, d. h., er ignoriert die lebendige Geschichte. Wer gegen jeden Militarismus, gegen ausnahmslos alle Arten der Gewalt deklamiert, der unterstützt unvermeidlich die Gewalt der Herrschenden, die eine durch die Staatsgesetze sanktionierte, durch die Gewohnheit akzeptierte Tatsache ist. Um sie zu stürzen, ist eine andere Gewalt notwendig, die vor allem der prinzipiellen Anerkennung seitens der Werktätigen selbst bedarf.

Die letzte Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale hat auf eine Reihe anderer Erscheinungen im internen Leben der französischen Partei hingewiesen, die alle bezeugen, dass die französische Partei keinesfalls die unversöhnlichste ist. Sie muss aber die unversöhnlichste sein; mit Rücksicht auf das ganze politische Milieu ist das notwendig. In einem stimmen wir mit dem Genossen Renaud Jean überein: Die Anwendung der Methoden der Einheitsfront erfordert die vollkommene Klarheit und Deutlichkeit des politischen Bewusstseins der Partei, die gute Organisation und die vollkommene Disziplin.

Des weiteren beruft sich Genosse Jean darauf, dass er unter den Forderungen, die als das Programm der Einheitsfront aufgestellt sind (der Kampf gegen die Arbeitslohnsteuer, die Verteidigung des achtstündigen Arbeitstages usw.), keine einzige findet, die „die Bauern, die mindestens eine Hälfte der Arbeiterschaft Frankreichs" ausmachen, unmittelbar interessieren könnte. Was ist für sie der achtstündige Arbeitstag? Was ist für sie die Arbeitslohnsteuer?

Dieses Argument des Genossen Jean scheint uns höchst gefährlich zu sein. Die Frage der Kleinbauernschaft hat zweifellos eine ungeheure Bedeutung für die französische Revolution. Unsere französische Partei hat einen großen Schritt nach vorwärts getan, indem sie ein Agrarprogramm angenommen hat, in dem sie die Eroberung der Bauernmassen auf ihre Tagesarbeitsordnung gestellt hat. Es wäre aber höchst gefährlich und direkt vernichtend, ganz einfach das französische Proletariat in die „Werktätigen" oder in den „Arbeitern" aufzulösen, so wie man eine Hälfte im Ganzen auflöst. Wir haben gegenwärtig nicht bloß organisatorisch, sondern auch politisch nur die Minderheit der französischen Arbeiterklasse erfasst. Die Revolution wird erst nach unserer politischen Erfassung der Mehrheit möglich sein. Nur die Mehrheit der französischen Arbeiterklasse, unter dem Banner der Revolution vereinigt, kann die französische Kleinbauernschaft begeistern und mit sich reißen. Die Frage der Einheitsfront der Arbeiter in Frankreich ist eine grundlegende Frage. Ohne Lösung dieser Frage wird die Arbeit unter der Bauernschaft, möge sie noch so erfolgreich sein, die Revolution nicht beschleunigen. Die Propaganda unter den Bauern und das gute Agrarprogramm sind sehr bedeutende Faktoren des Erfolges. Die Bauernschaft ist aber realistisch und skeptisch; sie glaubt nicht den bloßen Worten, besonders in Frankreich, wo man sie so oft betrogen hat. Der französische Bauer im Dorfe bzw. in der Kaserne wird nicht der programmatischen Losungen wegen in den ernsten Kampf gehen. Er wird das ernste Risiko auf sich nehmen nur in dem Falle, wenn er die Bedingungen sehen wird, die den Erfolg sichern oder zumindest sehr wahrscheinlich machen. Er muss vor sich eine Kraft sehen, die ihm durch ihren Massencharakter und durch ihre Diszipliniertheit Vertrauen einflößt. Die politisch und gewerkschaftlich gespaltene Arbeiterklasse kann nicht eine solche Kraft für die Bauernschaft sein, Das Gewinnen eines gewissen möglichst bedeutenden Teiles der Bauernschaft für die Arbeiterklasse ist eine Voraussetzung einer siegreichen Revolution in Frankreich. Die Vereinigung der erdrückenden Mehrheit der französischen Arbeiterklasse unter dem Banner der Revolution ist aber eine Voraussetzung eines solchen Gewinnens. Diese Vereinigung der erdrückenden Mehrheit der Arbeiterklasse ist die grundlegende Aufgabe. Man muss die Arbeiter gewinnen, die heute mit Jouhaux und Longuet gehen. Sagt nicht, dass es nur wenige solche gibt. Selbstverständlich ist die Anzahl der aktiven Anhänger Longuets, Blums und Jouhaux, die selbstaufopfernd sind, d. h. solcher, die bereit wären, ihre Köpfe für ihre Programme einzusetzen, gering. Aber es gibt noch sehr viele passive, unaufgeklärte, gedanken- und körperträge Arbeiter, Sie stehen abseits. Werden aber die Ereignisse sie berühren, so werden sie in ihrem gegenwärtigen Zustande eher unter das Banner Jouhaux und Longuets, als unter das unsrige kommen, Jouhaux und Longuet drücken und beuten eben die Passivität, die Unaufgeklärtheit und die Rückschrittlichkeit der Arbeiterklasse aus.

Wenn Genosse Jean, der Leiter der Parteiarbeit unter den Bauern, seine Aufmerksamkeit in einem unrichtigen Verhältnis auf das Proletariat und auf die Bauernschaft verteilt, so ist dies peinlich, aber erklärlich und nicht sehr gefährlich, da die Partei als Ganzes ihn korrigieren wird. Würde aber die Partei sich auf den Standpunkt des Genossen Jean stellen und das Proletariat bloß als die „Hälfte" der Werktätigen betrachten, so würde dies die Gefahr der Vernichtung bedeuten, da dies den revolutionären Klassencharakter der Partei zu einer gestaltlosen Partei der Werktätigen auflösen würde. Man sieht diese Gefahr noch deutlicher, wenn man den weiteren Gedankengang des Genossen Jean verfolgt. Er verzichtet direkt auf solche Kampfesaufgaben, die nicht die Gesamtheit der Werktätigen ergreifen, oder, wie er sich ausdrückt: „die nicht Forderungen enthalten, die den beiden großen Hälften des Proletariats (!) gemeinsam sind". Hier soll man unter dem „Proletariat" nicht bloß das Proletariat, sondern auch die Bauernschaft verstehen. Es ist der gefährlichste Missbrauch der Terminologie, der politisch zur Folge hat, dass Genosse Jean die Forderungen des Proletariats (die Aufrechterhaltung des achtstündigen Arbeitstages, der. Kampf gegen die Arbeitslohnsteuer usw.) unter die Kontrolle der Bauernschaft zu stellen versucht!

Der Bauer ist ein Kleinbürger, der sich mehr oder weniger dem Proletariat annähern kann, und der unter bestimmten Bedingungen vom Proletariat mehr oder weniger für die Sache der Revolution gewonnen werden kann. Das agrarische Kleinbürgertum aber mit dem Proletariat zu identifizieren und die Forderungen des Proletariats vom Standpunkte der Kleinbauernschaft aus zu reduzieren, dies bedeutet, auf die wirkliche Klassenbasis der Partei zu verzichten und eben diesen Wirrwarr (confusion) zu säen, für den im bäuerlich-parlamentarischen Frankreich ein so günstiger Boden vorhanden ist.

Wenn, wie wir gehört haben, der achtstündige Arbeitstag nicht die Losung der Einheitsfront in Frankreich werden kann, da diese Forderung die Bauern „nicht interessiert", so ist von Jeans Standpunkt aus der Kampf gegen den Militarismus das wirkliche revolutionäre Programm für Frankreich. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass der durch den Krieg betrogene französische Kleinbauer den Militarismus hasst und den antimilitaristischen Reden gerne Gehör schenkt. Selbstverständlich sollen wir den kapitalistischen Militarismus in den Städten und auf dem Lande erbarmungslos entlarven. Die Kriegslehren sollen vollständig ausgenutzt werden. Es wäre aber für die Partei sehr gefährlich, sich darüber zu täuschen, wie weit, bis zu welchem Grade der bäuerliche Antimilitarismus eine selbständige revolutionäre Bedeutung gewinnen kann. Der Bauer will nicht seinen Sohn in die Kaserne geben; der Bauer will nicht die Steuern für die Erhaltung der Armee zahlen; er applaudiert aufrichtig dem Redner, der gegen den Militarismus (und sogar gegen „alle Arten des Militarismus") spricht. Die bäuerliche Opposition dem Heere gegenüber hat aber nicht eine revolutionäre, sondern eine boykottistisch-pazifistische Grundlage. Fichez moi la paix (Lasst mich in Ruhe)! das ist sein Programm. Diese Stimmung kann eine geistige Atmosphäre für die Revolution schaffen, sie kann aber nicht die Revolution selbst schaffen und ihr den Erfolg sichern.

Der sentimentale Pazifismus im Geiste Piochs ist der Ausdruck eines bäuerlichen und nicht eines proletarischen Verhältnisses zum Staate und zum Militarismus. Das organisierte und bewusste Proletariat, dem bis zu den Zähnen bewaffneten Staate entgegenstehend, wirft sich die Frage auf, wie es, das Proletariat, sich zum Sturze und zur Vernichtung der bürgerlichen Gewalt für seine proletarische Diktatur organisieren und bewaffnen soll. Der isolierte Bauer geht nicht so weit; er ist einfach gegen den Militarismus, er hasst ihn, er ist bereit, ihm den Rücken zu drehen; Fichez moi la paix, lasst mich in Ruhe mit all euren Arten des Militarismus! So ist die Psychologie der unzufriedenen oppositionellen Bauern, Intellektuellen bzw. der städtischen Kleinbürger. Es wäre sinnlos, diese Stimmungen innerhalb unserer eventuellen kleinbürgerlichen und halbproletarischen Verbündeten nicht auszunützen! Es wäre aber verbrecherisch, diese Stimmungen in das Proletariat und in unsere eigene Partei hinein zu tragen.

Die Sozialpatrioten haben sich den Weg zur Bauernschaft durch ihren Patriotismus erschwert. Wir sollen diesen unseren Vorzug auf jede Weise ausnutzen. Dies gibt uns aber keineswegs das Recht, die proletarischen Klassenforderungen in den Hintergrund zu schieben, mögen sie sogar die vorläufigen Missverständnisse mit unseren Freunden, den Bauern, zur Folge haben. Die Kleinbauernschaft soll dem Proletariat, so wie es ist, folgen. Das Proletariat kann sich nicht nach der Bauernschaft ummoderieren. Würde die Kommunistische Partei, die lebenswichtigen Klassenforderungen des Proletariats umgehend, in der Richtung des geringsten Widerstandes marschieren und den pazifistischen Antimilitarismus in den Vordergrund stellen, so würde sie Gefahr laufen, die Bauern und die Arbeiter und sich selbst zu betrügen.

In Frankreich, wie überall, benötigen wir vor allem die Einheitsfront des Proletariats selbst. Die französische Bauernschaft wird durch den Missbrauch der sozialen Terminologie durch den Genossen Jean noch nicht zum Proletariat. Schon das Bedürfnis eines solchen Missbrauchs aber ist ein gefährliches Symptom einer derartigen Politik, die nur den größten Wirrwarr zur Folge haben kann. Und der französische Kommunismus, mehr als jeder andere, benötigt die Klarheit, die Deutlichkeit und die Unversöhnlichkeit. Darin jedenfalls sind wir mit unseren französischen Opponenten einverstanden.

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