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Leo Trotzki 19171230 Aufruf des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten an die Völker und Regierungen der verbündeten Länder

Leo Trotzki: Aufruf des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten an die Völker und Regierungen der verbündeten Länder

17. (30.) Dezember 1917

[„Iswestija“ Nr. 254 vom 17. Dezember 1917, in deutsch: DZA Merseburg. Nach: Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluss des Rapallovertrages. Band 1. 1917-1918. Berlin 1967, S. 212-216]

Die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zwischen der Delegation der Russischen Republik und Abordnungen Deutschlands, Österreich-Ungarns, Bulgariens und der Türkei sind auf 10 Tage, und zwar bis zum 26. Dezember, unterbrochen worden, um zum letzten Male den verbündeten Ländern Gelegenheit zu geben, an den weiteren Verhandlungen teilzunehmen und sich dadurch vor allen Folgen eines Separatfriedens zwischen Russland und dessen Feinden zu schützen.

In Brest-Litowsk wurden zwei Programme aufgestellt: das eine stellt den Gesichtspunkt der gesamtrussischen Kongresse der Räte der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten dar; das andere Programm ist durch die Regierungen Deutschlands und seiner Verbündeten auf gestellt worden.

Das Programm der Republik der Räte ist ein Programm einer konsequenten Demokratie und bezweckt die Schaffung derartiger Bedingungen, unter welchen einerseits jedes Volk ohne Rücksicht auf seine Stärke und seinen Entwicklungszustand völlige Freiheit der nationalen Entwicklung erhalten soll, andererseits alle Völker zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Arbeitsgemeinschaft geeinigt werden könnten.

Das Programm der Regierungen der mit uns Krieg führenden Staaten kennzeichnet sich durch folgende Erklärung: „Es liegt nicht in den Absichten der verbündeten Mächte (d. h. Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien), die im Kriege besetzten Gebiete sich gewaltsam anzueignen.“

Dies bedeutet, dass die feindlichen Staaten bereit sind, nach Friedensschluss die besetzten Gebiete Belgiens, der nördlichen Departements Frankreichs, Serbiens, Montenegros, Rumäniens, Polens, Litauens und Kurlands zu räumen, damit über das weitere Schicksal der strittigen Gebiete deren Völker selbst entscheiden. Die feindlichen Regierungen sind unter dem Druck der Verhältnisse und vor allen Dingen unter dem Druck der Arbeitermassen dem Programm der Demokratie entgegengekommen. Sie haben auf neue gewaltsame Annexionen sowie auf Kriegsentschädigungen verzichtet; bei der Verzichtleistung auf neue Eroberungen gehen die feindlichen Regierungen von der Idee aus, dass die alten Eroberungen, die alten Gewalttätigkeiten, die die Starken gegenüber den Schwachen verübt haben, verjährt und dadurch sanktioniert seien. Das bedeutet, dass das Schicksal Elsass-Lothringens, Transsilvaniens, Bosniens, der Herzegowina einerseits und Irlands, Ägyptens, Indiens andererseits einer Prüfung nicht unterliegt. Ein solches Programm ist sehr inkonsequent und stellt einen prinzipienlosen Kompromiss zwischen den Ansprüchen des Imperialismus und der Gegenwirkung der arbeitenden Demokratie dar; immerhin ist die Tatsache, dass dieses Programm überhaupt aufgestellt wurde, ein gewaltiger Fortschritt.

Die Regierungen der verbündeten Völker haben sich bis jetzt den Friedensverhandlungen nicht angeschlossen und sind einer genauen Formulierung der Gründe dafür hartnäckig ausgewichen.

Man kann jetzt nicht weiter behaupten, dass der Krieg wegen der Befreiung Belgiens, der nördlichen Departements Frankreichs, Serbiens usw. geführt wird, da Deutschland und seine Bundesgenossen sich bereit erklärt haben, im Falle eines allgemeinen Friedens diese Gebiete zu räumen. Nachdem jetzt die Gegenpartei ihre Friedensbedingungen bekanntgegeben hat, ist es nicht angängig, uns mit allgemeinen Redensarten, es sei notwendig, den Krieg bis zu Ende zu führen, abzufertigen. Frankreich, Italien, Großbritannien und die Vereinigten Staaten müssen ein klares und genaues Friedensprogramm aufstellen. Fordern sie wie wir Selbstbestimmungsrecht für die Völker Elsass-Lothringens, Galiziens, Posens, Böhmens, der südslawischen Gebiete? Bejahenden Falles sollen sie sich dazu äußern, ob sie ihrerseits bereit sind, den Völkern Irlands, Ägyptens, Indiens, Indochinas, von Madagaskar das Selbstbestimmungsrecht zu verleihen, wie solches die russische Revolution gegenüber den Völkern Finnlands, der Ukraine, Weißrusslands usw. getan hat. Es ist klar, dass, wenn man das Selbstbestimmungsrecht für die Fremdvölker der feindlichen Staaten fordert, dieses Recht aber den Völkern der eigenen Staaten oder eigenen Kolonien vorenthält, dies nichts weiter bedeuten würde als eine Verteidigung des verstecktesten und zynischsten Imperialismus, Sollten die Regierungen der verbündeten Staaten Bereitwilligkeit zeigen, gemeinsam mit der russischen Revolution einen Frieden auf der Grundlage der völligen und unbedingten Anerkennung des Grundsatzes der Selbstbestimmung für alle Völker aller Staaten wiederherzustellen und das Selbstbestimmungsrecht den Fremdvölkern in ihren eigenen Staaten zu verleihen, so würde dadurch eine internationale Lage geschaffen werden, bei welcher das aus Kompromissen, und inneren Widersprüchen bestehende Programm Deutschlands und besonders Österreich-Ungarns sich als völlig unhaltbar erweisen würde und durch den Druck der eigenen Völker überwunden würde.

Bis jetzt aber haben die Regierungen der verbündeten Staaten in keiner Weise Bereitwilligkeit gezeigt, einen wirklich demokratischen Frieden zu schließen; sie konnten auch eine solche Bereitwilligkeit nicht an den Tag legen, da sie nur bestimmte Klassen vertreten, sie hegen zu dem Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung nicht weniger Misstrauen und Feindseligkeit als die Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungams. Darüber macht sich das aufgeklärte Proletariat der verbündeten Staaten ebenso wenig Illusionen wie wir.

Bei den jetzigen Regierungen kann es sich nur darum handeln, das Programm eines imperialistischen Kompromisses, wie solches die Friedensbedingungen Deutschlands und seiner Bundesgenossen darstellen, einem anderen Programm eines imperialistischen Kompromisses seitens Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Vereinigten Staaten gegenüberzustellen. Wie ist nun das Programm dieser letzteren? Welche Ziele verfolgen sie bei ihrer Forderung, den Krieg fortzusetzen? Nachdem in Brest-Litowsk zwei Friedensprogramme aufgestellt worden sind, muss man diese Frage klar, genau und kategorisch beantworten.

Zehn Tage trennen uns von der Wiedereröffnung der Friedensverhandlungen. In diesen Verhandlungen fühlt sich Russland an die Zustimmung seiner Verbündeten nicht gebunden. Selbst wenn die verbündeten Regierungen fortfahren sollten, den allgemeinen Frieden mit Gewalt zu verhindern, so wird die russische Delegation dennoch zur Fortsetzung der Verhandlungen erscheinen. Ein durch Russland unterzeichneter Separatfrieden würde zweifellos einen schweren Schlag für die verbündeten Länder, vor allen Dingen für Frankreich und Italien, bedeuten. Die vorauszusehenden unvermeidlichen Folgen eines Separatfriedens müssen für die Politik Russlands, aber auch Frankreichs, Italiens und der anderen verbündeten Länder maßgebend sein. Die Regierung der Räte hat bis jetzt mit allen Mitteln für den allgemeinen Frieden gerungen. Kein Mensch kann die Bedeutung der bereits erzielten Erfolge in Abrede stellen. Alles Weitere wird aber von den verbündeten Völkern selbst abhängen. Für die verbündeten Völker handelt es sich jetzt darum, die eigenen Regierungen zur Bekanntgabe ihrer Friedensbedingungen zu zwingen und auf deren Grundlage an den Verhandlungen teilzunehmen.

Die russische Revolution hat einem allgemeinen Verständigungsfrieden den Weg geebnet. Sind die verbündeten Regierungen bereit, diese letzte Gelegenheit auszunutzen, so können unverzüglich allgemeine Verhandlungen in einem neutralen Land eröffnet werden, unter der Voraussetzung, dass sie öffentlich geführt werden. Die russische Delegation wird nach wie vor das Programm der internationalen, sozialistischen Demokratie im Gegensatz zu den imperialistischen Programmen der feindlichen, so auch der verbündeten Länder verteidigen. Der Erfolg unseres Programms wird davon abhängen, in welchem Maße der Wille der imperialistischen Kreise durch den Willen des revolutionären Proletariats paralysiert wird.

Wenn die verbündeten Regierungen in ihrer blinden Hartnäckigkeit, welche die zugrunde gehenden Klassen kennzeichnet, sich wiederum weigern werden, an den Verhandlungen teilzunehmen, so wird sich die Arbeiterklasse genötigt sehen, die Macht denjenigen zu entreißen, welche den Völkern keinen Frieden geben können oder es nicht wollen.

In diesen zehn Tagen wird das Schicksal von Hunderttausenden von Menschenleben entschieden. Wenn an der französischen und der italienischen Front jetzt kein Waffenstillstand geschlossen wird, so wird eine neue Offensive, die ebenso sinnlos, grausam und erfolglos wie alle die vorhergehenden verlaufen würde, nur neue unzählige Opfer von beiden Seiten fordern. Die automatische Logik dieser Metzelei, die von den herrschenden Klassen entfesselt worden ist, führt zur vollständigen Ausrottung der Blüte der europäischen Nationen, aber die Völker wollen leben und alle diejenigen zur Seite werfen, die sie am Leben hindern.

Indem wir uns mit einer letzten Aufforderung, an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, an die Regierungen wenden, versprechen wir gleichzeitig volle Unterstützung der Arbeiterklasse eines jeden Landes, die sich gegen seine eigenen nationalen Imperialisten, gegen die Chauvinisten und gegen die Militaristen unter dem Banner: Frieden, Brüderlichkeit der Völker und sozialistischer Umbau der Gesellschaft erheben wird.

Volkskommissar

für Auswärtige Angelegenheiten

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